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Neues aus Dystopia

Arbeit ist wichtig – Neues aus Dystopia

Lesedauer 5 Minuten

Arbeit ist wichtig

Er trat durch das große Tor zur Halle. Ein kleiner Mann kam mit engagiertem Schritt auf ihn zu. Sein Gesicht war auffallend glatt. Die Brille, dünn und randlos, saß merkwürdig auf halber Höhe zwischen Nase und Augen, so als hätte er sie gerade erst abgesetzt und vergessen, sie wieder richtig aufzusetzen. Seine Lippen bewegten sich, als probte er im Stillen einen Satz, den er gleich aussprechen würde.

„Sie sind pünktlich. Sehr gut. Das ist wichtig.“

Er nickte.

„Folgen Sie mir“

Die Halle erstreckte sich weit in die Tiefe. Die Luft war trocken, ein beständiges Summen lag in ihr, wie das Echo einer Maschine, die man nie direkt sah. Überall standen Menschen an langen Tischen, arbeiteten konzentriert, führten präzise Handgriffe aus. Doch nirgends war ein Produkt zu erkennen. Kein Rohstoff, keine Werkstücke. Nur Hände, die sich bewegten, und ernste Gesichter, die sich über leere Flächen beugten.

Sie gingen an mehreren Arbeitern vorbei. Einer hielt eine Zange, öffnete und schloss sie wieder, mit überzeugender Routine. Ein anderer strich mit einer Bürste über eine glatte Oberfläche, auf der nichts zu sein schien. Wieder ein anderer schob eine leere Kiste von einem Tisch zum nächsten. Keiner sprach. Doch in der Stille lag ein Gefühl von Bedeutung, von Ernsthaftigkeit.

Er blieb stehen. „Was wird hier hergestellt?“

Der kleine Mann zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Das ist nicht unsere Aufgabe, das zu wissen.“

„Aber was ist meine Arbeit?“

„Das wird Ihnen gezeigt.“

Ein Mann mit hagerem Gesicht trat an ihn heran. „Hier. Sie nehmen das und geben es weiter. Alle zehn Sekunden.“

Er blickte auf seine Hände. Sie waren leer. „Was genau soll ich weitergeben?“

Der hagere Mann lächelte schwach. „Das wissen wir nicht. Aber es wird weitergegeben. Das ist entscheidend.“

Er drehte sich um, sah auf die Arbeiter. Einer hielt inne, wischte sich über die Stirn und flüsterte: „Es ist eine Arbeit.“

Der kleine Mann nickte. „Es ist eine Arbeit. Und Arbeit ist wichtig.“

Er betrachtete seine leeren Hände. Er wartete. Dann bewegte er sie – so, als hielte er etwas. Es fühlte sich seltsam richtig an, und für einen Moment glaubte er fast, eine Kontur zu spüren. Etwas Widerstand gegen seine Handflächen. Dann war es wieder weg.

Ein älterer Arbeiter an einem der Tische blickte kurz auf. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, aber seine Augen waren klar, aufmerksam. „Früher gab es hier mehr Maschinen“, sagte er. „Da war der Ablauf noch klarer.“

Ein anderer nickte. „Heute ist es abstrakter geworden. Aber die Bewegung bleibt dieselbe.“

„Und das Ergebnis?“, fragte er.

Der ältere Arbeiter blinzelte. „Das Ergebnis? Nun, es geschieht. Wir sind ein Teil davon.“

Als die anderen weitergingen, blieb der ältere Mann stehen. Er musterte den Neuankömmling eindringlich. „Du fragst nach dem Sinn“, sagte er leise. „Das ist gut. Aber gefährlich.“

Der alte Mann blickte sich um, dann winkte er ihn näher. Seine Hände waren rau, von jahrzehntelanger Arbeit gezeichnet. „Ich bin seit vierzig Jahren hier. Ich habe die Veränderung gesehen.“

„Früher konntest du es anfassen.“ Der alte Mann griff in seine Tasche und zog etwas hervor, das wie eine kleine, abgenutzte Ledertasche aussah. Er öffnete sie behutsam. „Sieh her.“

In der Schachtel schien nichts zu sein. Doch der alte Mann strich mit dem Finger sanft über den Boden, als würde er etwas äußerst Wertvolles berühren.

„Was ist das?“, fragte er.

„Ein Fragment. Vom letzten Stück, das wir hergestellt haben. Bevor alles…“ Er machte eine vage Geste zur Halle. „Bevor alles so wurde.“

„Ich sehe nichts.“

Der alte Mann lächelte traurig. „Die Jüngeren können es nicht mehr sehen. Aber es ist da. Es war immer da.“ Er schloss die Schachtel sorgfältig. „Früher stellten wir Dinge her, die man brauchte. Dinge, die einen Unterschied machten. Die Nahrung gaben, Schutz, Wärme. Dann wurden die Dinge unwichtiger. Verzichtbarer. Und eines Tages…“ Er seufzte. „Eines Tages waren sie einfach nicht mehr da. Aber die Bewegungen, die sind geblieben.“

„Warum arbeiten Sie dann noch hier?“

Der alte Mann richtete sich auf, wodurch er seiner Haltung eine neue Würde gab. „Weil die Bewegung selbst etwas bedeutet. Weil wir durch sie verbunden sind. Mit der Vergangenheit. Mit dem, was einmal war.“ Er legte eine Hand auf die Schulter des Neuen. „Versuch nicht, es zu verstehen. Versuch, es zu spüren.“

Er wollte weiterfragen, aber ein schrilles Signal ertönte, und alle nahmen wieder ihre Positionen ein. Der alte Mann kehrte zu seinem Platz zurück, seine Hände bewegten sich mit präziser Sicherheit, als würden sie etwas von enormem Wert bearbeiten.

Für einen Moment glaubte er, etwas zu sehen – einen Schimmer, eine Kontur in den Händen des alten Mannes. Dann war es wieder verschwunden.

Die Hände griffen ins Leere, die Kisten wurden geschoben, das Summen der Halle wurde lauter. Er spürte eine seltsame Ruhe, begann seine eigenen Hände zu bewegen, und für einen Moment schien alles einen Sinn zu ergeben.

Aber warum? Er konnte es nicht erklären. Ein Reflex, vielleicht. Oder eine Art Notwendigkeit, die nicht aus ihm selbst kam, sondern aus dem Raum, aus den anderen. Er tat es, weil es getan wurde.

Ein Mann an seiner Seite flüsterte: „Ich habe gehört, es gab einmal ein Produkt.“

„Gab?“

Der Mann nickte langsam. „Es hieß, früher sei alles sichtbarer gewesen. Doch das spielt keine Rolle. Arbeit ist Arbeit. Und solange wir arbeiten, geschieht etwas.“

Er spürte, wie eine Unruhe in ihm aufstieg. Wenn Arbeit nur Arbeit war, warum war sie dann notwendig? Warum genügte es nicht, einfach zu sein? Warum mussten sich seine Hände bewegen? Hatte ihn jemand gezwungen? Nein, er hatte es freiwillig getan – und genau das beunruhigte ihn am meisten.

„Aber was, wenn nichts geschieht?“

Der Mann lächelte. „Dann ist das, was geschieht, eben das Nichts.“

Ein weiterer Arbeiter schob eine Kiste vor sich her, drehte sich zu ihnen und sagte: „Wer zweifelt, arbeitet schlechter.“

Er blickte in seine leeren Hände. Für einen Moment hatte er geglaubt, etwas zu verstehen. Jetzt war die Klarheit wieder verschwunden.

Er bemerkte, dass einige Arbeiter ihre Hände nicht einmal mehr bewegten. Sie standen nur da, blickten konzentriert auf eine leere Fläche, als würde dort ein Werkstück liegen, das bearbeitet werden musste.

„Wir haben gelernt, effizienter zu werden“, erklärte jemand neben ihm. „Man muss nicht mehr greifen. Es genügt, sich die Bewegung vorzustellen.“

Er zögerte. „Aber das ist doch kein Arbeiten mehr.“

Der Mann lächelte nachsichtig. „Und doch sind wir hier.“

Er sah hinüber zu dem alten Mann, der mit ruhigen, sicheren Bewegungen arbeitete. Dessen Hände umfassten etwas, das nur er sehen konnte. Er versuchte, es ihm nachzutun, formte seine Hände um einen Gegenstand der gar nicht da war.

Irgendwo in der Halle sagte jemand: „Solange es eine Struktur gibt, hat alles einen Sinn.“

Ein anderer lacht leise. „Wenn wir aufhören, was bleibt dann von uns?“

Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen – doch da war nur das Summen. Ein nie endendes, mechanisches Summen. Und seine Hände, die sich bewegten, leer und doch seltsam erfüllt. –

Arbeit ist wichtig!



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