Aristoteles Ethik
SevenThreeSky, stock.adobe
Ethik und Moralphilosophie

Aristoteles Ethik: Zeitlose Einsichten für die moderne Welt

Getting your Trinity Audio player ready...
Lesedauer 7 Minuten

Nikomachische Ethik – Zeitlose Einsichten für die moderne Welt

Warum sollten wir uns heute noch mit einer Ethik beschäftigen, die fast 2.500 Jahre alt ist? Die Antwort liegt in der zeitlosen Relevanz der zugrunde liegenden Fragen. Aristoteles diskutiert in der Nikomachischen Ethik zentrale Konzepte wie Tugend, das Gute und Gerechtigkeit – Themen, die universell sind und grundlegende Fragen ansprechen, die in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit von Bedeutung sind. Auch heute streben Menschen danach, ein gutes und erfülltes Leben zu führen. Aristoteles‘ Überlegungen zur Ethik bieten daher wertvolle Einsichten, die uns dabei helfen können, dieses Ziel zu erreichen.

Aristoteles Ethik: Das Streben nach Glück

Auch wenn wir täglich mit vielerlei Dingen zu tun haben, schwebt doch eine Sache über allem. Das Streben nach Glück – nach einem glücklichen und erfüllten Leben. Für Aristoteles ist dieses das Endziel allen Handels – „Eudaimonia“, oft mit Glückseligkeit oder Glück übersetzt. Gemeint ist damit aber kein Augenblicksglück, als vielmehr eine dauerhafte Lebenszufriedenheit. Dieses Glück ist selbstgenügsam, denn es wird um seiner selbst willen angestrebt. Es ist in erster Linie gerade nicht von äußeren Dingen abhängig, sondern erwächst aus dem Streben nach einem Ziel.

Praxis und Poiesis

In diesem Zusammenhang ist Aristoteles‘ Unterscheidung zwischen menschlichen Handlungen in „Praxis“ und „Poiesis aufschlussreich. Praxis umfasst jene Handlungen, die Selbstzweck sind, die also um ihrer selbst willen ausgeübt werden und somit direkt zur Eudaimonia beitragen können. Dem gegenüber stehen Poiesis-Handlungen, die als Mittel zu einem bestimmten Zweck dienen. Aristoteles betont, dass wahre Eudaimonia unwahrscheinlich durch Poiesis erreicht wird, wie etwa durch die berufliche Tätigkeit, wenn diese lediglich als Mittel zum Zweck betrachtet wird. Erst wenn wir Handlungen um ihrer selbst willen ausführen, nähern wir uns dem idealen Zustand des Glücks, wie er von Aristoteles beschrieben wird. Bei der Unterscheidung in Praxis oder Poiesis geht es aber weniger darum, was wir tun, als vielmehr darum, warum wir etwas tun.

Mit dieser Unterscheidung der Handlungen in Praxis und Poiesis fordert uns Aristoteles auf, unser Leben so zu gestalten, dass unsere täglichen Aktivitäten nicht nur Mittel zum Überleben oder zum Erreichen externer Ziele sind, sondern auch als wertvolle und erfüllende Praxis an sich dienen. Dies bietet eine tiefe Einsicht in die Art und Weise, wie wir unsere Berufe, Hobbys und zwischenmenschlichen Beziehungen gestalten können, um ein wirklich glückseliges Leben zu führen.

Die Zielwahl – „Prohairesis“

Die Konzepte von Praxis und Poiesis führen uns zu einem weiteren zentralen Begriff in der Nikomachischen Ethik: der Prohairesis, oder Zielwahl. Dieser Begriff, der oft als vage wahrgenommen wird, beschreibt den entscheidenden Moment, in dem eine Person eine bewusste Entscheidung trifft. Es ist der Moment, in dem nicht nur offenbart wird, was eine Person tut, sondern vor allem, warum sie es tut. Prohairesis ist somit ein Ausdruck des vernünftigen Wollens und der ethischen Überlegung, die jeder Handlung zugrunde liegt.

Aristoteles begreift Prohairesis als eine wohlüberlegte Wahl, die auf einem reflektierten Verlangen beruht und das Ergebnis rationaler Überlegungen ist. Diese Wahl ist entscheidend, da sie den moralischen Charakter einer Handlung bestimmt. Es geht dabei nicht nur um die Auswahl zwischen verschiedenen Handlungen, sondern um die Ausrichtung des gesamten Lebensweges auf das ultimative Ziel der Eudaimonia. Durch Prohairesis wird also entschieden, ob eine Handlung eine Praxis oder eine Poiesis ist, je nachdem, ob sie als Selbstzweck oder als Mittel zum Zweck dient.

Die Fähigkeit zur Prohairesis setzt ein reflektiertes Verständnis der eigenen Werte und Ziele voraus und ist somit grundlegend für die ethische Lebensführung. In der modernen Welt, in der wir ständig mit Entscheidungen konfrontiert sind, die unsere Lebensrichtung beeinflussen können, ist diese Kunst der Prohairesis besonders relevant. Sie erfordert von uns, dass wir uns nicht nur der unmittelbaren Konsequenzen unserer Handlungen bewusst sind, sondern auch der langfristigen Auswirkungen auf unser persönliches Glück und Wohlbefinden.

Indem Aristoteles die Bedeutung der Prohairesis betont, fordert er uns auf, unser Leben bewusst und mit klaren moralischen Absichten zu gestalten. Das Streben nach Eudaimonia wird somit zu einer Praxis des täglichen Lebens, in der jede Entscheidung, jedes Ziel und jede Handlung darauf ausgerichtet ist, ein tieferes, sinnstiftendes Glück zu erlangen.

Die Zielwahl (griech. „Prohairesis“) ist damit gleichsam eine Wahl der Mittel und damit der Tugenden, um dieses Ziel auch erreichen zu können. Ziele können damit nicht beliebig sein, sondern müssen etwa wissenschaftlich feststehende Tatsachen berücksichtigen und mit den Mitteln der Tugend auch realisierbar sein. Der Zustand der Glückseligkeit kann folglich nur aktiv durch tugendhaftes und zielgerichtetes Tätigsein erreicht werden.

Die drei Lebensformen

Aristoteles unterscheidet in seiner Ethik drei Hauptformen des Lebens, die unterschiedliche Zugänge zum Tätigsein und zur Eudaimonie darstellen. Die erste und primitivste Form ist das lustbezogene Leben, der Hedonismus. Dieses Leben ist vorwiegend auf die Befriedigung körperlicher und sinnlicher Bedürfnisse durch äußere Güter ausgerichtet und geht kaum über ein animalisches Dasein hinaus.

Die zweite Lebensform ist das politische Leben, das sich am Gemeinwohl orientiert. Diese Form entspricht mehr der menschlichen Natur, die Aristoteles auch als „zoon politikon“ („politisches Wesen“) definiert. Obwohl dieses Leben auf höhere menschliche Qualitäten wie Gemeinschaftssinn und politische Tätigkeit abzielt, bleibt es in Bezug auf die Erreichung der Eudaimonie von äußeren Umständen abhängig.

Die höchste und reinste Form des Lebens nach Aristoteles ist das betrachtende oder vernünftige Leben, das sich durch kontemplative Erkenntnistätigkeit auszeichnet – ein Leben, das sich der Philosophie und der Suche nach Wahrheit widmet und rein um seiner selbst willen betrieben wird. Diese Form des Lebens, die von äußeren Einflüssen weitgehend unabhängig ist, betrachtet Aristoteles als die erfüllendste und genussreichste Tätigkeit, die dem göttlichen Dasein am nächsten kommt.

Die Überlegenheit dieser Lebensform wird besonders deutlich im Kontext der aristotelischen Auffassung von Tugend. Aristoteles sieht Tugend als einen wesenhaften Seinsvollzug an, ein Tätigsein eines Lebewesens gemäß seiner wesenhaften Stärke. Die Tugend eines Löwen manifestiert sich in seiner Kraft als Raubtier, die eines Pferdes in seiner Schnelligkeit, und die des Menschen in seiner seelischen und geistigen Tüchtigkeit. Spezifisch menschliches Sein und die daraus resultierenden Handlungen erreichen ihre höchste Form in der Auseinandersetzung mit dem Logos. Dieser durch Übung und Gewohnheit kultivierte Seinsvollzug bildet einen konstanten menschlichen Habitus. Er prägt den Menschen in seiner Zuverlässigkeit, da der Tugendhafte sich nicht willkürlich, sondern zielgerichtet entscheidet. Dieser Habitus ist identitätsbildend und konstituiert wesentlich die Unterscheidung des Menschen von anderen Lebewesen.

Aristoteles Ethik: Die Tugenden

Aristoteles unterscheidet in seiner Ethik zwei Arten von Tugenden: die intellektuellen, verstandesgeleiteten Tugenden, auch „dianoetische Tugenden“ genannt, und die ethisch-charakterlichen Tugenden.

Die dianoetischen Tugenden umfassen Fähigkeiten wie Erkenntnis, Weisheit, Klugheit und Kunstfertigkeit. Ethische Tugenden hingegen beziehen sich auf Charaktereigenschaften wie Besonnenheit, Tapferkeit und Großzügigkeit. Obwohl jeder Mensch die Anlagen zu beiden Arten von Tugenden in sich trägt, müssen diese durch Bildung und Übung entwickelt werden. Die dianoetischen Tugenden entfalten sich vornehmlich durch akademische Bildung und wissenschaftliche Betätigung, während die ethischen Tugenden durch stetige praktische Übung und die Ausbildung von Gewohnheiten gefördert werden. Dieser umfassende Bildungsprozess, auch „Paideia“ genannt, zielt auf die Vervollkommnung des spezifisch menschlichen Seins ab.

Für Aristoteles ist das Maß der ethischen Tugenden die „rechte Mitte“ zwischen zwei Extremen. So ist beispielsweise Tapferkeit weder Tollkühnheit noch Feigheit, und Großzügigkeit weder Geiz noch Verschwendung. Das rechte Maß einer Tugend wird durch die Vernunft bestimmt, wobei die Tugendethik bewusst offenlässt, was in spezifischen Situationen als das rechte Maß gilt. Diese Flexibilität erlaubt individuelle Spielräume in der Bestimmung des rechten Maßes und ist charakteristisch für die aristotelische Tugendethik. Sie setzt keine starren normativen Regeln oder Pflichten fest, sondern dient als Zielorientierung für ein gutes Leben.

Ein weiterer grundlegender Aspekt für Aristoteles ist die Rolle des Staates, der die Bedingungen schaffen sollte, die es dem Menschen ermöglichen und fördern, ein tugendhaftes Leben zu führen.

Aristoteles Ethik: Relevanz in der modernen Welt

Aristoteles‘ Ethik, besonders seine Betonung auf Tugend und die Bedeutung der vernünftigen Wahl (Prohairesis), erweist sich auch heute noch als außerordentlich relevant. Gerade in einer Welt, in der die Gesellschaft zunehmend von technologischen Veränderungen und sozialen Herausforderungen geprägt ist, bietet die Nikomachische Ethik wertvolle Einsichten in die Kunst des guten Lebens. Die Unterscheidung zwischen dianoetischen und ethischen Tugenden unterstreicht die Notwendigkeit einer umfassenden Bildung, die sowohl das intellektuelle als auch das charakterliche Wachstum umfasst.

Die Flexibilität der Tugendethik, insbesondere das Konzept der „rechten Mitte“, bietet einen Rahmen, innerhalb dessen individuelle Entscheidungen getroffen werden können, ohne dass sie durch starre moralische Vorschriften eingeschränkt sind. Diese Flexibilität ist besonders wertvoll in einer pluralistischen Gesellschaft, wo unterschiedliche Werte und Überzeugungen aufeinandertreffen.

Zudem wirft Aristoteles‘ Betonung der Rolle des Staates in der Förderung eines tugendhaften Lebens wichtige Fragen zur modernen Politik und vor allem zur Bildungspolitik auf. Wie können heutige Gesellschaften Bedingungen schaffen, die nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern auch die charakterliche Entwicklung fördern? Diese Frage ist gerade in einer globalisierten Welt von Bedeutung, in der die wirtschaftlichen und technologischen Fortschritte oft schneller voranschreiten als die ethische Reflexion über deren Konsequenzen.

Abschließend lässt sich sagen, dass Aristoteles‘ Nikomachische Ethik nicht nur eine theoretische Abhandlung über das moralische Leben ist, sondern auch eine praktische Anleitung, die uns dazu anregt, über die Art und Weise nachzudenken, wie wir unser Leben führen. Seine ermutigt uns dazu, eine Balance zwischen persönlichen Interessen und dem Gemeinwohl zu finden und dabei stets die Entwicklung unserer eigenen Tugenden im Auge zu behalten. In einer Welt, die oft von Ungewissheit und raschem Wandel geprägt ist, bietet sie einen stabilen Anker und eine Richtschnur für die Gestaltung eines erfüllten und ethisch verantwortungsvollen Lebens.

Schlusswort und persönliche Überlegungen

In meiner Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Ethik habe ich festgestellt, dass diese ohne Zweifel tiefgehend und einflussreich ist, jedoch auch gewisse Grenzen aufweist, denn das Eudaimonie-Konzept in der Nikomachischen Ethik, berücksichtigt meiner Auffassung nach, nicht die Gesamtheit menschlicher Erfahrung.

Aristoteles’ Ethik ist eine Tugenethik und dadurch charakterisiert, dass sie die Vernunft als zentrale menschliche Tugend hervorhebt. Man könnte sie genauso als eine Art Vernunftethik bezeichnen, die jedoch flexibler erscheint als die wesentlich stärker regelbasierte, kantianische Ethik.

Trotz dieser Flexibilität bleibt Aristoteles‘ Ansatz in gewisser Weise begrenzt, vor allem im Hinblick auf die Rolle der Emotionen im menschlichen Leben. Aristoteles erkennt zwar die Bedeutung der emotionalen Aspekte an, wie sie in der Suche nach der „rechten Mitte“ bei den ethischen Tugenden erscheint, jedoch werden diese oft als etwas dargestellt, das es mithilfe der Vernunft zu kontrollieren gilt. Diese Herangehensweise vernachlässigt möglicherweise die positive und eigenständige Rolle, die Emotionen in einem vollständig realisierten menschlichen Leben spielen können.

Nietzsches Konzept des Dionysischen, das die irrationalen und ekstatischen Aspekte der menschlichen Natur betont, bietet hier einen interessanten Gegenpol und eine für mich wichtige Ergänzung. Es erinnert uns nämlich daran, dass die emotionale, weniger berechenbare Seite des menschlichen Daseins ebenfalls eine fundamentale und wertvolle Dimension unserer Existenz darstellt. In einer umfassenderen ethischen Betrachtung sollten wir daher sowohl die aristotelische Wertschätzung der Vernunft als auch die nietzscheanische Anerkennung des Dionysischen berücksichtigen, um ein volleres Bild der menschlichen Natur und ihrer Potenziale für ein gutes Leben zu erfassen.

Dies sollte dazu führen, eine Ethik zu entwickeln, die sowohl die rationale als auch die emotionale Seite des Menschen würdigt und integriert, und die somit in der Lage ist, der Komplexität der menschlichen Existenz gerecht zu werden.


Ich schätze jedes Feedback sehr – lassen Sie mich wissen, was Sie denken, selbst wenn der Artikel nicht ganz Ihr Fall war


Externe Links:

Metzler Lexikon Philosophie: Eudaimonie

Dieter-Jentz.de : Eudaimonia als Schlüssel zum Glück?

Interne Links:

Aristoteles: Gesetz ist Vernunft, frei von Leidenschaft

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner