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„Liebe Dich selbst“- Die Ideologie der Selbstfürsorge
Lesedauer 5 Minuten„Liebe Dich selbst.“ – Die Ideologie der Selbstfürsorge Wir sollen uns selbst lieben, denn nur dann seien wir überhaupt in der Lage, andere zu lieben – und unser volles Potenzial ausschöpfen. So oder so ähnlich wird es uns jedenfalls eingeredet. Was wie ein freundlicher Rat daherkommt, der auch gut in einem Glückskeks verpackt sein könnte, klingt auch noch weise. Es ist einer dieser typischen Sätze, die wir oft in Ratgebern und sozialen Medien lesen oder von Lifecoaches, Esoterikern und Therapeuten hören. Im Bücherregal finden wir ihn irgendwo zwischen „Erkenne Dein inneres Licht“ und „Sei Du selbst“. Gesagt wird damit: Du bist genug. Du darfst so sein, wie du…
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„Du musst nur wollen“ – Der Mythos vom Willen in Zeiten der Erschöpfung
Lesedauer 5 Minuten„Du musst nur wollen“ – Der Mythos vom Willen in Zeiten der Erschöpfung Er erinnerte sich noch gut an diesen einen Nachmittag. Er war etwa zehn Jahre alt. Damals, auf dem Bolzplatz. Er hatte wieder einmal danebengeschossen, wieder einmal den Ball nicht richtig getroffen. Einige rollten mit den Augen. Und sein Vater rief von der Seite: „Auf gehts, Du musst es nur wollen!“. Damals klang es wie ein Ansporn. Heute aber weiß er: Es war ein Urteil. Nicht der Fuß war das Problem. Nicht die Kraft und nicht das Spiel. Sondern der Wille.So, als hätte das Scheitern weniger mit dem Schuss zu tun – sondern mit innerlichen Versäumnissen.…
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Ich will frei sein – sagt das Ich.
Lesedauer 3 MinutenIch will frei sein – sagt das Ich. „Frei sein. Ich sein!“ Ich hab diese Worte erst kürzlich in einem Facebook-Kommentar gelesen. Ich musste ein wenig schmunzeln, denn da steckt ja doch eine ordentliche Portion Romantik und Nostalgie drin. Das „freie Ich“, das ganz es selbst sein darf. Das klingt fast wie das Glaubensbekenntnis einer ganzen Epoche, die für Freiheit, Autonomie und Selbstverwirklichung steht. Dabei sind gerade diese beiden Konzepte in der letzten Zeit mächtig unter Druck geraten.Freiheit lässt sich in der physikalischen Welt nicht finden. Empirisch ist sie nicht nachweisbar – weder im Kosmos der Teilchen noch in den neuronalen Bahnen unseres Gehirns. Dort herrscht ganz nüchtern…
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Das „Ich“ als Ort: Poststrukturalismus und das Ende des Subjekts
Lesedauer 4 MinutenDas „Ich“ als Ort: Poststrukturalismus und das Ende des Subjekts Bei Descartes beginnt alles mit dem Denkenden „Ich“ – jener unbezweifelbaren Gewissheit, aus der alles andere abgeleitet wird. Bei Kant wird das „Ich“ zur moralischen Instanz, die sich selbst als Zweck erkennt und nach dem kategorischen Imperativ handelt. Kierkegaard radikalisiert das „Ich“ existenziell – als Aufgabe, als Entscheidung, als Ringen mit sich selbst vor dem Abgrund der Freiheit. Husserl sah im „Ich“ die Quelle den Ursprung für Sinngebung. Kurzum: In der klassischen Philosophie galt das „Ich“ als Ursprung von Sinn und Weltdeutung. Der Poststrukturalismus stellt das Bild vom „Ich„, vom „Subjekt“ und von einem „Selbst„ radikal infrage: Genauer…
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Wenn Eltern schreien – Die Macht der mimetischen Prägung
Lesedauer 4 MinutenWenn Eltern schreien – Die Macht der mimetischen Prägung Wenn Eltern in Gegenwart von Kindern laut werden – schreien – sei es aus Überforderung, Wut oder Kontrollverlust –, hinterlässt dies Spuren. Nicht nur emotionale, sondern auch soziale Spuren. Es handelt sich um mehr als einen Ausbruch: Es ist ein Moment stiller Prägung. Denn Kinder beobachten nicht nur – sie ahmen nach. Dieser Beitrag untersucht, wie Kinder durch Beobachtung elterlicher Verhaltensmuster, insbesondere beim Schreien, soziale Strategien internalisieren. Anhand dieses konkreten Phänomens wird die grundlegende Bedeutung mimetischer Prozesse im frühkindlichen Lernen und darüber hinaus aufgezeigt. Schreien als performatives Modell Eltern oder Bezugspersonen, die in Stresssituationen in der Gegenwart ihrer Kinder…
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Neues aus Dystopia: Die Berührung
Lesedauer 2 MinutenNeues aus Dystopia: Die Berührung Berührungen waren nicht verboten.Aber sie waren anmeldepflichtig. Für spontane Berührungen gab es ein Protokoll.Dreistufig.Zustimmung, Kontext, Zweck. Er stand in einem Wartesaal.Ein Mann neben ihm nieste.Ein Reflex zuckte durch seinen Arm – die alte Geste, jemandem die Hand auf die Schulter zu legen. Er tat es nicht.Die Bewegung stoppte vor der Ausführung.Sein Armband vibrierte leicht, präventiv. Früher, so hieß es, war Berührung Alltag.Heute war sie eine Abweichung.Es hatte einmal gute Gründe gegeben, hieß es.Aber niemand sprach sie aus.Sie standen nur in alten Richtlinien unter der Rubrik: Ursprung. Man sagt, früher habe ein Händedruck gereicht, um alles zu verlieren. In den Schulungen lernte man, wie…
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Rationalität durch Emotionalität: Ich fühle also bin ich
Lesedauer 4 MinutenRationalität durch Emotionalität: Ich fühle also bin ich Nicht selten begegnen wir der Vorstellung, Rationalität und Emotionalität seien voneinander getrennte Zustände. Diese Dichotomie hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht – etwa bei Platon und Aristoteles, die das Rationale als überlegen ansahen. Eine besondere Zuspitzung aber erfährt sie in der Philosophie Descartes. In seiner Methode des radikalen Zweifels zieht er alles in Zweifel – Sinneswahrnehmung, Körper, Gefühle – bis einzig das Denken als unbezweifelbarer Ursprung übrigbleibt. Mit dem cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) wird das Denken zur alleinigen Gewissheit – während Emotionen und Körper in die Sphäre des Zweifelhaften verwiesen werden. Philosophische…
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Politische Sprache: Über Freiheit, Verantwortung, Sicherheit – und andere Missverständnisse
Lesedauer 4 MinutenÜber politische Sprache, Wahrheit und die stille Macht der Worte Wir leben in einer Zeit, in der fast alles gesagt wird – aber immer weniger davon etwas bedeutet. Die politische Sprache ist voll von Begriffen, die ihren Inhalt längst verloren haben. Freiheit, Verantwortung, Sicherheit – Begriffe, die in beinahe jeder politischen Rede auftauchen und inzwischen so leer sind wie die Versprechen, die damit gemacht werden.Wittgensteins Formel hat sich längst ins Politische übersetzt: Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt. Wer die Begriffe kontrolliert, kontrolliert, was denkbar ist – ganz im Sinne von Orwells „Neusprech“, der Sprache nicht verändert, um zu verstehen, sondern um zu lenken.Sprache ist…