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Neues aus Dystopia

Das Gedächtnis – Neues aus Dystopia

Lesedauer 2 Minuten

Das Gedächtnis – Neues aus Dystopia

Er erinnerte sich nicht mehr an den Moment. Nur daran, ihn später angeschaut zu haben. Er wusste, dass er gelacht hatte. Nicht, weil er es fühlte. Sondern weil das System es so gespeichert hatte. Er konnte es sehen – im Gedächtnis, auf dem Mitschnitt von Dienstag, 14:07 Uhr. Lächeln. Tonspur: leichtes Lachen.

Alle Momente wurden archiviert. Lückenlos. Zugänglich. Verlässlich.

Die Kamera an der Jacke, das Ohrmodul, das Rückensensorfeld – alles synchronisiert. Kein Gefühl, kein Blick, keine Geste ging verloren.

Man nannte es Gedächtniserweiterung. Aber eigentlich war es eine Auslagerung. Ein langsamer Tausch. Erlebnis gegen Aufzeichnung.

Früher hatte er sich an Dinge erinnert, weil sie in ihm nachgeklungen hatten. Heute erinnerte er sich nur, wenn er sie suchte. Und fand.

Er konnte nach Liebe suchen. Nach Kindheit. Nach Wut. Das System gab ihm die entsprechenden Sequenzen. Er spielte sie ab. Er nickte.

Einmal fragte ihn ein Kind: „Warst du dabei, als ich gefallen bin?“ Er sagte: „Warte kurz.“ Er durchsuchte das Archiv. Dann zeigte er dem Kind den Moment.

„Ja“, sagte er. „Ich war da.“ Aber es fühlte sich nicht so an.

Die Menschen lebten nicht mehr für das, was sie gerade taten, sondern für das, was davon übrigbleiben würde.

Sie lachten so, wie sie sich später lachend sehen wollten. Sie küssen mit dem Wissen, dass der Kuss gespeichert ist. Sie blickten in Sonnenuntergänge, um sie morgen zu betrachten.

Der Moment war Kulisse geworden. Nicht zum Erleben. Zum Aufzeichnen.

Die Erinnerung war nicht mehr innerlich. Sie war eine abrufbare Datei. Gefühle, die früher als Nachklang blieben, wurden zu Daten.

Er konnte sich beim Weinen sehen. Er konnte sich beim Tanzen sehen. Er konnte sich trösten lassen – von sich selbst.

Aber er wusste nicht mehr, ob er tatsächlich traurig gewesen war. Oder nur gefilmt.

Manche Menschen versuchten, offline zu leben. Sie sprachen davon, wie es war, den Moment zu leben, ohne zu prüfen wie es wohl aussah.

Sie galten als instabil.

Sein Profil zeigte: 99,9 % Lebensdokumentation. Er hatte alles. Und nichts, das nicht aufrufbar war.

Er suchte nach einem Tag, an dem er nichts gespeichert hatte. Einen Fehler. Einen Ausfall. Etwas, das lebendig geblieben war, weil es nicht fixiert worden war.

Er fand keinen.

Nachts träumte er manchmal in Bildern, die das System nicht kannte. Dann wachte er auf und fragte sich, ob das ein Defekt war. Oder ein Rest von ihm.

Eines Morgens stand er auf, und ließ die Aufzeichnung ausgeschaltet.

Nur für eine Stunde. Dann zwei. Dann einen Tag.

Er ging hinaus. Die Straßen waren ruhig. Er atmete ein – das Geräusch wurde nicht aufgezeichnet. Er sah einen Baum, eine Bewegung im Licht.

Zum ersten Mal dachte er nicht daran, ob es gut aussah. Er dachte nicht daran, ob er es später sehen wollen würde. Er dachte überhaupt nicht an später.

Er sah einfach. Und ließ es vergehen.

Es war ein kleiner Moment. Nicht besonders. Nicht erinnerbar. Aber wahr.

Er hatte ihn nicht gelebt, um ihn zu besitzen.

Und deshalb gehörte er ihm.


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