Philosophie,  Poststrukturalismus

Das „Ich“ als Ort: Poststrukturalismus und das Ende des Subjekts

Lesedauer 4 Minuten

Das „Ich“ als Ort: Poststrukturalismus und das Ende des Subjekts


Bei Descartes beginnt alles mit dem Denkenden „Ich“ – jener unbezweifelbaren Gewissheit, aus der alles andere abgeleitet wird. Bei Kant wird das „Ich“ zur moralischen Instanz, die sich selbst als Zweck erkennt und nach dem kategorischen Imperativ handelt. Kierkegaard radikalisiert das „Ich“ existenziell – als Aufgabe, als Entscheidung, als Ringen mit sich selbst vor dem Abgrund der Freiheit. Husserl sah im „Ich“ die Quelle den Ursprung für Sinngebung. Kurzum: In der klassischen Philosophie galt das „Ich“ als Ursprung von Sinn und Weltdeutung. Der Poststrukturalismus stellt das Bild vom „Ich„, vom „Subjekt“ und von einem „Selbst„ radikal infrage: Genauer gesagt, er kehrt es um. Er verschiebt die Frage: Nicht das Subjekt erzeugt Sinn – sondern der Sinn erzeugt das Subjekt. Sprache, Diskurse, kulturelle Ordnungen sind es, die das Ich hervorbringen. Was früher als die innerste Instanz galt, ist nur noch ein Effekt des Diskurses. Das Ich ist kein Ursprung mehr – es ist ein Ort, an dem Sprache zirkuliert.

Poststrukturalismus: Sprache als Struktur und das „Ich“ als Effekt

Mit dem Poststrukturalismus beginnt also ein radikaler Bruch. Nicht das „Ich“ spricht die Sprache – sondern die Sprache spricht das Ich. Der französische Poststrukturalist Michel Foucault beschreibt Diskurse nicht als bloße Redeweisen, sondern als historisch gewachsene Machtstrukturen, die bestimmen, was in einer Gesellschaft sagbar, denkbar und fühlbar ist. Diese Macht wirkt unsichtbar: Sie legt fest, welche Rollen wir einnehmen können. Das „Ich“ ist daher keine autonome Instanz, sondern ein Knotenpunkt innerhalb dieser Ordnungen – ein Effekt der Sprache, aber nicht ihr Ursprung.

Auch Jacquese Derrida dekonstruiert die Vorstellung eines festen Subjekts. Für ihn ist Sprache kein stabiles System mit festen Bedeutungen, sondern ein Netz von Differenzen – jeder Begriff verweist auf andere Begriffe, ohne je zu einem endgültigen Sinn zu gelangen. Bedeutung entsteht nicht aus einem Ursprung, sondern aus Verschiebung und Bezug.

In dieser Sichtweise ist auch das „Ich“ kein innerer Kern, sondern ein Signifikant – also ein sprachliches Zeichen, das nicht auf eine feste Bedeutung verweist, sondern nur in Relation zu anderen Zeichen Sinn erhält. Der Signifikant „Ich“ verweist also nicht auf ein abgeschlossenes Selbst, sondern ist leer, beweglich und immer weiterverweisend. Was früher als Zentrum gedacht wurde, erscheint nun als Spielraum der Sprache, ohne fixen Bezugspunkt. Das Subjekt ist kein Sprecher der Sprache, sondern ein Ort, an dem Sprache zirkuliert.

Poststrukturalismus und das Ich: Konsequenzen

All das aber hat weitreichende Konsequenzen. Was früher als innerer Ursprung galt – Gewissen, Wille, Identität – wird im Poststrukturalismus zur diskursiven Formation. Der Mensch ist nicht länger der souveräne Urheber seiner selbst, sondern ein Produkt sprachlicher, sozialer und kultureller Strukturen.

Michel Foucault formuliert das in seinem Vortrag „Was ist ein Autor?“ besonders prägnant: Der Autor – und damit auch das „Ich“ – ist keine ursprüngliche Quelle des Sinns, sondern eine Funktion im Diskurs. Texte – und Identitäten – entstehen nicht aus einem autonomen Subjekt, sondern werden durch kulturelle Regeln, Erwartungen und institutionelle Ordnungen hervorgebracht.

Doch das bedeutet nicht, dass der Mensch einfach passiv ist. Auch wenn das Subjekt kein Ursprung mehr ist, bleibt es ein Ort des Handelns – aber eben innerhalb der Bedingungen, die der Diskurs setzt. Entscheidungen entstehen nicht „aus sich heraus“, sondern dort, wo sich Diskurse kreuzen, brechen oder irritieren – etwa durch subversive Wiederholungen (Butler) oder strategische Gegenentwürfe im Machtfeld (Foucault).

Das Subjekt als „Ort“ – keine Identität, sondern Funktion

Im Poststrukturalismus verschiebt sich der Blick vom Ich als Identität zum Subjekt als Position. Was früher als innerster Kern gedacht wurde, wird nun als Ergebnis sozialer, sprachlicher und ideologischer Prozesse begriffen.

Louis Althusser prägte dafür das berühmte Konzept der „Interpellation“: Subjekt wird man nicht von sich aus – man wird angesprochen, „gerufen“, und indem man diesen Ruf beantwortet, wird man in eine bestimmte Position innerhalb eines ideologischen Diskurses eingespannt. Das Ich ist nicht der Ursprung der Rede, sondern ihre Adresse.

Auch Judith Butler radikalisiert diese Einsicht. Für sie ist das Subjekt kein gegebenes Wesen, sondern performativ erzeugt: Es entsteht durch die Wiederholung kultureller Normen und Sprechakte. Identität ist kein Besitz, sondern eine Praxis, eine endlose Reihe von Wiederholungen, in denen das Subjekt hervorgebracht und stabilisiert wird.

Was folgt daraus?
Das Subjekt ist nicht Substanz, nicht ein innerer Kern, es ist vielmehr Funktion im Diskurs. Kein autonomes Ich, sondern ein Ort, an dem Sprache, Normen und Machtlinien zusammenlaufen. Wer spricht, ist nicht einfach „jemand“, sondern jemand gemacht durch Sprache.

Was geht verloren, wenn das Ich verschwindet?

Wenn das Subjekt also ausschließlich ein Produkt dominanter Diskurse ist, dann ist auch Authentizität eine Illusion. Kierkegaard etwa versteht das Gewissen gerade als Ort der inneren Wahrheit, an dem sich entscheidet, ob wir in Übereinstimmung oder in Differenz mit uns selbst leben oder in der „Unwahrheit“, also entfremdet.

Das Gewissen ist für ihn nicht bloß ein Echo äußerer Normen, sondern ein existenzieller Prüfstein. Es meldet sich gerade dann, wenn wir merken, dass gesellschaftliche Entwicklungen oder individuelle Erfahrungen nicht mit unserem inneren Selbst vereinbar sind. Was wir unter Authentizität verstehen wird zum Effekt von Diskursen.

Es stellt sich dann die entscheidende Frage: Wer entscheidet dann? Wer handelt? Wer trägt Verantwortung?

Wenn es kein Subjekt mehr gibt, sondern nur Positionen im Diskurs – stellt sich die Frage, wer eigentlich handelt, entscheidet oder widerspricht. Was geschieht mit Verantwortung, Gewissen oder Authentizität, wenn es kein inneres Zentrum mehr gibt, das sie trägt? Die poststrukturalistische Antwort lautet: Auch Widerstand und Entscheidung entstehen – aber nicht aus einem autonomen Selbst heraus, sondern innerhalb des Diskurses – an dessen Rändern, Brüchen, Widersprüchen.

Für den Nostalgiker wird es schwer, denn was verschwindet, ist nicht weniger als der Glaube an unser eigenes Ich – an ein inneres Selbst, eines das unabhängig denkt, fühlt und entscheidet. Der Poststrukturalismus zertrümmert das romantische Bild, das wir von uns selbst haben: nämlich dass da jemand ist, der „aus sich heraus“ handelt.

Wenn man hinzunimmt, dass auch die Naturwissenschaften – allen voran die Physik und die Neurowissenschaften – bislang keinen Hinweis auf echte Freiheit gefunden haben, sondern überall auf kausale Verkettungen und neuronale Determinismen stoßen, dann zeigt sich:
Das moderne Subjekt ist auf allen Ebenen unter Druck geraten.

Die Vorstellung eines freien Ichs, das sich selbst gehört, wird an zwei Fronten knallhart dekonstruiert:
Durch Sprache – und durch Naturgesetze.

Was bleibt, ist ein tiefes Unbehagen:
Bin ich noch „jemand“? Oder nur noch ein Knoten im Geflecht von Strukturen, Bedeutungen und Ursachen? Diese Verunsicherung ist nicht nur theoretisch. Sie betrifft das Selbstverständnis des Menschen.
Und sie führt uns direkt zur nächsten Frage:


Teil II: Gibt es denn nicht doch etwas, das sich dem Diskurs entzieht?

(in Arbeit..)



Externe Links:

TU Dresden: Michel Focault – Was ist ein Autor

Wikipedia: Was ist ein Autor


Entdecke mehr von Finger im Dasein

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Entdecke mehr von Finger im Dasein

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen