
Der Blick – Neues aus Dystopia
Der Blick – Neues aus Dystopia
Man durfte schauen.
Aber nicht zu lang. Nicht zu direkt. Nicht zu offen.
Es gab Regeln. Für den Blick.
Sie hingen an den Wänden, auf kleinen, dezenten Tafeln:
„Augenkontakt max. 2,7 Sekunden.
Seitlicher Blick: empfohlen.
Direktes Ansehen: nur mit Blicklizenz.“
Er saß in der Bahn.
Gegenüber eine Frau.
Sie blickte aus dem Fenster.
Er wagte einen kurzen Blick.
Nicht weil er etwas wollte – sondern weil er sich vergewissern wollte, dass sie da war.
Nach exakt 2,7 Sekunden summte sein Armband.
„Blickdauer überschritten. Bitte wenden Sie den Blick ab.“
Er senkte den Kopf.
Vor ihm: seine Hände.
Sie waren ruhig. Seine Augen nicht.
Früher, so hatte man erzählt, konnte man jemanden einfach ansehen.
Einfach so.
Ohne Erlaubnis. Ohne Protokoll. Ohne Konsequenz.
Man hatte dabei etwas gespürt. Nähe vielleicht. Oder Unruhe.
Heute spürte man nur das Vibrieren der Sensorik.
In den Einrichtungen gab es Blickzonen.
Grüne Streifen: freies Schauen.
Gelbe Zonen: kontrolliertes Sehen.
Rote Zonen: keine direkte Sichtlinie.
In den roten Zonen trugen viele Menschen dunkle Brillen – aus Vorsicht.
Ein Mann flüsterte ihm einmal zu:
„Ein Blick ist ein Schnitt durch das Selbst des anderen. Manche Menschen zerbrechen daran.“
Er wusste nicht, ob das offiziell war. Aber es klang plausibel.
Es gab Listen mit Begründungen, warum der Blick eingeschränkt wurde.
Niemand wusste, ob sie echt waren. Einige Beispiele lauteten:
• „Zu viele Zwischenfälle durch unausgewogene Blickachsen.“
• „Spontane Nähe erzeugt Kontrollverlust.“
• „Die Augen sind nicht neutral.“
• „Der Blick kann Schuld auslösen.“
• „Menschen sehen sich, und beginnen sich zu erinnern.“
• „Der Blick macht Menschen vergleichbar – und das ist gefährlich.“
• „Ein direkter Blick kann Identität verschieben.“
• „Ein Blick, der zu tief geht, kann jemanden ins Wanken bringen.“
Er las diese Liste manchmal durch. Sie klang wie ein Gedicht, das man nicht verstehen durfte.
Einmal begegnete er einem Kind.
Es sah ihn direkt an. Lange.
Es war noch zu jung für ein Armband.
Er hielt dem Blick stand.
Er wusste, es war ein Verstoß.
Doch in diesem Moment war da etwas.
Etwas Ungefiltertes.
Nicht kontrolliert. Nicht erlaubt. Nicht durchgeregelt.
Ein Splitter von Wirklichkeit vielleicht.
Ein Echo aus der Zeit davor.
Am Abend bekam er eine Benachrichtigung:
„Ihnen wird ein abweichendes Blickverhalten attestiert.
Zur Wahrung der visuellen Ordnung empfehlen wir eine Anpassungsschulung.
Oder den Erwerb eines Sichtschutzes.“
Er klickte auf „Später“.
Dann schloss er die Augen.
Und stellte sich vor, wie es wäre,
jemanden anzusehen,
ohne beobachtet zu werden.
Ohne Bewertung.
Ohne Grenze.
Nur so.
Wie ein Mensch.
Interne Links:
Sartre: Der „Blick des Anderen“ – Zwischen Selbstbild und sozialer Identität
Man lebt nicht vom Brot allein – Neues aus Dystopia
Arbeit ist wichtig – Neues aus Dystopia
Die Zeremonie – Neues aus Dystopia
Man sagt – Neues aus Dystopia
Externe Links:
Externe Links:
Wikipedia: Panopticon
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