
Die Bewertung (Teil 1)- Neues aus Dystopia
Die Bewertung (Teil 1) – Neues aus Dystopia
Sein Score betrug 4,31.
Am Morgen blinkte die Zahl auf dem Display in seiner Küche.
Grün auf weiß. Freundlich. Unnachgiebig.
4,31 bedeutete: Zugang zu allen Bereichen.
Gute Viertel. Saubere Straßen. Sicherheit.
Man musste nichts Besonderes tun.
Nur nichts Falsches.
Im Aufzug nickte er höflich.
Nicht zu überschwänglich.
Nicht zu reserviert.
Auf der Straße wich er aus, wenn jemand zu nah kam.
Er lächelte im richtigen Moment.
Er schwieg im richtigen Moment.
Kleine Gesten. Kleine Punkte.
Unmerklich.
Und doch entscheidend.
Er wusste, wie man sprach.
Keine Ecken, keine Kanten.
Keine Meinung, die stoßen könnte.
Man sagte, was man sagte.
Man empfand, was man empfand.
Man glaubte, was geglaubt wurde.
Nicht aus Überzeugung. Aus Gewohnheit.
Einmal, im letzten Jahr, hatte er einen Fehler gemacht.
Nur einen Satz, beiläufig, in einer Runde von Bekannten.
Etwas über die Unverfügbarkeit von Wahrheit. Und dass Regeln oft mehr über Angst verraten als über Gerechtigkeit.
Etwas, das man falsch verstehen konnte.
Seine Bewertung war gefallen.
Innerhalb von Stunden.
Ein ganzer Punkt – verloren in einem Moment.
Die Tage danach waren kalt gewesen.
Einladungen blieben aus.
Blicke wurden kürzer.
Höflich.
Abwartend.
Messend.
Er hatte gelernt.
Schnell.
Man lebte nicht für sich.
Man lebte für die Kurve.
Für die Linie, die steigen musste.
Er war nicht unglücklich.
Unglück war gefährlich.
Es färbte auf die Bewertung ab.
Anpassung fühlte sich an wie Ruhe.
Meistens.
Abends, wenn er die leuchtende Stadt sah,
dachte er manchmal an die anderen.
Die mit der niedrigen Bewertung.
Die, die gesagt hatten, was sie dachten.
Die, die nicht gelächelt hatten, als es erwartet wurde.
Die, die nicht schnell genug bewertet hatten, als es verlangt wurde.
Sie lebten in den grauen Zonen.
Dort, wo die Bildschirme dunkel blieben.
Dort, wo keine Punkte mehr zählten.
Man sprach nicht über sie.
Er war müde, manchmal.
Aber Müdigkeit war privat.
Gefühle mussten dosiert werden.
Sicher. Kalkuliert. Bewertbar.
Sein Profil zeigte Optimierungsvorschläge:
„Lächelfrequenz leicht erhöhen.“
„Sprechtempo um 2,1 % reduzieren.“
„Neutralere Farbtöne bei Kleidung bevorzugen.“
Er las sie sorgfältig.
Er befolgte sie.
Nicht weil er glaubte, dass sie Sinn ergaben.
Sondern weil sie funktionierten.
Manche Abende spürte er eine Wut.
Sie flackerte kurz auf,
wie eine vergessene Erinnerung.
Dann atmete er tief ein,
überprüfte seine Mimik,
und lächelte.
Am Abend aktualisierte sich sein Score.
4,29.
Zwei Punkte weniger.
Er wusste nicht, warum.
Vielleicht hatte jemand gezögert,
als er gelächelt hatte.
Vielleicht war es einfach die Statistik.
Er strich über sein Display.
Er sah die Skala.
Rot: Ausgrenzung.
Gelb: Beobachtung.
Grün: Zugehörigkeit.
Er lag noch im Grün.
Noch.
Er ging ins Bad.
Stand vor dem Spiegel.
Er übte sein Lächeln.
Weich.
Angenehm.
Konform.
Es fiel ihm schwerer als sonst.
In seinen Augen war nichts mehr.
Kein Ärger.
Keine Trauer.
Kein Widerstand.
Nur ein leises, erschöpftes Funktionieren.
Er hatte alles erreicht.
Nur nicht sich selbst.
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Externe Links:
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