Die Nacht
Neues aus Dystopia

Die Nacht: Neues aus Dystopia

Lesedauer 2 Minuten

Die Nacht: Neues aus Dystopia

Sie wollten nichts verpassen. Also begannen sie, die Nacht aufzuzeichnen.

Alle.

Jede Sekunde.

Recorder hingen in den Schlafzimmern.

In Parks.

In Bars.

Auf leeren Straßen.

Am Morgen wurden die Nächte beschleunigt.

Die Aufnahmen liefen in fünffacher Geschwindigkeit.

So konnte man sie nacherleben,

bevor der neue Tag begann.

„Man darf nichts verpassen“, sagte ein Mann im Anzug.

Er trug zwei Recorder,

einen für Träume, einen für Geräusche.

Ein Kind fragte:

„Was war gerade?“

Seine Stimme klang ernst, fast unruhig.

Er hatte etwas gehört, ein Geräusch vielleicht,

oder ein Licht gesehen. Etwas, das bedeutsam hätte sein können.

Er wollte sicher sein, dass es aufgezeichnet war.

Dass es nicht verloren ging.

Eine alte Frau schüttelte den Kopf.

Nicht aus Missbilligung. Sondern, weil sie wusste, dass die Frage sinnlos geworden war.

Weil es keinen Unterschied mehr machte, ob man etwas erlebt oder nur gesehen hatte.

Man sah sich selbst schlafen,

sah andere schlafen,

sah das Leben jenseits der Nacht,

fragmenteweise, flackernd.

Später liefen die Nächte parallel zum Tag.

Im Hintergrund, auf kleinen Bildschirmen.

Neben Konferenzen.

Neben Schulstunden.

Neben Mahlzeiten.

Man hörte das Flüstern der eigenen Träume,

während man neue Informationen sammelte.

Ein Junge fragte in der Schule:

„Wann sind wir eigentlich wach?“

Die Lehrerin lächelte.

„Wir sind immer informiert.“

Sie zeigte auf einen Bildschirm:

„Hier ist deine Nacht. Komprimiert. Effizient.“

Der Junge blinzelte.

Er hatte vergessen, wie Dunkelheit klingt.

Am Abend prüfte man die Protokolle:

Welche Nacht war besonders?

Welcher Traum hatte eine Auffälligkeit?

Welche Flucht, welches Lachen, welches Zittern?

Man optimierte den Schlaf.

Man verkürzte ihn.

Man speicherte ihn.

Ein kleines Mädchen weinte eines Morgens.

Sie hatte geträumt,

aber niemand hatte es aufgezeichnet.

Man sagte ihr,

es sei nicht wichtig,

wenn es nicht gespeichert wurde.

In den Aufnahmen wuchs das Flackern.

Das Rauschen.

Die Fehler.

Aber niemand sah mehr genau hin.

Man hörte auf, die Nächte zu spüren.

Man sah nur noch das Bild.

Und irgendwo, ganz leise,

verschwand die Nacht.

Nicht mit einem Schrei.

Nur mit einem Flimmern.




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