Die Welt ist Sprache
Poststrukturalismus,  Sprachphilosophie

Sprache: Die Welt ist ein Wort

Lesedauer 4 Minuten

Sprache: Die Welt ist ein Wort

Stell Dir vor, Du erwachst in einer Welt ohne Sprache. Keine Worte, keine Sätze, keine Geschichten. Wie würdest Du diese Welt verstehen? Ohne Sprache bleibt alles um uns herum ein wildes Durcheinander von Eindrücken und Empfindungen. Du sieht, hörst, riechst, fühlst – aber was siehst Du? Da ist kein „Baum“, kein „Himmel“, kein „Ich“. Alles bleibt stumm, formlos, zusammenhanglos. Wer ist dieser Mensch, der keinen Namen hat? Was soll er von sich denken – ohne ein „Denken“ zu haben, das sich benennen kann? Was bleibt, wenn alles Erleben formlos ist, jedes Gefühl namenlos, jede Wahrnehmung nur ein dahinschießender Strom von Eindrücken? Er wird wohl spüren, dass sich Dinge wiederholen, vielleicht ahnt er sogar ein Muster. Aber ohne Sprache bleibt alles unverbindlich, bruchstückhaft, ein unaufhörliches Vorbeigleiten. Was fehlt ist das Netz, das die Welt zusammenhält: Sprache.

Die Welt ist Sprache

Sprache ist nicht nur ein Werkzeug, das wir benutzen, um unsere Gedanken zu übermitteln. Sie ist weit mehr. Sie ist das unsichtbare Band, das Welt und das Selbst überhaupt erst formt – überhaupt erst möglich macht. Ohne Sprache gibt es keine Begriffe, kein Begreifen, keine Unterscheidungen, kein „Ich“ und kein „Du“. Die Sprache ist das Gewebe, in dem alles einen Platz erhält, Bedeutung gewinnt, und überhaupt erst erkennbar wird.

Was ist die Welt?

Was aber meinen wir überhaupt, wenn wir von „Welt“ sprechen? Schon dieses Wort ist ein Versuch, das Ungreifbare zu fassen. Für die Philosophen der Antike war die Welt noch eine geordnete Gesamtheit, ein Kosmos. Im Mittelalter wurde sie als Schöpfung begriffen, bei Kant schließlich als „Ding an sich“, das unserem Zugriff entzogen bleibt. So verschieden die Weltbegriffe auch sind – haben sie eines gemeinsam: Sie sind sprachlich verfasst. Die Welt ist uns nie einfach gegeben, sondern erscheint immer schon durch die Begriffe, die wir für sie haben.

Weltbegriffe: Vom Kosmos bis zum Diskurs

Ludwig Wittgenstein hat diesen Gedanken radikalisiert: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Was ich nicht sagen kann, das kann ich auch nicht denken, nicht begreifen, nicht erkennen. Jede Wirklichkeit, die mir zugänglich ist, ist sprachlich vermittelt – nicht, weil Worte bloß benennen, was schon da ist, sondern weil erst durch Sprache das, was „da ist“, als solches in Erscheinung tritt. Mit anderen Worten: Die Welt, in der wir leben, ist nicht einfach da, sie entsteht immer auch im Sprechen, im Benennen, im Unterscheiden.

Martin Heidegger ging noch weiter: Für ihn ist Sprache nicht Werkzeug, sondern „das Haus des Seins“. Nicht wir sprechen die Sprache – die Sprache spricht uns. Sie öffnet die Welt, lässt Dinge erscheinen, Sinn entstehen. Wer die Sprache verliert, verliert nicht nur Worte, sondern auch die Zugehörigkeit zur Welt.

Auch Jacques Derrida zeigt: Es gibt kein „Außerhalb“ der Sprache. Worte verweisen immer nur auf andere Worte. Bedeutung ist kein fester Punkt, sondern ein endloses Spiel der Unterschiede. Realität, so scheint es, ist immer schon ein Text, der sich selbst interpretiert.

Selbst in der Wissenschaft, wo wir nach größtmöglicher Objektivität streben, kommen wir nicht ohne Sprache aus. Was wir als „Fakt“ bezeichnen, ist nie bloß ein neutraler Abdruck der Welt, sondern das Ergebnis sprachlicher und konzeptueller Entscheidungen. Welcher Begriff wird verwendet? Welche Messgröße gewählt? Welche Frage wird überhaupt und wie gestellt?

Der wissenschaftliche Realismus geht etwa davon aus, dass Theorien die Welt so beschreiben, wie sie ist – unabhängig von uns. Der Anti-Realismus dagegen sagt, was wir „Wirklichkeit“ nennen, ist immer schon eine sprachliche Konstruktion innerhalb eines Deutungsrahmens. Nicht die Welt spricht zu uns, wir sprechen über die Welt – in unseren Begriffen, unseren Theorien und unseren Modellen. Die Sapir-Whorf-Hypothese spitzt diesen Gedanken mit Schärfe zu: Sprache formt nicht nur, wie wir reden – sondern auch, was wir zu wissen glauben, was wir überhaupt für „wirklich“ halten.

Das Unsagbare

Aber gibt es nicht doch auch Erfahrungen, die sich der Sprache entziehen? Momente, in denen wir sprachlos sind – vor Schmerz etwa, vor Staunen, vor Musik, vor Liebe? Möglicherweise gibt es sie. Als das reine Gefühl, den unmittelbaren Augenblick, die pure Anwesenheit. Sobald wir aber versuchen, davon zu sprechen, beginnt die Welt sich wieder in Worte aufzulösen. Was unaussprechlich schien, verliert seine Unmittelbarkeit und wird wieder Teil unseres sprachlichen Gewebes. Das Unsagbare scheint zu existieren, aber wir können es nicht festhalten, ohne es zu verlieren.

„Le discours“

Sprache ist nie nur Privatangelegenheit. Sie ist immer auch sozial, eingebettet in größere Zusammenhänge, in das, was Michel Foucault „Diskurs“ nennt. Es sind die Ordnungen des Sprechens, die darüber bestimmen, was in einer Gesellschaft gesagt, gedacht, für wahr oder für möglich gehalten wird. Diskurse legen fest, welche Wörter Gewicht haben, welche Vorstellungen Platz greifen dürfen – und welche nicht. Auch das, was unaussprechlich bleibt, ist nie nur dem Einzelnen geschuldet, sondern dem Raum, den Sprache und Macht in einer Zeit eröffnen oder wieder verschließen. Auch der Widerstand ist Teil des Diskurses – als seine Antithese. Aber auch diese ist Teil des Diskurses. Der Widerstand ist auch im Raum der Sprache gefangen und bewegt sich in den Ordnungen, gegen die er sich richtet. Es gibt kein Außerhalb, keinen neutralen Punkt jenseits der Worte. Selbst der Versuch, sich zu entziehen, findet Ausdruck in Sprache – und wird damit wieder von ihr eingefangen.

Die Welt ist Sprache: Vielleicht war da nie eine Welt

Vielleicht gibt es eine Welt jenseits der Sprache. Aber wir werden sie nie erklären. Wir sind gefangen in einem Netz aus Zeichen, ein endloses Spiel aus Worten, das uns die Welt zeigt – sie zugleich aber verdeckt. Was wir nicht benennen können, existiert nicht für uns. Und so sprechen wir weiter, um uns zu vergewissern, dass wir da sind. Doch vielleicht sind wir längst verschwunden – verloren in der Sprache, die uns hervorgebracht hat.



Externe Links:

Stanford Encyclopedia of Philosophy: Wittgenstein

Internet Encyclopedia of Philosophy: Martin Heidegger

Stanford Encyclopedia of Philosophy: Jacques Derrida

Simply Psychology: Sapir–Whorf hypothesis (Linguistic Relativity Hypothesis)

Interne Links:

Ökonomie und Macht – oder wie Theorien die Welt formen

Das „Ich“ als Ort: Poststrukturalismus und das Ende des Subjekts


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