
Die Zeremonie – Neues aus Dystopia
„Die Zeremonie“
Sie versammelten sich jeden Abend zur selben Stunde.
Niemand wusste mehr, wann es begonnen hatte. Oder warum. Aber es stand im Kalender. Es war eingetragen, abgestimmt, bestätigt. Also kamen sie auch.
Man stand im Halbkreis. Drei Schritte Abstand, kein Lächeln, kein Blick zu viel.
Die Kleidung war schlicht, aber sorgfältig gewählt. Grau, Schwarz, ein Hauch von Blau bei den Jüngeren.
In der Mitte: der Tisch. Immer leer. Manchmal lag eine Blume dort, manchmal ein Stück Stoff. Nie das Gleiche. Es wurde nie erklärt. Es wurde einfach hingelegt.
Der Zeremonienleiter trat vor. Ein Mann mittleren Alters mit einer Stimme, die weder laut noch leise war.
Er sagte: „Wir sind heute hier, wie jeden Tag. Um zu bezeugen. Zu gedenken. Zu bestätigen.“
Niemand fragte, was.
Man senkte den Blick.
Eine Frau begann zu summen. Die anderen stimmten ein. Die Melodie war alt, vielleicht bedeutungslos. Aber sie füllte die Stille, wie ein Ritual es eben tun soll.
Ein Kind nieste. Es wurde sanft an den Rand geführt, nicht getadelt, nur entfernt.
Dann stand man still. Fünf Minuten. Immer fünf. Ein Summen, ein Schweigen, ein Nicken.
Ein Mann hob die Hand. Alle folgten.
Die Zeremonie war damit beendet.
An diesem Abend, als alle sich schon zum Gehen wandten, hob jemand plötzlich die Stimme.
Ein junger Mann, vielleicht neu. Seine Stimme zitterte nicht, aber sie war fremd im Raum.
„Wofür tun wir das eigentlich?“, fragte er.
Ein kurzes Innehalten. Die Bewegungen stockten. Doch niemand antwortete.
Der Zeremonienleiter schaute ihn an, freundlich, fast bedauernd. Dann sagte er ruhig: „Bitte stellen Sie Ihre Frage morgen erneut. Heute war sie nicht vorgesehen.“
Der junge Mann nickte langsam. Es war, als hätte er es selbst vergessen, kaum dass er es ausgesprochen hatte.
Zu Hause, im Dämmerlicht seines Wohnzimmers, wagte einer zu fragen:
„Weißt du eigentlich, wofür das war?“
Die Frau neben ihm zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht für uns.“
„Oder gegen uns.“
„Hauptsache, es passt.“
Er nickte.
Dann stand er auf und richtete seine Garderobe für morgen.
Am folgenden Abend war die Frau mit dem dunklen Schal nicht da. Man flüsterte, ihr Kind sei geboren worden.
Die Zeremonie begann wie immer.
Niemand sprach ihren Namen aus. Niemand erwähnte das Kind.
Auf dem Tisch lag ein Kieselstein.
Der Zeremonienleiter sagte: „Wir sind heute hier, wie jeden Tag. Um zu bezeugen. Zu gedenken. Zu bestätigen.“
Die Worte blieben dieselben. Auch der Rhythmus. Auch das Schweigen.
In einer Randzeile des alten Ritualbuches – so erzählte man sich – habe früher einmal gestanden: „Es begann aus Dankbarkeit.“
Später, so meinte ein anderer, sei es um Hoffnung gegangen.
Oder um Reinigung. Oder Schuld.
Es war nicht mehr wichtig. Das Ritual hatte sich gelöst. Es stand jetzt für sich.
„Man soll nicht nach dem Grund fragen, sondern nach der Form.“
hatte der erste Zeremonienleiter gesagt. Damals. Vor langer Zeit.
An einem der nächsten Abende erschien die Frau mit dem dunklen Schal wieder. Man wich ihr nicht aus, aber auch nicht näher.
Sie stand im Halbkreis. Drei Schritte Abstand.
Ihr Gesicht war leer wie der Tisch.
Die Zeremonie wartete nicht.
Sie begann.
Und endete.
Wie immer.
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