
„Du musst nur wollen“ – Der Mythos vom Willen in Zeiten der Erschöpfung
„Du musst nur wollen“ – Der Mythos vom Willen in Zeiten der Erschöpfung
Er erinnerte sich noch gut an diesen einen Nachmittag. Er war etwa zehn Jahre alt. Damals, auf dem Bolzplatz. Er hatte wieder einmal danebengeschossen, wieder einmal den Ball nicht richtig getroffen. Einige rollten mit den Augen. Und sein Vater rief von der Seite: „Auf gehts, Du musst es nur wollen!“. Damals klang es wie ein Ansporn. Heute aber weiß er: Es war ein Urteil.
Nicht der Fuß war das Problem. Nicht die Kraft und nicht das Spiel. Sondern der Wille.
So, als hätte das Scheitern weniger mit dem Schuss zu tun – sondern mit innerlichen Versäumnissen. Was also, wenn gerade das Wollen selbst das Problem ist?
Ein Satz, den fast jeder schon einmal gehört hat. Und weil er so schön einfach klingt, halten ihn viele auch für wahr. Kein Wunder also, dass er überall auftaucht: auf Buchcovern, in Podcasts, Talkshows, in der Politik, bei Coaching-Gurus, in ganz alltäglichen Gesprächen – und nicht selten hören ihn Kinder von ihren Eltern. Er ist eines der großen Versprechen unserer Zeit. Als gäbe es nichts, was wir nicht erreichen könnten. Du musst es nur wollen. Und wenn es nicht klappt, dann hast du es wohl nicht genug gewollt.
In Wahrheit ist er eine sprachliche Verschiebung. Denn er macht aus Scheitern eine Willensfrage und aus Erschöpfung ein Charakterdefizit. Die Systemfrage wird umgangen. Stattdessen landet die ganze Last bei Dir allein. Und wer sich selbst die Schuld gibt, stellt keine Fragen. Und genau das macht den Satz so gefährlich – und für viele die bereits oben sind, ist er bequem. Am Ende sagt er weniger über Dich, als über eine Gesellschaft, die nicht mehr fragt, ob du kannst – sondern nur noch, warum Du nicht willst.
Dekonstruktion: Die Überhöhung des Willens
Der Wille war lange der Inbegriff von Freiheit und Autonomie. Wer will, so heißt es, der handelt aus sich heraus. Der beugt sich nicht den Umständen, sondern er formt sie, und zwar aus eigener Kraft. Spätestens seit der Aufklärung wurde der Wille zum Symbol des selbstbestimmten Subjekts.
Diese Erzählung aber, hat ein Problem:
Sie setzt voraus, dass alle Menschen überhaupt im gleichen Maß „wollen“ können. Dabei wird aber ignoriert, dass unser Wille nicht im luftleeren Raum entsteht – dass nicht alle in gleicher Weise „wollen“ können. Wer seinen Alltag im Überlebensmodus bestreitet, denkt nicht an Selbstverwirklichung. Wer zwischen Schichtdienst, Care-Arbeit und Kinderbetreuung pendelt, hat eher wenig Kapazität für große Visionen. Was als freie Entscheidung dargestellt wird, ist eben oft nur eine Reaktion auf strukturelle Zwänge.
Und trotzdem wird der Wille zur Norm. Zum Maßstab für Leistung und Erfolg. Wer hier nicht mithalten kann, hat eben nicht „genug gewollt“. Und so wird aus persönlichen und systemischer Ungleichheiten ein persönliches Versagen. Scheitern wird psychologisiert. Es ist eine Charakterfrage. Und so wird der Wille zum moralischen Urteil.
„Du muss nur wollen“: Der erschöpfte Mensch
Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der viele nicht mehr können – aber immer noch sollen. Burnout, Depression, Angststörungen. Psychische Erschöpfung sind heute keine Einzelfälle mehr, sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und trotzdem halten sich diese Sätze wie ein eisernes Dogma: „Du musst nur wollen.“ „Es liegt an Dir allein“.
Und inmitten dieser Zeit, in der das Nervensystem vieler am Limit läuft, wird der Wille zur letzten und alles entscheidenden Instanz erklärt. Als sei Erschöpfung keine Grenze, sondern ein Mangel an Entschlossenheit. Als sei Müdigkeit kein Symptom – sondern eine Charakterschwäche.
Der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt unsere Gegenwart als „Müdigkeitsgesellschaft“. Eine Gesellschaft, in der der Zwang zur Selbstoptimierung subtiler, aber allgegenwärtiger geworden ist. Leistung wird nicht mehr von außen erzwungen – sondern von innen. Denn wir treiben uns selbst an – aus einem Gefühl von Freiheit heraus, das in Wahrheit aber Zwang ist. Der Körper muss sportlich aussehen, die Kleidung abgestimmt, der Kalender gefüllt, die Ernährung bewusst, der Schlaf effizient, die Beziehungen reflektiert, die Karriere zielgerichtet, das Mindset positiv, das Auftreten souverän, das Denken lösungsorientiert, das Lächeln gefälligst echt und die Schwächen bekannt – und bestenfalls auch bereits in Bearbeitung sein.
Und wenn wir zusammenbrechen, dann bitte leise. Idealerweise behandeln wir das Problem bereits mit einem geeigneten Programm zur Optimierung.
Die neoliberale Funktion des Willens-Mythos
Der Satz „Du musst nur wollen“ ist nicht unpolitisch. Denn er verschiebt Verantwortung. Nicht das System ist schuld, nicht die Strukturen, nicht die Bedingungen – sondern allein Du. Dein Wille. Deine Einstellung. Dein Mindset ist das Problem.
Der Mythos vom übermächtigen Wollen passt daher wunderbar in die neoliberale Logik. Sie macht den Einzelnen verantwortlich für alles: für Erfolg, für Glück, für Gesundheit. Denn er ist Unternehmer seiner eigenen Fähigkeiten, ein Produkt seiner Entscheidungen und nicht zuletzt ein dauerhaft defizitäres Projekt, das sich ständig verbessern muss. Wer scheitert, war eben nicht genug engagiert. Wer leidet, hat sich eben nicht genug bemüht. Wer ausgebrannt ist, war nicht resilient genug. So wird Erschöpfung individualisiert – und Kritik neutralisiert. Wer glaubt, dass er selbst schuld ist, der klagt auch nicht an. Er schämt sich. Und optimiert sich. Der Wille wird so zur moralischen Pflicht und zum Werkzeug der Selbstdisziplinierung. So wird aus einer strukturellen Erschöpfung eine ganz private Schwäche. Aus einem kollektiven Problem wird ein individuelles Versagen.
Diese Ideologie ist natürlich für all jene bequem, die längst oben sind. Und was eigentlich eine Revolte sein müsste, verkümmert im Selbstcoaching.
Philosophische Blick auf den Willen
Die Geschichte des Willens ist eine Geschichte großer Ideen – und ebenso großer Missverständnisse.
Für Kant ist der Wille Ausdruck moralischer Freiheit. Für Schopenhauer ein blinder Trieb, der Leiden schafft. Nietzsche hingegen feiert den „Willen zur Macht“ – nicht als Disziplin, sondern als Lebensenergie. Freud sieht im Willen bloß eine Maske für unbewusste Kräfte. Der bewusste Wille ist nicht der Ursprung, sondern die Marketingabteilung der Psyche: Er verkauft uns nachträglich, was wir ohnehin schon getan haben. Er ist nur die Spitze des Eisbergs – darunter tobt etwas ganz anderes. Und Foucault zeigt: Auch unser Wollen ist nicht frei, sondern das Produkt gesellschaftlicher Macht. Der Wille zur Wahrheit, zur Disziplin, zur Leistung sei nicht „natürlich“, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Regimes. Man könnte sagen: Das Ich „will“ nicht – es wird gewollt. Der Wille selbst ist durchzogen von Normen, vom Diskurs.
Ähnliches bestätigen heute auch die Neurowissenschaften. In Experimenten von Benjamin Libet oder John-Dylan Haynes zeigen sich bewusste Entscheidungen oft erst Sekunden nachdem das Gehirn bereits entschieden hat. Das Hirn handelt und der Wille erklärt im Nachhinein. Was wir für freie Entschlüsse halten, sind womöglich nur nachträgliche Narrative.
Was also bleibt von der Idee, der Mensch sei ein autonomes Wollen? Wahrscheinlich war er nie mehr als eine Illusion – das irgendwann zur Verpflichtung wurde.
„Du musst nur wollen“: Widerstand als eigentliche Freiheit
Was wäre, wenn Freiheit heute nicht mehr bedeutet, alles zu wollen – sondern endlich nicht mehr zu müssen? Was, wenn das eigentliche Aufbegehren nicht im nächsten Ziel, im nächsten Vorsatz, im nächsten Sprint liegt – sondern im Innehalten? In der Weigerung, sich noch länger antreiben zu lassen von einem Mythos, der Erschöpfung in Schuld verwandelt?
Der Widerstand beginnt genau dort, wo man nicht mehr will. Wo man nicht mehr mitspielt. Wo man sich dem Imperativ entzieht, jederzeit verfügbar, produktiv und optimiert zu sein.
Freiheit hieße dann: nicht mehr alles wollen zu müssen. Sondern zu wählen, worauf man verzichtet. Nicht mehr um jeden Preis zu funktionieren. Sondern still zu bleiben, wenn alle schreien. Nein zu sagen, wenn alle weiterlaufen.
Der stärkste Wille heute?
Möglicherweise der, der sich zurücknimmt?
Externe Links:
Amazon: Buyun Chul Han – Müdigkeitsgesellschaft
Internet Encyclopedia of Philosophy: Michel Foucault – Ethics
Wikipedia: Bereitschaftspotential
Wikipedia: Das Libet-Experiment
Wired: Brain Scanners Can See Your Decisions Before You Make Them
Interne Links:
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