Existenzielle Leere
Philosophie

Existenzielle Leere: Zwischen Sehnsucht und Erfüllung

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Lesedauer 7 Minuten

Existenzielle Leere und kann sie überwunden werden?

Die Leichtigkeit einer Kindheit ist bald verflogen. Jedenfalls ehe man sich ihrer bewusst wird. Bevor man sie nämlich zu schätzen versteht, ist man bereits weit darüber hinausgewachsen. Aber auch wenn die Probleme der Kindheit aus der Perspektive der Großen klein und unwichtig erscheinen, sind sie aus der Sicht eines Kindes groß genug. Bereits früh zeigt sich die Unerfülltheit der menschlichen Existenz in den ersten Momenten der Enttäuschung, wenn Wünsche unerfüllt bleiben oder wenn die Grenzen der eigenen Möglichkeiten erkannt werden. In der Jugend dann reizen die Sinne und die Suche nach neuen Erfahrungen und Abenteuern schreibt den Lebenslauf. Aber irgendwann merken wir, dass es das nicht gewesen sein kann. Denn auch wenn die Erfahrungen zahlreich und intensiv sind, stillen sie letztlich den Hunger nicht. Mal früher mal später erkennen wir, dass tiefere Beziehungen erfüllender sind. Wir binden uns und legen mehr Wert auf die Qualität unserer Beziehungen. Wir gehen Aktivitäten nach, die uns dauerhaft nähren. Und doch bleibt all das, so wertvoll es auch ist, letztlich ein immer neues Bemühen, eine existenzielle Leere zu füllen, die sich aller Bemühungen zum Trotz, nicht schließen lassen will. Es ist als würde sie uns daran erinnern, dass sie auf etwas wartet, das über uns selbst hinausgeht.

Konsum, Vergnügen und Aktivitäten geben uns nicht nur kurzzeitig das Gefühl, dass wir etwas Bedeutendes erlebt haben, sie sind auch Ablenkung. Wir beschäftigen uns pausenlos, füllen jeden freien Moment mit Aktivität, Entertainment und Vergnügen. Manche suchen Vergessen in Alkohol und anderen Drogen, andere flüchten sich in die scheinbare Verbundenheit sozialer Medien, verlieren sich im endlosen Scrollen durch digitale Feeds oder greifen immer wieder zu Essen – als könnten wir der Stille und dem Gefühl der Leere dadurch entkommen. Je verzweifelter wir versuchen, dieser Leere zu entfliehen, desto hartnäckiger kehrt der Hunger zurück.

Sprechen wir hier von existenzielle Leere“ ist mehr als das Fehlen von Sinn gemeint. Sie ist das nagende Gefühl, dass all das Streben und Erleben uns nicht dauerhaft erfüllt, sondern uns immer wieder in einen Zustand der Sehnsucht zurückwirft. Auch ernsthaftere Versuche, wie die der Philosophie und der Ethiken, die sich mit dem menschlichen Handeln und dem guten Leben auseinandersetzen, bieten zwar gute Ansätze, um mit der Existenz zurechtzukommen, bleiben jedoch letztlich unvollständig. Warum ist das so? Übersehen Sie etwas? Und warum scheinen alle menschlichen Versuche, diese Leere zu füllen, letztlich zu scheitern?

Die universelle Tendenz zur Leere

Es ist Weihnachtszeit, als ich diesen Artikel schreibe. Ich habe feine Trüffelschokolade mit gesalzenem Karamell gegessen. Sie schmeckten ausgezeichnet, ich konnte nach dem fünften Stückchen nur schweren Herzens davon ablassen, aber die Disziplin hat sich irgendwie durchgesetzt. Nach dem letzten Stück blieb erstmal der süß-herbe Geschmack, aber auch ein Gefühl von Unvollständigkeit. Etwas fehlte. Es war aber gar nicht unbedingt die Schokolade. Es war etwas anderes, Tieferes. Die Schokolade war nur der Erfüllungsgehilfe eines größeren Verlangens. Dieser Moment ist freilich banal, doch er hat dieselbe Struktur wie viele andere Erfahrungen, die uns vermeintlich erfüllen sollen. Sie kennen das Gefühl sicher auch aus anderen Situationen. Auf das langersehnte Musical, die Party, die Sie nicht vergessen können, der tolle Urlaub – und doch war da am Ende dieses leise, nagende Gefühl, dass all das letztlich nicht reichen würde. So reichhaltig oder intensiv unsere Erfahrungen auch sein mögen, sie scheinen immer nur einen Moment lang zu genügen, bevor uns die Leere erneut einholt.

Es scheint, als wäre die menschliche Existenz auf etwas ausgerichtet, das über das bloß Erlebbare hinausgeht. Keine Schokolade, keine Party, kein Urlaub, kein beruflicher Erfolg, kein neues Auto kann diese tiefe Sehnsucht letzlich stillen. Was wir wirklich suchen, bleibt jenseits dessen, was uns die Welt geben kann. Dieses Verlangen ist an sich nicht falsch – wir versuchen vielleicht nur, es an der falschen Stelle zu stillen.

Existenzielle Leere: Philosophische und psychologische Perspektiven

Die Leere, von der wir hier sprechen, ist kein rein persönliches oder subjektives Phänomen. Sie ist etwas, das wir in der modernen Welt immer wieder antreffen. Der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm beschrieb dieses Gefühl eindringlich in Haben oder Sein. Er argumentierte, dass die moderne Gesellschaft eine Orientierung an Besitz und Konsum entwickelt hat, bei der der Wert eines Menschen an seinem Haben, seinen Besitztümern und Erfolgen gemessen wird. Für Fromm bleibt die innere Leere bestehen, weil der Mensch sich nicht auf das Sein, das unmittelbare und lebendige Erleben, einlässt, sondern sich im Streben nach Besitz und Status verliert.

Ähnlich äußerte sich der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl, dessen Konzept des „existenziellen Vakuums“ in der Psychologie einen wichtigen Platz einnimmt. In … trotzdem Ja zum Leben sagen beschreibt er, wie viele Menschen in der modernen Welt den Sinn ihres Lebens verloren haben. Für Frankl ist diese Sinnlosigkeit eine der zentralen Herausforderungen des menschlichen Daseins. Sie führt zu einer Art Leere, die wir oft zu überdecken versuchen – durch Arbeit, Unterhaltung oder materiellen Reichtum. Doch all das, so Frankl, reicht nicht aus, um die tiefe Sehnsucht nach Sinn zu stillen

Auch in der Antike suchten Philosophen nach Wegen, mit dieser Leere umzugehen. Epikur etwa empfahl eine Philosophie der Mäßigung: den Verzicht auf überflüssige Wünsche und die Besinnung auf einfache Freuden. Doch war dies wirklich mehr als ein Versuch, mit der Leere zu leben? Epikur leugnet nicht das Vorhandensein der Leere, aber seine Lösung ist eher ein Arrangement mit ihr – nicht aber ihre Überwindung.

Die existenzielle Leere und das moderne Leben

Die moderne Welt hat sich in ihrer Entwicklung zunehmend von transzendenten Bedeutungsebenen entfernt. Was oberflächlich als Befreiung erscheint – die Abkehr von religiösen „Fesseln“ und überkommenen Glaubensvorstellungen – hinterlässt gleichzeitig eine fundamentale Lücke im menschlichen Dasein. Denn mit dem Verlust der Transzendenz geht auch die höchste Ebene der Sinnstiftung verloren. Der Mensch, einst eingebettet in einen kosmischen Bedeutungszusammenhang, findet sich nun in einer Welt wieder, die zwar technisch hochentwickelt ist, aber keine befriedigenden Antworten auf die tiefsten Fragen der Existenz mehr bereithält.

Natürlich gibt es bedeutsame Quellen der Sinnstiftung, die dem Menschen Erfüllung schenken können. Allen voran die Familie und besonders die eigenen Kinder. In ihnen findet der Mensch eine Form des Weiterlebens über die eigenen Grenzen hinaus. Durch sie berührt er gewissermaßen die Ewigkeit, da etwas von ihm in die nächste Generation übergeht. Diese biologische und im entfernteren auch soziale Transzendenz vermag für viele Menschen eine tiefe Quelle der Erfüllung zu sein. So wesentlich und erfüllend Kinder und Familie auch sind – bleibt auch hier ein Rest von Unerfülltheit bestehen. Die existenzielle Leere lässt sich auch damit nicht vollständig schließen.

Diese Entwicklung zeigt sich besonders deutlich in unserer Gegenwart: Wir haben die materiellen Möglichkeiten ins schier Unendliche gesteigert, die digitale Revolution hat uns Zugang zu endlosen Informationen und Unterhaltungsangeboten verschafft, und doch scheint die existenzielle Leere nur noch größer geworden zu sein. Je mehr wir versuchen, sie mit weltlichen Mitteln zu füllen – sei es durch Konsum, Erlebnisse oder Selbstoptimierung – desto deutlicher wird, dass wir damit genau jene Dimension verfehlen, die diese Leere eigentlich adressieren müsste.

Existenzielle Leere: Der Glaube an Gott als letztliche Erfüllung?

Denkt man es konsequent, muss man die Frage stellen, ob dieser Zustand vielleicht durch Gott überwunden werden kann. Kierkegaard beschreibt die Verzweiflung als die unausweichliche Einsicht in die Endlichkeit des Menschen. Erst in der Hinwendung zu Gott, der Ewigkeit selbst, kann der Mensch diese Verzweiflung überwinden und zu wahrer Erfüllung finden. Sämtliche religiösen, philosophischen, psychologischen und wissenschaftlichen Systeme, die Menschen Orientierung und Sinn geben sollen, bleiben letztlich begrenzt und unvollständig. Die Tugendethiken wie die stoische Ethik oder Aristoteles’ Nikomachische Ethik aber auch der Existenzialismus bieten zwar einsichtige und hilfreiche Konzepte für ein gelingendes Leben, aber weder die Stoa noch die Existenzphilosophie – oder welchen Ratgeber Sie auch heranziehen – bieten letztlich etwas Vollständiges an. Sie bleiben im Menschlichen, im Endlichen verhaftet. Sie können weder echten Trost spenden noch Gnade gewähren, und ihre Zuversicht ist bestenfalls die des Tapferen.

Liegt die Antwort also vielleicht doch in einer anderen Dimension, die über das Menschliche hinausgeht: im Glauben an Gott? Möglicherweise füllt der Glaube, was weltliche Güter nicht vermögen. Im Glauben begegnen wir nicht nur einer weiteren menschlichen Idee oder einem philosophischen System, sondern einer absoluten Instanz der Wahrheit selbst. Hier finden wir eine ewige Ordnung, die unserem Leben nicht nur vorübergehenden Sinn, sondern ewige Bedeutung verleiht. Im Verhältnis zu Gott löst sich die Leere nicht einfach auf. Sie wird zu einem Raum für die Begegnung mit dem Transzendenten. Was zunächst als Gefühl der Leere erschien, enthüllt sich vielleicht als tiefe Sehnsucht nach dem Göttlichen. Diese Sehnsucht kann dann aber nur in der Hinwendung zu Gott ihre wahre Erfüllung finden, weil nur er das verkörpert, nach der sich unsere Seele von Anfang an sehnt.

Inmitten der modernen Welt aber, wird Gottes Wort nicht mehr gehört – nicht, weil es verstummt wäre, sondern weil es im Lärm untergeht. Überall Bildschirme, Werbung und ständige Reize – wie auf einem Jahrmarkt. Dazu verstärken Filme, soziale Medien, blinkende Lichter und das unaufhörliche Dröhnen von Unterhaltung, Musik und Vergnügen den Lärm der unser Leben durchdringt. Dabei werden immer neue Mittel gefunden, das Geräusch und die Ablenkung zu verstärken. Selbst die unbedeutendsten Mitteilungen werden mit größter Hast und Reichweite verbreitet, und das, was gesagt wird, verliert zunehmend an Tiefe. Die Welt ist voll von Geschwätz, das bereitwillig aufgenommen wird, während echte Stille kaum noch einen Raum findet. Schweigen aber, ist die Voraussetzung für eine wirkliche Begegnung mit dem Göttlichen. Ohne Schweigen bleibt Gottes Wort ungehört, selbst wenn es noch so laut gerufen wird.

Und so werden wir weitermachen, den Lärm zu steigern und die Leere mit immer neuen Ablenkungen zu füllen – bis wir erkennen, dass sie nicht übertönt, sondern nur im Schweigen überwunden werden kann.



Externe Links:

Risingup.at: Die Viktor Frankl Lehre: Sinnfindung und ihre Bedeutung für die moderne Psychotherapie und Selbsthilfe

Psychotherapie Kiesinger: Die Logotherapie und Existenzanalyse

Stanford Encyclopedia of Philosophy: Kierkegaard

Maximilian Rieländer, Referat im Psychologiestudium: Das Wesen der Verzweiflung und ihre Stufen
nach KIERKEGAARD „Die Krankheit zum Tode“

Interne Links:

Kierkegaard: Gefangen in der Struktur von Wiederholung und Erinnerung

Kierkegaard: Selbstwerdung und Authentizität: Ein Blick auf Kierkegaards Stadien des Lebens im Zeitalter des Digitalen

Kierkegaard und das „Geschwätz“: Unauthentische Kommunikation

Sören Kierkegaards Ethik für Rebellen: Radikale Ethik des Einzelnen

One Comment

  • Andreas Pieper

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    Ihr Artikel spricht mich durchaus an.
    Nach jahrelanger und intensiver Beschäftigung mit Weltanschauungen fehlt mir aber jetzt jede Möglichkeit einer Antwort.
    Was bleibt, ist nur noch Ratlosigkeit.
    Auch im Schweigen und in der Stille kommen mir nur noch Verlassenheit und Willkür zu.
    Das alles nach dem Tod meines Mannes.
    Ich habe eine Suche aufgegeben.
    Dennoch danke ich Ihnen für den Artikel.
    Mit freundlichem Gruß
    Andreas Pieper

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