Gegenwärtigkeit
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Achtsamkeit,  Existenzphilosophie,  Stoizismus

Der Moment: „Gegenwärtigkeit“ in Existenzialismus, Stoizismus und Achtsamkeit

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Lesedauer 8 Minuten

Die Tiefe des Moments und warum wir uns nicht zu sehr um die Zukunft sorgen sollten

Ich habe in meinem Leben viele Katastrophen erlitten, einige davon sind sogar eingetreten.“

Mark Twain

Dieses ironische Zitat von Mark Twain verdeutlicht eine interessante menschliche Neigung – die Tendenz nämlich, sich intensiv mit Sorgen über die Zukunft zu beschäftigen, selbst wenn viele der Befürchtungen in Wirklichkeit nie eintreten werden. Gerade in dieser heutigen, sich schnell wandelnden Zeit, in der auch die Zukunft immer unsicherer erscheint ist es ein humorvoller aber zugleich auch mahnender Hinweis. Zu dem Gefühl einer unsicheren Zukunft, gesellt sich ein scheinbar grenzenlos erscheinender Horizont an Möglichkeiten, der uns fortwährend vor die Wahl stellt und Entscheidungen von uns verlangt. Mit dieser Ausgangslage im Rücken verwundert es nicht, wenn Fragen wie „Was wäre wenn, (…ich mich anders entscheiden hätte)“ in den Fokus rücken oder sich Menschen zunehmend mit Zukunftssorgen herumschlagen. Während derartige Gedanken gelegentlich und im Rahmen einer bewussten Selbstreflexion durchaus nützlich sein können, birgt hingegen ein ständiges „Abdriften“ in die Welt der verpassten Chancen oder Ängste die Gefahr, den Moment aufs Spiel zu setzen.

Schlimmer noch, Ängste, Sorgen oder verpasste Momente können zu quälenden Begleitern werden, die uns daran hindern, das volle Potenzial des Augenblicks zu erfassen. Es ist, als ob wir durch die endlose Betrachtung von dem „was gewesen sein könnte“ und dem „was noch kommen mag“ die unmittelbare Erfahrung des Lebens verpassen. Diese Fixierung auf Vergangenheit und Zukunft kann uns in einen Zustand chronischer Unzufriedenheit und Entfremdung von unserem wahren Selbst führen. Es entsteht ein Teufelskreis aus Grübeln und Bedauern, der uns von der reichen Erfahrung des gegenwärtigen Moments ablenkt.

Existenzialismus, Stoizismus und die Achtsamkeitslehre bieten unterschiedliche Perspektiven auf die Bewältigung dieser existenziellen Herausforderungen. Indem wir lernen, unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu richten, so das Versprechen, können wir ein erfüllteres Leben führen, frei von der Last unnötiger Ängste und quälender Spekulationen.

Mehr Gegenwärtigkeit

Anstatt uns mit Fragen zu beschäftigen auf die wir ohnehin keine Antworten erhalten werden, anstatt unsere Ressourcen darauf zu verschwenden vergangenem nachzutrauern oder uns zukünftige Szenarien auszumalen, plädieren unterschiedliche Denkrichtungen wie die Existenzphilosophie, Stoizismus oder die Achtsamkeitslehre für mehr Gegenwärtigkeit.

Sie lehren, dass die Anerkennung und Wertschätzung des gegenwärtigen Moments nicht nur eine Frage der mentalen Disziplin, sondern auch ein Weg zu Glück und innerer Ruhe ist.

Indem wir lernen, im Hier und Jetzt zu leben, können wir nicht nur den Reichtum jedes Moments voll ausschöpfen, sondern auch eine tiefere Resilienz gegenüber den Unwägbarkeiten des Lebens entwickeln, gerade weil wir uns nicht mit der Last der Zukunft beladen.

Die „Gegenwärtigkeit“ im Existentialismus

Freiheit

Das Konzept der Gegenwärtigkeit ist, wenn auch oft nicht explizit so bezeichnet, tief im existenzphilosophischen Denken verwurzelt. Der Grund liegt in einer schlichten aber ganz wesentlichen Erkenntnis: Die Gegenwart ist der einzige Raum, der uns erlaubt, unser Leben aktiv zu gestalten. Vor allem diese Gestaltung des eigenen Lebenswegs, die Freiheit uns auf etwas hinzuentwerfen ist ein zentraler Gedanke der Existenzphilosophie.

Kierkegaard

Für den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard und „Vater des Existentialismus“ bildet die Wahl, das bewusste Entscheiden und Handeln in der Gegenwart das Fundament der authentischen Existenz. Diese Wahl – eine Offenbarung von Freiheit überhaupt – ermöglicht es uns, über die Schranken von Vergangenheit und Zukunft hinauszuschreiten und unser echtes Selbst zu entfalten. Kierkegaard lehrt uns, dass jede Entscheidung, die wir treffen, und jede Handlung, die wir ausführen, nicht nur ein Ausdruck unserer individuellen Freiheit ist, sondern auch eine Bestätigung unserer Verantwortung gegenüber unserem eigenen Selbst.

Indem wir uns für das Hier und Jetzt entscheiden, begegnen wir dem Leben nicht als passive Beobachter, sondern als aktive Gestalter unserer Existenz. In der Wahl sieht Kierkegaard somit nicht nur eine Handlung der Selbstbestimmung, sondern auch einen Akt der Selbstschöpfung. Mit jeder Entscheidung, die wir treffen, bejahen wir nicht nur unsere Freiheit, sondern auch die Möglichkeit, uns selbst neu zu erfinden und unser Leben nach unseren eigenen Werten und Überzeugungen zu gestalten. Es ist dieser Prozess der ständigen Selbstbestimmung, der uns die Freiheit gibt, jenseits der Begrenzungen vergangener Erfahrungen und zukünftiger Ängste zu leben.

Heidegger

Martin Heidegger, ein weiterer zentraler Denker der Existenzphilosophie, erweitert diesen Gedanken durch sein Konzept des „Daseins“, das immer schon in der Welt ist und sich durch Zeitlichkeit auszeichnet. Für Heidegger ist die Sorge um die Zukunft ein grundlegender Modus des Daseins, doch er warnt davor, dass eine übermäßige Fixierung auf Zukünftiges, uns aus dem „Sein-zum-Tode“, einem authentischen Bezug zur eigenen Endlichkeit und damit zur Gegenwärtigkeit, herausführt. Dieser Begriff mag zunächst düster daherkommen, doch Heidegger versteht darunter die Anerkennung unserer Endlichkeit, die uns paradoxerweise zu einem authentischeren Leben führt. Er macht deutlich, dass die echte Anerkennung unserer zeitlichen Existenz uns dazu bringt, jeden Moment als wertvoll zu betrachten und ihn vollständig zu leben, anstatt in der Paralyse durch die Angst vor dem, was kommen mag, gefangen zu sein (Heidegger 1967, S. 372 ff.)

Jean Paul Sartre

Jean-Paul Sartre, ein prominenter Vertreter des Existenzialismus, argumentiert, dass die Zukunft, obwohl sie durch unsere gegenwärtigen Entscheidungen gestaltet wird, niemals vollständig vorhersehbar oder kontrollierbar ist. Das Besorgnis um die Zukunft kann daher zu einer Form der „mauvaise foi“ (schlechter Glaube) führen, einer Selbsttäuschung, die entsteht, wenn wir unsere Freiheit und Verantwortung für unsere gegenwärtigen Entscheidungen leugnen.

Sartres Ablehnung des Determinismus unterstreicht diesen Punkt: Die Vorstellung, dass wir ohnehin nichts ändern können, ist eine Flucht vor der Freiheit. Er betont, dass die Leugnung der eigenen Freiheit darauf beruht, sich einzureden, man könne gegen die Gegebenheiten ohnehin nichts ausrichten. Dies steht im Kern seiner Philosophie, die besagt, dass unsere Existenz der Essenz vorausgeht, wir also zunächst existieren und uns erst dann auf etwas hin entwerfen. Sartre zufolge entfaltet sich diese Freiheit nur in der Gegenwart, und nur durch das Akzeptieren dieser Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung können wir authentisch existieren (Psychology Today 2023).

Die Gegenwärtigkeit im Stoizismus

Die stoische Philosophie, vertreten durch Denker wie Seneca oder Epiktet bietet ebenfalls wertvolle Einsichten zum Thema Gegenwärtigkeit und zur Bewältigung von Sorgen um die Zukunft.

Seneca

„In drei Zeitspannen zerfällt das Leben: in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Davon ist die Zeit, die wir gerade durchleben, vergänglich, die, die wir noch zu leben haben, ungewiss, und nur die, die wir durchlebt haben, uns sicher“ (Seneca, „De brevitate vitae“, S. 20-21).

In dieser Passage unterstreicht Seneca die flüchtige Natur der Gegenwart und die Ungewissheit der Zukunft, während er gleichzeitig die Bedeutung betont, sich nicht von Sorgen über zukünftige Ereignisse beherrschen zu lassen. Seneca erinnert uns daran, dass die Vergangenheit das Einzige ist, was uns sicher ist, und mahnt daher, die Gegenwart zu schätzen und nicht in Ängsten über die Zukunft zu verharren.

Darüber hinaus macht Seneca deutlich, dass das Leben der Vielbeschäftigten sehr kurz ist, nicht weil sie nicht genug Zeit haben, sondern weil sie nicht in der Lage sind, den Moment zu schätzen und sich stattdessen von der Sorge um die Zukunft überwältigen lassen. Er argumentiert, dass ein sorgenfreier, ruhevoller Geist in der Lage ist, alle Lebensabschnitte zu durchwandern, ohne von der Angst vor dem, was kommen mag, beeinträchtigt zu werden​​.

Senecas Betrachtungen bieten eine wertvolle Perspektive auf die Bedeutung der Gegenwärtigkeit und den Umgang mit Zukunftsängsten, indem sie die Wichtigkeit unterstreichen, das Hier und Jetzt zu leben und die Vergänglichkeit des Moments zu akzeptieren.

Epiktet

Epiktet, vermittelt eine ähnliche Botschaft in seinem „Handbüchlein der Moral“. Er legt dar, dass nicht die äußeren Ereignisse uns beunruhigen, sondern unsere Meinungen über diese Ereignisse. Was die Sorgen um die Zukunft angehen, lehrt Epiktet, dass unsere Ängste oft auf Wünschen nach Dingen beruhen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. „Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen über die Dinge. (Epiktet, „Handbüchlein der Moral“, S. 19).

Epiktet hebt hervor, wie oft wir in der Falle unserer eigenen Vorstellungen über die Zukunft gefangen sind. Wir malen uns Szenarien aus, die von unseren Ängsten gezeichnet sind, und neigen dazu, das Schlimmste zu erwarten, selbst wenn solche Ausgänge weit von der wahrscheinlichen Realität entfernt sind. Diese Tendenz, sich katastrophale Ergebnisse vorzustellen, sagt mehr über unsere innere Verfassung als über die objektive Zukunft aus.

Durch das Hinterfragen und Neubewerten unserer Annahmen über das, was kommen mag, können wir lernen, mit einer ruhigeren, gelasseneren Einstellung durch das Leben zu gehen. Die Kunst, sich nicht von zukünftigen Sorgen überschatten zu lassen, sondern im klaren Licht des gegenwärtigen Moments zu stehen, ist eine Fähigkeit, die wir entwickeln können – eine Fähigkeit, die uns nicht nur inneren Frieden, sondern auch eine tiefere Verbindung zum Leben selbst bietet.

Epiktet betont die Macht der Perspektive und ermutigt uns, unsere Einstellungen und Bewertungen der Realität zu überdenken. Indem wir uns von der Furcht vor zukünftigen Unsicherheiten befreien und unsere Meinungen über die Dinge, die uns beunruhigen könnten, anpassen, können wir eine tiefere Gegenwärtigkeit und Gelassenheit im Leben finden.

Achtsamkeit

Achtsamkeit

Achtsamkeit, eine Praxis, die in buddhistischen Lehren tief verwurzelt ist und in der modernen Psychologie zunehmend Anerkennung findet, betont ebenfalls die Wichtigkeit, im Hier und Jetzt präsent zu sein und den gegenwärtigen Moment mit voller Aufmerksamkeit und ohne Urteil zu erfahren.

Ähnlich wie die existenzphilosophischen und stoischen Ansätze, lehrt Achtsamkeit, dass viele unserer Sorgen und Ängste aus unseren Gedanken über Vergangenheit und Zukunft entstehen. Indem wir lernen, unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick zu lenken und diesen Moment bewusst wahrzunehmen, können wir uns von den Fesseln dieser Sorgen befreien. Achtsamkeit hilft uns zu erkennen, dass Gedanken und Gefühle vorübergehende Zustände sind und eben nicht notwendigerweise die Realität widerspiegeln. Diese Erkenntnis ermöglicht es uns, mit unseren Gedanken und Emotionen auf eine gesündere Art und Weise umzugehen.

Die Praxis der Achtsamkeit fördert zudem die Wertschätzung des gegenwärtigen Moments, unabhängig davon, ob dieser Moment als positiv oder negativ bewertet wird. Sie lehrt uns, das Leben in all seinen Facetten anzunehmen, und hilft uns, eine tiefere Verbindung zu uns selbst und unserer Umwelt zu entwickeln. Dies führt oft zu einer größeren inneren Ruhe, erhöhter Resilienz gegenüber Stress und einer allgemein verbesserten Lebensqualität.

Schlussbetrachtung

Natürlich beschäftigen uns Fragen über unsere Zukunft. Wir machen uns Gedanken darüber, wie unser Leben und das unserer Kinder wohl verlaufen wird. Wir sorgen uns um unsere Gesundheit und betreiben dafür eine rege Vorsorge. Uns beschäftigen Fragen über unsere eigenen Wünsche. Welche Schwierigkeiten und Herausforderungen warten auf mich und meine Familie? Diese Erwartungen und Vorstellungen über das Leben können dabei so herausfordernd wie erdrückend sein.

Obwohl wir die Zukunft durch unsere gegenwärtigen Entscheidungen gestalten, ist sie weder vorhersehbar noch kontrollierbar. Diese Sorge um die Zukunft kann leicht überwältigend werden und uns davon abhalten, das Gegenwärtige zu schätzen. Doch wie die Konzepte von Kierkegaard, Heidegger, Seneca, Epiktet und der Achtsamkeitslehre nachvollziehbar aufzeigen, liegt die Kraft des Lebens eben nicht im Versuch das Unvorhersehbare vorherzusagen, sondern in der Fähigkeit, den gegenwärtigen Moment in all seiner Fülle zu erleben.

Sie mahnen uns zu erkennen, dass unsere Sorgen um die Zukunft oft nur in unseren eigenen Vorstellungen und Meinungen verwurzelt sind, nicht in den Ereignissen selbst. Durch das Bewusstsein, dass wir die Interpretation unserer Lebensumstände wählen können, eröffnet sich uns die Möglichkeit, eine tiefere Gelassenheit und Zufriedenheit zu finden. Diese Perspektiven lehren uns, dass nur das Hier und Jetzt der Raum ist, in dem wir wirkliche Freiheit und Selbstverwirklichung erfahren können.

In der Anerkennung der Unvorhersehbarkeit des Lebens und der Akzeptanz, dass die Zukunft immer ein Mysterium unserer Welt bleiben wird, finden wir zugleich eine befreiende Wahrheit. Statt uns in den Schatten dessen zu verlieren, was noch kommen mag, oder in der Melancholie dessen, was hätte sein können, motiviert uns die Gegenwärtigkeit, den Moment zu schätzen. Es ist ein Aufruf, im Jetzt zu leben, mit Offenheit für die unendlichen Möglichkeiten, die jeder Moment birgt.

Letztlich ist es diese bewusste Entscheidung für die Gegenwärtigkeit, die uns erlaubt, ein authentisches und erfülltes Leben zu führen, frei von Einflüssen, die wir weder vorhersehen noch beherrschen können – die im Gegenzug aber uns beherrschen.

So wird die philosophische Betrachtung der Tiefe des Moments und der Sorge um die Zukunft zu einer lebensbejahenden Praxis, die uns lehrt, mit Weisheit, Mut und Hoffnung in das Unbekannte zu hineinzuschreiten.


Literaturverzeichnis

Capelle, Wilhelm, Hrsg. Handbuchlein der Moral mit Anhang ausgewählte Fragmente verlorener Diatriben. Jena: Eugen Diederichs, 1906.

Heidegger, M. (2005). Sein und Zeit (19. Aufl.). Max Niemeyer Verlag.

Seneca. (2003). Die Kürze des Lebens/De brevitate vitae: Lateinisch / Deutsch (1. Aufl.). Bibliographisches Institut.

https://www.psychologytoday.com/us/blog/hide-and-seek/202310/jean-paul-sartres-bad-faith-the-danger-of-denying-freedom, Abgerufen: 21.02.2024

https://plato.stanford.edu/entries/kierkegaard/ , Abgerufen: 22.04.2024

https://plato.stanford.edu/entries/sartre/ , Abgerufen: 22.02.2024


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