Gegenwärtigkeit: Schweigen und Sein – die Flüchtigkeit des Moments
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Gegenwärtigkeit: Schweigen und Sein – die Flüchtigkeit des Moments jenseits von Denken und Sprache
Nachdem Ihnen der Titel zu diesem Beitrag angezeigt wurde, haben Sie sich bestimmt gefragt, ob Sie weiterscrollen oder ob Sie weiterlesen wollen. Ein solcher Gedanke, der darüber entscheidet, ob Sie beabsichtigen dieses oder jenes zu tun, hat immer eine zeitliche Präferenz. In diesem Fall, ist er in die Zukunft gerichtet. Ein Plan etwa, oder ein Vorhaben, eine Absicht etwas bestimmtes zu tun. An diese erste Überlegung, schließt sich vielleicht gleich an, dass Sie sich daran erinnern, vor einiger Zeit, einen interessanten Artikel über „Gegenwärtigkeit“ gelesen zu haben und weil dieses Thema Ihr Interesse geweckt hat, entscheiden Sie sich, weiterzulesen. Auch dieser Gedanke hat eine zeitliche Präferenz. Er ist in die Vergangenheit gerichtet. Ein Erinnern an etwas bereits Geschehenes.
Für den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard ist das gedankliche Durchgehen, ob rückwärts in die Vergangenheit oder vorwärts in die Zukunft, immer ein Erinnern. Denken ist für ihn ein ständiges schweifen zwischen dem, was war, und dem, was wir beabsichtigen. Es schafft eine Bewegung, die uns unweigerlich von der Gegenwärtigkeit fernhält – nicht, weil wir sie bewusst meiden, sondern weil das das Denken selbst, sie nicht zu fassen bekommt. Die Gegenwärtigkeit entzieht sich dem Denken, das stets in der Zeitlichkeit verhaftet bleibt.
Nun vollzieht sich das Denken aber in der Sprache. Sprechen wir, könnten wir auch sagen, dass wir laut denken. Doch Denken und Sprechen sind mit dem Moment nicht vereinbar. Wenn wir sprechen, sprechen wir entweder über Vergangenes oder über Zukünftiges. Erzählen Sie mir etwas über sich, dann erinnern Sie sich rückwärts, wenn Sie aus Ihrer Jugend berichten, oder sie erinnern sich vorwärts, wenn Sie von Ihren Vorhaben erzählen (um diesen Konzept umfassend zu verstehen, empfehle ich Ihnen diesen Artikel). Nun mögen Sie vielleicht einwenden, dass es auch Sätze gibt, die den Augenblick betreffen — etwa wenn Sie sagen: „Ich fühle mich gut“. Doch es wäre ein Irrtum zu glauben, dass das Gesagte und das Gemeinte tatsächlich übereinstimmen.
Wenn Sie mir sagen, dass Sie sich gut fühlen, beziehen Sie sich nicht auf den reinen Moment des Fühlens. Sie tun dies vielmehr, weil Sie sich bisher gut gefühlt haben und weil Sie erwarten, sich auch in unmittelbarer Zukunft gut zu fühlen. Hinzu kommt der Umstand, dass das Sprechen immer zeitlich nachgelagert ist, selbst wenn sie das Sprechen auf einen bestimmten Moment bezieht. Die vermeintliche Gleichzeitigkeit zwischen Sprechen und dem Moment ist auch deshalb nicht zu halten, weil sie bevor sie etwas Sprechen, bereits zuvor den Entschluss gefasst haben müssen. So bleibt der wahre Moment selbst in einer Aussage, die zunächst so gegenwärtig erscheint, unverfügbar. In der reinen Gegenwärtigkeit wäre das Gefühl einfach da, ohne dass wir es benennen oder reflektieren würden. Sobald wir es aussprechen, sind wir bereits im Modus des Erinnerns — nach rückwärts oder eben nach vorwärts.
Kierkegaard zeigt uns hier, dass das Denken immer ein Zurückblicken oder ein Vorwegnehmen ist, das sich im Sprechen vollzieht. Der Moment selbst bleibt dem Denken und Sprechen aber verborgen.
Schweigen
Sprechen wir, dann nehmen wir also Bezug auf Vergangenes oder Zukünftiges und der Moment entwischt uns wie ein scheues Reh. Beharrlich entzieht er sich dem Denken und Sprechen. Und gerade, weil wir heute sehr viel sprechen und sehr viel Denken, verlieren wir oft den Bezug zum Moment.
Im Schweigen aber, wenn die Worte verstummen und das Denken zur Ruhe kommt, scheint der Moment fast greifbar zu werden. Ein Festhalten ist nach wie vor nicht möglich, aber ein stilles Erleben, das sich jeder sprachlichen Beschreibung entzieht. Denken und Sprechen erzeugen leicht den Schein, für Anwesenheit und Gegenwärtigkeit zu stehen. Wer schweigt, steht schnell im Verdacht, passiv oder eben nicht anwesend zu sein. Schweigen aber ist keine Abwesenheit, sondern eine Präsenz, die uns mit der Gegenwärtigkeit des Augenblicks versöhnt, weil sie nichts fordert, nichts beschreibt und nichts benennt.
Gegenwärtigkeit ist Hingabe
Sie wird heute oft und gerne gefordert: mehr Gegenwärtigkeit. Wie wir nun aber gesehen haben, ist diese Gegenwärtigkeit nicht leicht zu haben. Sie ist wie eine flinke Tänzerin, steht gerne im Mittelpunkt und sie fordert unsere volle Aufmerksamkeit. Sich dem Moment ganz hinzugeben, nicht zu Denken und zu schweigen ist wahre Gegenwärtigkeit.
Die Gegenwärtigkeit verlangt nicht weniger als alles. Sie will, dass wir aufhören zu planen, aufhören zu erinnern, aufhören zu denken und aufhören zu sprechen. Sie fordert unsere ganze Aufmerksamkeit, ungeteilt und bedingungslos. Es gibt hier keinen Raum für Halbherzigkeit. Sich der Gegenwärtigkeit hinzugeben, bedeutet, alles andere loszulassen – Gedanken, Sprache, Selbstreflexion.
In diesem Moment, wenn die Worte verstummen und das Denken zur Ruhe kommt, können wir sie vage greifen. Doch auch dann bleibt sie ein flüchtiger Gast, der kommt und rasch verschwindet, wenn wir ihn festhalten wollen. Aber wir kommen ihm näher, dem Moment, beobachten ihn, schauen zu, wie er eins ums andere an uns vorüberzieht.
Es ist das Sein selbst, das in der schweigsamen Stille der Gegenwart spürbar wird – rein, ungeteilt und jenseits aller Worte.
Externe Links:
Wikipedia – Achtsamkeit (mindfuless)
Planet Wissen – Achtsamkeit