Gott Wahrheit
Philosophie

Gottes andere Wahrheit

Lesedauer 2 Minuten

Wir Menschen neigen dazu, Gott mit unseren Maßstäben zu messen. Wir fragen, warum er Leid zulässt, warum er nicht eingreift, warum er schweigt, wenn wir nach Antworten suchen. Was, wenn all diese Fragen von einer grundlegenden Fehlannahme ausgehen? Was, wenn Gottes Wahrheit nicht die unsere ist, seine Wahrnehmung nicht die unsere ist, seine Prioritäten nicht mit unseren übereinstimmen?

Wir begreifen Intelligenz als Sprache, Logik, Reflexion – als das, was uns Menschen ausmacht. Doch wäre ein göttliches Bewusstsein an diese Begrenzungen gebunden? Wäre es nicht viel eher eine Intelligenz, die sich jenseits unserer Kategorien bewegt, die nicht nach unseren Gesetzen urteilt, sondern nach einer Ordnung, die wir nicht erfassen können?

Vielleicht ist Gott eine Person, doch eine, deren Blick sich nicht in den kleinen Fragen unserer Existenz verliert, sondern auf das Ganze gerichtet ist. Er liebt, aber nicht so, wie wir uns Liebe vorstellen. Er handelt, aber nicht so, wie wir es erwarten. Vielleicht gibt es für ihn kein Problem des Leids, weil das, was wir Leid nennen, in eine größere Notwendigkeit eingebettet ist, die unser Denken nicht durchdringt.

Das Theodizee-Problem entsteht aus dem Irrtum, dass Gott die Welt so sehen müsse, wie wir sie sehen. Doch wenn sein Blick unendlich weiter ist als unserer, dann sind unsere Fragen vielleicht nicht falsch, aber sie greifen zu kurz. Wir versuchen, mit den Augen des Menschen das zu verstehen, was nur mit den Augen Gottes zu begreifen wäre – und verzweifeln daran.

Doch gerade in dieser Unbegreiflichkeit liegt eine Möglichkeit des Vertrauens: Dass Gottes Wahrheit nicht die unsere ist, bedeutet nicht, dass sie nicht gut ist. Es bedeutet nur, dass sie sich uns nicht in den einfachen Formen erschließt, in denen wir Wahrheit zu erkennen glauben.

Aber wenn Gottes Werk ein Werk der Liebe ist, dann können wir dennoch eine Richtung erkennen. Das Positive zu tun – den Erhalt und die Förderung des Lebens, die Achtung vor der Schöpfung, das Lieben der Welt – könnte eine universelle Ethik sein, die uns mit Gottes Plan verbindet. Diese Ethik ist nicht von Angst oder Gehorsam geprägt, sondern von einem schöpferischen Prinzip: Das Gute ist nicht nur das Unterlassen des Schlechten, sondern das bewusste Schaffen des Positiven.

Wer an Gott glaubt, kann in diesem Prinzip die Spur seiner Liebe erkennen. Wer nicht glaubt, kann es als Ausdruck einer tieferen Ordnung verstehen, die das Leben erhält und wachsen lässt. In beiden Fällen aber, bleibt der Kern derselbe:

Leben fördern. Die Welt achten. Lieben.


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