Heidegger: Das „Man“
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Heidegger: Das „Man“ und das ständige Ringen um Authentizität und Konformität
In einem vollen Raum schweigen alle, weil „man“ nicht der Erste sein will, der spricht…
Wenn ich es auf den Punkt bringen soll, dann ist das Dasein oftmals ein Kampf zwischen Authentizität und Konformität. Sie kennen das, wenn sie wieder einmal besser ihren Mund halten, um nicht anzuecken, oder sie sich in einer Gruppe wiederfinden, die eine Meinung vertritt, der sie nicht zustimmen können. Sie können aber auch an vergangene Entscheidungen denken, die eher den Erwartungen anderer entsprochen haben, als ihren eigenen Wünschen und Überzeugungen. Was wir hier erleben, ist ein existenzielles Spannungsverhältnis, von dem sie sich einfach nicht befreien können. Es ist Ausdruck unseres Daseins als einer sozialen Natur. Jemand, der sich intensiv mit diesem Problem beschäftigt hat, war Martin Heidegger.
Heidegger beschreibt dieses Spannungsverhältnis mit dem Konzept des „Man“. Dem ständigen Ringen zwischen dem eigenen Wunsch, authentisch zu sein und dem permanenten Druck, mit anderen konform zu sein. Ein ständiger Konflikt zwischen der Treue uns selbst gegenüber und der Anpassung an soziale Normen. Heidegger verweist darauf, dass echte Authentizität oft erfordert, sich von den Erwartungen und Meinungen der Masse abzugrenzen. Es geht darum, eine persönliche Haltung zu entwickeln, die über die oberflächliche Zustimmung zu dem, was „man“ tut oder „man“ denkt, hinausgeht.
Das „Man“ in Heideggers Philosophie
Heidegger beschreibt das „Man“ als eine grundlegende Dimension unserer Existenz, die das soziale Gefüge und die Normen, in die wir eingebettet sind, widerspiegelt. Das eigene Dasein wird permanent von diesem Gefüge, dem kollektiven „Man“ dominiert. Diese Dominanz zeigt sich ganz einfach darin, dass sie nicht tun und lassen können, was sie wollen, sondern sich in einer ständigen Anpassung an das „Man“ befinden. Man verhält sich eben, wie man sich verhält, man spricht wie man spricht oder man tut, was man eben so tut. Das führt oft dazu, dass eigene Präferenzen und Entscheidungen durch soziale Normen und Erwartungen ersetzt, mindestens aber von ihnen überlagert werden.
Heidegger entfaltet seine Theorie, indem er auf verschiedene Weisen eingeht, wie sich dieses Spannungsverhältnis in unserem täglichen Leben offenbart und unsere Entscheidungen und Handlungen beeinflusst. Mit jedem dieser Aspekte versucht Heidegger zu zeigen, wie das „Man“ unsere persönliche Autonomie, unsere Werte und unser tägliches Handeln durchdringt und formt.
Abständigkeit
Heidegger verwendet zunächst den Begriff der „Abständigkeit“ (Heidegger 1927, S. 126). Dieses Konzept beschreibt die menschliche Neigung, sich ständig mit anderen zu vergleichen, sei es in Bezug auf materiellen Besitz, sozialen Status, Erfolg oder andere messbare Attribute. Dieser Vergleich führt oft zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit oder des Bedürfnisses, mit anderen gleichzuziehen oder sie zu übertreffen.
Dies zeigt sich beispielsweise im Berufsleben, wo Mitarbeiter neidisch auf die Beförderung eines Kollegen schauen und sich dadurch motiviert fühlen, härter zu arbeiten. Ebenso führen soziale Medien dazu, dass Menschen ihr Leben mit den idealisierten Darstellungen anderer vergleichen, was häufig zu Unzufriedenheit führt. Auch der Drang nach den neuesten Produkten entsteht oft aus dem Wunsch, mit anderen gleichzuziehen oder einen gewissen Status zu demonstrieren.
In all diesen Fällen wird das Verhalten der Individuen von dem Wunsch geprägt, einen bestimmten sozialen „Abstand“ zu verringern oder zu vergrößern. Diese Form der „Abständigkeit“ zeigt, wie sehr unsere Wahrnehmung von uns selbst und unseren Erfolgen oft durch den Vergleich mit anderen bestimmt wird.
Durchschnittlichkeit
Im „Man“ offenbart sich Heidegger zufolge eine Durchschnittlichkeit (Heidegger 1927, S. 127). Gemeint ist damit eine Art Durchschnittsnorm oder ein Durchschnittsverhalten einer Gesellschaft. Diese Durchschnittlichkeit wirkt sich auf unsere individuellen Seinsmöglichkeiten aus, indem sie diese schlicht homogenisiert.
Denken Sie dabei an die Mode, die „man“ trägt, an Berufe, die „man“ wählt, an Erziehung und Bildung, indem „man“ Kinder in bestimmte Bildungspfade drängt die als gesellschaftlich anerkannt gelten, anstatt ihre individuellen Talente und Interessen zu fördern. Oder nehmen sie soziale Medien, in denen Menschen dazu neigen, Aspekte ihres Lebens zu veröffentlichen, die mit dem übereinstimmen, was „man“ für wünschenswert hält. Dasselbe gilt für den Konsum, der oft von Trends und von dem, was als „normal“ und „angesagt“ gilt bestimmt wird.
Öffentlichkeit
Für Heidegger ist das „Man“ das, was die Öffentlichkeit ausmacht (Heidegger 1927, S. 127). Diese regelt die alltäglichen Welt- und Daseinsauslegungen und behält immer recht, nicht wegen besserem Verständnis, sondern wegen Immunität gegenüber Unterschieden.
In unserer informationsgeprägten Zeit formen die Nachrichten die öffentliche Meinung, indem sie bestimmen, worüber gesprochen und gedacht wird. Individuelle Meinungen gehen oft in diesem Prozess unter. Politische Meinungen und Diskussionen zeigen vorherrschende Ansichten, die als allgemeingültig gelten, während abweichende Meinungen marginalisiert werden. Auch in Bildungseinrichtungen gibt es oft Druck, konforme Meinungen zu teilen.
Diese „Immunität“ der Öffentlichkeit gegenüber Unterschieden führt dazu, dass abweichende Meinungen und einzigartige Erfahrungen übergangen oder unterdrückt werden, um einen homogenen sozialen Konsens zu bewahren. Dadurch werden individuelle Stimmen und Diversität im öffentlichen Diskurs oft ignoriert.
Heidegger versteht die Öffentlichkeit nicht einfach als Gruppe von Menschen, sondern als Zustand, in dem bestimmte Meinungen und Verhaltensweisen kritiklos als gegeben hingenommen werden.
Seinsentlastung
Das „Man“ entlastet das Dasein, wie Heidegger es ausdrückt (Heidegger 1927, S. 127). Diese Seinsentlastung ist aus meiner Sicht das zentrale Konzept in Heideggers Analyse und ist auch psychologisch von Bedeutung. Dieses Konzept beschreibt, wie das „Man“ dem Individuum die Last der Entscheidungsfindung und der Verantwortung schlicht abnimmt. Zwar kann das „Man“ dem Dasein eine gewisse Leichtigkeit und Bequemlichkeit bieten, es führt aber letztlich dazu, dass die individuelle Autonomie und Authentizität untergraben wird. Es ist einfacher zu tun, was „man“ tut, denn es verspricht Konformität.
Nehmen sie berufliche Entscheidungen, die oft darauf basieren, was von der Gesellschaft als „sicher“ oder erfolgsversprechend angesehen werden. Genauso politische Meinungen. Nicht selten übernehmen Menschen politische Meinungen, die ihrem sozialen oder familiären Umfeld entsprechen, anstatt sich intensiv mit den Themen auseinanderzusetzen. Die Übernahme dieser vorgefertigten Meinungen entlastet sie von der Verantwortung, sich selbst zu informieren, eine eigene Meinung zu bilden und diese zu vertreten.
Oder nehmen sie das Konzept der Konformität ganz generell. Oft passen sich Individuen den Meinungen und Verhaltensweisen der Mehrheit an, um Konflikte zu vermeiden. Dies entlastet sie von der Notwendigkeit, eigene Standpunkte zu verteidigen oder unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Diesen Kampf, gegen die Konformität zu kämpfen, sind viele gar nicht bereit.
Die Entlastung des „Man“ zeigt sich aber auch auf einer sprachlichen Ebene. Das unpersönliche „Man“ wird häufig verwendet, um das eigene Selbst zu entlasten und Verantwortlichkeit zu umgehen. Sie kennen sicherlich Aussagen wie „Man sollte öfter Sport treiben“ statt „Ich sollte öfter Sport treiben“. Hier wird die persönliche Verantwortung auf eine allgemeine Ebene verschoben. Diese Art der sprachlichen Entlastung erlaubt es dem Sprecher, sich von der direkten Verantwortung für die Aussage oder Handlung zu distanzieren.
Durch die Verwendung des „Man“ in der Sprache wird eine Art von Anonymität und Allgemeingültigkeit geschaffen, die es dem Einzelnen ermöglicht, sich hinter kollektiven Normen und Erwartungen zu verstecken. Dies kann in manchen Situationen entlastend wirken, etwa wenn es darum geht, unangenehme Wahrheiten auszusprechen oder Kritik zu üben, ohne sich persönlich exponieren zu müssen.
Das „Man“ und die Konformität in einem extremen Kontext
Eine extreme und drastische Form des „Man“ und der damit verbundenen Konformität können wir im Deutschland der 1930er-Jahre beobachten. Die Rolle der Konformität und des Gruppenzwangs im Dritten Reich, insbesondere im Zusammenhang mit der Judenverfolgung, bietet das vielleicht tiefgreifendste Beispiel für das, was Heidegger als „Seinsentlastung“ beschreibt. Im Nazi-Deutschland wurde das kollektive „Man“ durch Propaganda und autoritäre Strukturen definiert. Individuelle Meinungen und moralische Überzeugungen wurden durch die Ideologien und Verhaltensnormen ersetzt.
Die Nazis arbeiteten daran, in der deutschen Gesellschaft einen Konsens zu schaffen, indem sie Organisationen für Arbeiter, Frauen, Jugendliche und andere Gruppen gründeten, um ein Gefühl der Verbindung zur Nazi-Regierung zu schaffen. Sie nutzten Propaganda, um Loyalität zu ihren Ideen zu erzeugen. Befehle zur Judenverfolgung und -vernichtung wurden oftmals nicht nur aus eigener Überzeugung, sondern vielmehr aus Gründen der Konformität ausgeführt.
Diese Art der Konformität und des Gruppenzwangs entlastete das Individuum von der Verantwortung, eigene moralische Entscheidungen zu treffen. Stattdessen wurde das Verhalten durch die kollektiven Normen und das Streben nach Zugehörigkeit zu einer, als überlegen angesehenen Gruppe geprägt (facinghistory.org 2023).
Das „Man-Selbst“ vs. das „eigene Selbst“
Heidegger unterscheidet zudem zwischen dem „Man-Selbst“, das die alltägliche und unauffällige Identität repräsentiert und dem „eigenen Selbst“, das eine existenzielle Modifikation des „Man“ darstellt und sich durch Authentizität und Selbstbestimmung auszeichnet (Heidegger 1927, S. 129). Beide Konzepte des selbst, spiegeln die Spannung zwischen der geformten sozialen Identität und der authentischen und individuellen Identität wider.
Dazu ein kurzes Beispiel: Eine Person, die einen gesellschaftlich akzeptierten, aber ungeliebten Beruf ausübt, verkörpert das „Man-Selbst“, während ein Künstler, der seiner individuellen Vision folgt, das „eigene Selbst“ repräsentiert.
Sie können das beliebig auf sämtliche Lebensbereiche ausweiten. Sie können das „Man-selbst“ in sozialen Medien beobachten, in denen sich viele Menschen in einer Weise präsentieren, die populären Trends oder Erwartungen entsprechen. Sie können das „eigentliche selbst“ in persönlichen Entscheidungen beobachten, wenn jemand etwa unpopuläre oder unkonventionelle Entscheidungen trifft, weil sie ihren tiefsten Überzeugungen und Werten entsprechen. Genau hier steht nämlich das individuell gewollte im Vordergrund, unabhängig von sozialen Erwartungen oder Konventionen.
Kritik an Heideggers Sichtweise
Heideggers „Man“ ist in der Philosophie nicht unumstritten. Es repräsentiert die Art und Weise, wie Menschen gewöhnlich in einer Art anonymen, unreflektierten Existenz leben, geprägt durch gesellschaftliche Normen und Erwartungen. Authentizität bei Heidegger entsteht durch eine Art Erwachen aus diesem Zustand, eine Loslösung von der anonymen Existenzweise des „Man“ hin zu einem authentischen, selbstbestimmten Dasein. Der französische Existentialist Jean-Paul Sartre sieht hingegen Authentizität als direkten Ausdruck der individuellen Freiheit. Für ihn ist Authentizität eng verknüpft mit der Übernahme von Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und Handlungen. Das Individuum ist bei Sartre grundsätzlich frei und muss sich dieser Freiheit bewusst werden. Authentizität entsteht somit nicht durch ein Entkommen aus dem „Man“ sondern durch das bewusste und verantwortliche Ausüben der eigenen Freiheit.
Der französische Philosoph Emmanuel Levinas kritisierte Martin Heidegger vor allem deshalb, weil er in dessen Philosophie eine Vernachlässigung ethischer Fragen sieht, die sich aus der Beziehung zu anderen Menschen ergeben. Für Levinas liegt die Essenz der Philosophie in der ethischen Verantwortung und der Begegnung mit dem Anderen, einem Aspekt, den er bei Heidegger als unterbewertet empfindet. Er sah in Heideggers Fokus auf das Sein und dessen Konzept des „Man“ eine Tendenz, die Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit des Anderen zu übersehen und die ethische Dimension menschlicher Existenz zu vernachlässigen.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas kritisiert an Martin Heideggers Konzept des „Man“, dass es die wichtige Rolle der Sprache und des Gesprächs zwischen Menschen vernachlässigt. Habermas meint, dass Heidegger zu wenig darauf eingeht, wie wir durch Sprechen und Diskutieren mit anderen unsere eigene Meinung bilden und ausdrücken können. Er sieht in Heideggers Sichtweise eine zu starke Betonung der Anpassung an die Gesellschaft, ohne zu berücksichtigen, dass Menschen auch durch Gespräche die Gesellschaft verändern und sich persönlich weiterentwickeln können. Für Habermas stellt das „Man“ eine zu starke Vereinfachung und undifferenzierte Sichtweise auf das kollektiv dar. Heidegger betrachtet das „Man“ vorrangig als ein anonymes, gesellschaftliches Ganzes, wobei die Komplexität und Vielfalt individueller Perspektiven und kommunikativer Interaktionen vernachlässigt werden.
Abschließende Gedanken
Das historische und eindringliche Beispiel des Dritten Reiches zeigt, wie mächtig und gefährlich das Konzept des „Man“ in extremen Formen werden kann, wenn individuelle Verantwortung und moralische Autonomie durch die Ideologie eines autoritären Regimes ersetzt werden. Es verdeutlich die Bedeutung der kritischen Reflexion und der Wahrung der individuellen Verantwortung in jeder Gesellschaft.
Aber nicht jedes Beispiel ist derart extrem. Heideggers Analyse des „Man“ bietet tiefe Einblicke in die soziale Eingebundenheit des Daseins. Im Kern sieht Heidegger das „Man“ als Gefahr für die Authentizität und Autonomie des Menschen. Auch wenn ich Heideggers Analyse, insbesondere über eine gewisse Tendenz zur Entindividualisierung recht gebe, fehlt mir trotzdem noch eine positive Perspektive.
Denn drehen wir es einmal um. Denken wir uns eine Gesellschaft, die kein „Man“ kennt. Wie könnte ein Zusammenleben gelingen? Ohne dieses „Man“ fehlen vielleicht gemeinsame Normen, die das soziale Miteinander erleichtern und strukturieren. Eine solche Gesellschaft könnte von einer Überbetonung der Individualität gekennzeichnet sein, wo jeder ausschließlich nach seinen eigenen Vorstellungen handelt, ohne Rücksicht auf gemeinschaftliche Bedürfnisse oder Standards. Dies könnte zu einem Mangel an sozialer Kohäsion und Verständnis führen, was wiederum das Risiko von Missverständnissen und Konflikten erhöht. So eine Gesellschaft der Individualität wäre kaum zusammenzuhalten.
Das „Man“ kann also, trotz seiner Einschränkungen, als ein notwendiger Bestandteil des sozialen Lebens betrachtet werden. Es schafft einen Rahmen, innerhalb dessen sich das individuelle Leben abspielt und interagiert. Dieser Rahmen bietet Orientierung, Sicherheit und eine gemeinsame Basis. So betrachtet, kann das „Man“ auch als etwas Positives angesehen werden – als ein Element, das dazu beiträgt, ein geordnetes und harmonisches Zusammenleben zu ermöglichen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Heideggers Analyse des „Man“ uns dazu anregt, die Balance zwischen individueller Authentizität und sozialer Konformität zu reflektieren. Es fordert uns auf, das Spannungsfeld zwischen persönlicher Freiheit und sozialer Eingebundenheit zu erkennen und anzuerkennen, dass beide Aspekte wesentliche Teile unserer menschlichen Existenz sind. Es bleibt also dabei, das Dasein ist ein ständiger Kampf um die richtige Balance zwischen Authentizität und Konformität.
Literaturverzeichnis:
Heidegger, M. (2005). Sein und Zeit (19. Aufl.). Max Niemeyer Verlag.
https://www.facinghistory.org/resource-library/conformity-consent-national-community, abgerufen 25.12.2023
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