
Heidegger und die Technik: Aufruf zur Gelassenheit
Heidegger und die Technik: Aufruf zur Gelassenheit
Können Sie sich vorstellen, eine Woche lang, ohne Ihr Smartphone zu leben? Für viele klingt das bereits wie eine Zumutung. Schließlich ist das Smartphone unser Portal zur Welt. E-Mails, Social Media, Surfen im Netz, News, KI, Aktienkurse und Krypto, Musikstreaming, Banking oder Spiele. Die Liste an Apps und Funktionen wird täglich länger, und je mehr wir davon nutzen, desto höher steigt unsere Bildschirmzeit. Damit aber nicht genug. Hinzu kommen: Fernsehen, Radio, PC, Laptop, Tablet, VR-Brillen, Smartwatches, Spielkonsolen, smarte Zahnbürsten – die Aufzählung an technischen Alltagsgeräten lässt sich schier endlos fortsetzen. Martin Heidegger (1889–1976) sah voraus, wie tiefgreifend Technik unser Dasein beeinflussen könnte – obwohl er selbst weit vor der Erfindung des Smartphones lebte. In seinen Schriften (vgl. Sein und Zeit, 1927; Die Frage nach der Technik, 1953) spricht er von einem „Verfangensein“ in der Technik, das uns zu beherrschen droht. Es scheint, als hätte er die heutige Entwicklung schon erahnt. Wie es dazu kommen konnte und was Heidegger unter „Gelassenheit“ im Umgang mit moderner Technik verstand, soll Thema dieses Essays sein.
„Rechnendes Denken“ vs. „Besinnliches Denken“
Heidegger sprach in seiner Vorlesung Was heißt Denken? (1951/52) vom „rechnenden Denken“ als einer Denkweise, die kalkuliert, berechnet und die Welt in eine technisch-rationale Struktur zwingt. Ob wir mit Technik Pläne schmieden, die Zukunft abschätzen oder Algorithmen folgen – all das geschieht im Modus der Berechnung. Das Smartphone dient als Werkzeug zur Quantifizierung: Schritte zählen, Gesundheitsdaten, Likes, Aufrufe von Seiten oder Beiträgen, berufliche Kontakte und vieles mehr. Fitness-Apps entscheiden, ob unser Tag „erfolgreich“ oder „gescheitert“ ist. Der Schlaftracker verrät uns, ob wir gut oder schlecht geschlafen haben und auf was wir uns einstellen können, wenn unsere Body-Batterie morgens nach dem Aufstehen nur 70% beträgt. Der Kalorienrechner dokumentiert unseren Kalorienumsatz. Auf Instagram wird empirisch präzise gemessen, wie beliebt unser Beitrag ist. Auf LinkedIn, Xing oder Facebook können wir anhand der Anzahl der Freunde und Follower sehen, wie beliebt jemand ist. Auf YouTube werden Beiträge durch den Algorithmus nach Übereinstimmung zu unseren Interessen vorgeschlagen. Bei all dem „rechnenden Denken“ geht es zumeist um Wissen und Verstehen, um daraus zukünftig irgendeinen Vorteil zu generieren.
Heidegger stellt dem „rechnenden Denken“ ein anderes gegenüber: das „besinnliche Denken“. Statt zu kalkulieren und zu optimieren, richtet es unseren Blick auf das Sein selbst und öffnet einen Raum für kontemplative Reflexion. Es fragt nach Sinn und Bedeutung statt nach Verwertbarkeit. Die Technik – allen voran das Smartphone – soll erleichtern um möglichst viel in kürzester Zeit zu erledigen. Wenn Sie sich nun aber entschließen würden, Ihr Smartphone in die Schublade zu legen, würden sie zwar auf Informationen verzichten, gewinnen dadurch aber Zeit.
„Technische Zeit“ vs. „Erlebte Zeit„
Die „technische Zeit“ ist für Heidegger linear und messbar. Sie wird in gleichförmige Einheiten wie Sekunden, Minuten oder Stunden zerlegt. Gleichzeitig ist sie eine Ressource, die „genutzt“, „gespart“ oder auch „verschwendet“ werden kann. Ihr Outlook-Kalender ist in 30-Minuten-Slots eingeteilt. Die Bildschirmzeit soll uns ein schlechtes Gewissen machen und zeigen, wie viel Zeit wir „verloren“ haben, Produktivitäts-Apps versprechen uns, Zeit zu sparen.
Die „erlebte Zeit“, die Heidegger in Sein und Zeit (1927) auch als „ursprüngliche Zeit“ bezeichnet, ist dagegen nicht messbar, sondern qualitativ. Je nach Erlebnis dehnt sie sich oder zieht sich zusammen. Denken Sie an das Versinken beim Lesen eines interessanten Buches oder an das nicht enden wollende Warten auf eine wichtige Nachricht. Erlebte Zeit hat auch immer einen Bezug zu Sinn und Bedeutung. Denken Sie an die Arztpraxis in der sie ewig auf Ihren Termin gewartet haben. Oder an den letzten schönen Tag mit einem Menschen, den Sie lieben. Zeit gewinnt ihre Qualität durch das, was sie für uns bedeutet, und sie wird erlebt durch Erwartung und Vorfreude, Erinnerung und gegenwärtiges Erleben.
Aber die „erlebte Zeit“ steht immer in Beziehung zu unserer eigenen zeitlichen Verfasstheit. Für Heidegger sind wir in die Welt „Geworfene“. Wir leben immer aus unserer Vergangenheit kommend, vorauslaufend in eine Zukunft der Möglichkeiten und als Dasein in einer bedeutungsvollen Gegenwart. Diese Zeitlichkeit macht uns zu dem, was wir sind. Wir haben eine Geschichte, wir machen Pläne, wir sorgen uns um die Zukunft und wir wissen um unsere Endlichkeit.
Beide Zeiterfahrungen unterscheiden sich. Smartphones und Apps zerstückeln unseren natürlichen Zeitfluss. Eine Nachricht unterbricht das Gespräch. Zusammenhängende Momente zerfallen in Einzelmomente. Die Timeline täuscht einen Zusammenhang vor, ist aber nur eine mechanische Aneinanderreihung von Fragmenten. Die digitale Welt ist eine Illusion der Zeit- und Raumlosigkeit. Streamingdienste versprechen „anytime“ und „anywhere“. E-Mails erreichen uns rund um die Uhr. Das Netz kennt keinen Sendeschluss, der Online-Shop keine Ladenschlusszeiten. Die natürlichen Rhythmen verschwimmen mit der zeitlosen Erfahrung des Internets. Dazu kommen künstliche Dringlichkeiten durch „Breaking News“ oder zeitdruckerzeugende „Last Chance“-Angebote. Selbst eine belanglose Gruppen-Nachricht erscheint so dringend wie ein wichtiger Anruf. Für Heidegger steht dieses Verhältnis zur Technik – in seinem Spätwerk auch als das „Gestell“ bezeichnet (vgl. Die Frage nach der Technik, 1953) – im direkten Gegensatz zu einer authentischen Zeitlichkeit.
Das „Gestell“ und die Art des „Entbergens“
Für Heidegger ist Gestell keine Maschine, sondern eine durch die Technik bestimmte Denkweise. Es ist eine bestimmte Art des Entbergens – Dinge bergen oder entbergen sich, das heißt sie werden sichtbar und zugänglich. Dinge verlieren ihre Eigenbedeutung, weil sie nur noch im Rahmen ihrer Verwertbarkeit betrachtet werden. Ein etwa Fluss ist keine lebendige Natur mehr, sondern eine Wasserstraße. Ein Baum ist nicht mehr ein Zeichen des Lebens, sondern Holzressource. Auch wir ordnen uns dieser Logik unter – unser Körper wird in Gesundheitsdaten zerlegt, unser Wert in Likes und Reichweite gemessen.
Das Gestell verändert unser Denken, ohne dass wir es bemerken. Es zwingt uns, die Welt nicht mehr als etwas zu erleben, das sich uns zeigt, sondern als etwas, das jederzeit abrufbar und nutzbar sein muss. Damit geht der Blick für das verloren, was sich nicht berechnen oder in Daten fassen lässt – das Wesentliche entzieht sich.
Das Abhängigkeitsverhältnis
Heidegger hatte die Sorge, dass wir nicht mehr „Herr“ über die Technik sein könnten, sondern in ein Abhängigkeitsverhältnis geraten. Psychologische Mechanismen erklären das gut, denn jede Benachrichtigung löst einen kleinen Dopaminschub aus. Oft aber greifen wir auch ohne Grund zum Smartphone, als wollten wir einen kurzen Moment der Leere überbrücken. Die Angst, etwas zu verpassen, FOMO (Fear of Missing Out), führt zum ständigen Überprüfen von Nachrichten und sozialen Medien. Die digitale Präsenz wird zu einer leisen Pflicht. Sie kennen sicher das Gefühl der Dringlichkeit eine WhatsApp-Nachricht zu beantworten oder überhaupt Profile auf unterschiedlichen sozialen Netzwerken zu unterhalten.
Wer soziale Teilhabe möchte, muss sich heute über Messenger oder E-Mails verabreden. Wichtige Informationen werden oft „online“ geteilt. Auch unser Beruf zwingt uns zunehmend zur Nutzung von Smartphones und Laptops. Die neue Homeoffice-Kultur verstärkt die Abhängigkeit von der Technik. Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen zunehmend. Die digitale Präsenz und die personale Hochverfügbarkeit werden zu einem Karrierefaktor. All das bestätigt Heideggers Befürchtung: Technik ist nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern sie prägt unsere Existenzweise grundlegend.
Heidegger und die Technik: Heideggers „Gelassenheit“
Heidegger schlägt nicht die Ablehnung der Technik vor, sondern eine besondere Haltung: die Gelassenheit zu den Dingen. Diese Haltung bedeutet ein gleichzeitiges „Ja“ und „Nein“ zur technischen Welt. Wir sagen „Ja“ zur unvermeidlichen Nutzung der technischen Geräte und können sie für unsere Zwecke einsetzen. Gleichzeitig sagen wir aber auch „Nein“, indem wir verhindern, dass sie uns ausschließlich beanspruchen und in unserem Wesen verbiegen (vgl. Gelassenheit, 1959).
Heidegger und die Technik: Praktische Implikationen – was heißt das konkret?
Die Schaffung bewusster Zeitfenster
Die Schaffung bewusster Zeitfenster ist ein erster aber konkreter Schritt zur Gelassenheit. Im beruflichen Kontext bedeutet es, feste Zeiten für die digitale Kommunikation einzurichten, statt einer permanenten Verfügbarkeit nachzukommen. Besonders Mitarbeiter ohne Bereitschaftspflicht sollten ein bewusstes „Digital-Off“ nach Arbeitsende kultivieren. Statt radikaler Digital-Detox-Phasen bieten sich regelmäßige Abstinenzen – etwa durch geplante Auszeiten von sozialen Medien. Räumlich lässt sich Gelassenheit durch die Einrichtung bildschirmfreier Zonen verwirklichen. So werden möglicherweise Schlaf- und Esszimmer zu Zonen unmittelbarer Erfahrung.
Die Wiederentdeckung der „erlebten Zeit“
Langeweile hat heute einen schlechten Ruf. Bei unseren Kindern können wir das oft beobachten. Dabei liegt in der Langeweile eine einzigartige Chance. Sie öffnet Räume für authentische Erfahrungen und für kreative Ideen. Es gilt, Aktivitäten wieder ohne digitale Vermittlung zu genießen – sei es das Lesen eines Buches oder ein Gespräch, das nicht von Benachrichtigungen unterbrochen wird. Die erlebte Zeit kehrt zurück, wenn wir uns von der Dokumentationspflicht des Digitalen befreien.
Eine Bewusstseinskultur des „besinnlichen Denkens„
Der wachsende Zuspruch zu Meditation, Achtsamkeitspraktiken und Spiritualität zeigt ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Gegenpolen zur digitalen Beschleunigung. Das besinnliche Denken lässt sich durch bewusst geschaffene Räume der Stille fördern. Die Bildschirmzeit-Messung dient als sinnvolles Hilfsmittel, um den eigenen Technikkonsum kritisch zu hinterfragen. Ein abendlicher Spaziergang ohne Smartphone ermöglicht die unmittelbare Wahrnehmung der Umgebung. Gerade für die heranwachsende Generation sind solche Freiräume für nicht-zweckgerichtetes Denken essenziell.
Heidegger und die Technik: Soziale Dimension
Die Erwartung permanenter Erreichbarkeit hat unsere sozialen Beziehungen grundlegend verändert. Der Unmut über nicht sofort beantwortete Nachrichten zeigt, wie tief diese Erwartungshaltung verwurzelt ist. Gelassenheit bedeutet hier, eine Kultur der digitalen Entschleunigung zu entwickeln: Das Recht auf Nicht-Erreichbarkeit zu respektieren und klare digitale Grenzen zu setzen. Gemeinsame bildschirmfreie Aktivitäten mit Familie und Freunden können neue Räume authentischer Begegnung schaffen.
Heidegger und die Technik: Abschließendes
Die Gelassenheit zu den technischen Dingen bedeutet also nicht Verzicht, sondern eine Art der Souveränität. Es geht darum, die Technik als das zu nutzen, was sie ist: ein Werkzeug, das uns dienen soll, nicht beherrschen. Durch diese bewusste Haltung können wir die Vorteile der digitalen Welt nutzen, ohne uns in ihr zu verlieren.
Damit hat Heideggers Ansatz das Potential zu einer Lebenspraktik: Wir müssen lernen, zwischen notwendiger Nutzung und überflüssiger Abhängigkeit zu unterscheiden. Dabei gewinnen wir die Fähigkeit zurück, authentische Zeiterfahrungen zu machen und echte Beziehungen zu pflegen. Die Gelassenheit wird so zu einem Weg, in einer technischen Welt menschlich zu bleiben.
Literatur
Heidegger, M. (1927): Sein und Zeit.
Heidegger, M. (1951/52): Was heißt Denken?.
Heidegger, M. (1953): Die Frage nach der Technik.
Heidegger, M. (1959): Gelassenheit.
Interne Links:
Heidegger: Das „Man“ und das ständige Ringen um Authentizität und Konformität
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