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Philosophische Anthropologie

Das Elendorhythmische Kalkül – Eine Anthropologie des Elends

Lesedauer 4 Minuten

Die Elenden sollen essen. So lässt es Bach singen. Aber elendig sind wir alle.

Denn elend ist nicht nur der Hungernde. Elend ist, wer isst. Wer kauen, schlucken, verdauen muss. Wer an seinen Leib gefesselt ist, wer dem Rhythmus der banalen Notwendigkeiten nicht entkommt.

Der Mensch träumt von Freiheit, von Geist, von Ewigkeit. Er schreibt Bücher, predigt Tugend, spricht von Schönheit und Moral. Aber was ist das Erste, was er morgens tut? Er steckt sich etwas in den Mund und scheidet aus. Und was ist das Letzte, bevor er schläft? Er frisst, als wäre die Nacht eine Entbehrung.

So hoch er sich auch erhebt, am Ende bleibt eine schmutzige, unverhandelbare Wahrheit:

Essen. Verdauen. Ausscheiden. Wieder essen.

Das ist der Takt des Lebens. Das ist das Elendorhythmische Kalkül. Das Kalkül eines elenden, der an seinen endlichen Leib gebunden ist. Ein Gesetz härter als jedes Gebot, älter als jede Schrift.

Der Takt des Hungers

Der Mensch ist ein Wesen des Mangels. Er wird geboren, und sein erster Akt ist ein Schrei nach Nahrung. Die Milch des Lebens tropft ihm in den Mund – und von da an gibt es kein Entkommen.

Morgens frisst er, mittags frisst er, abends frisst er. Dazwischen denkt er über das nächste Mahl nach. Jeder Tag ist eine Mahlzeit in Episodenform. Aufstehen, frühstücken, arbeiten, essen, verdauen, schlafen. Wieder aufstehen, wieder frühstücken. Tage vergehen, Jahre vergehen, ein ganzes Leben vergeht. Der Takt bleibt aber immer derselbe.

Selbst wer fastet, gehorcht dem Kalkül. Der Asket rühmt sich seiner Enthaltsamkeit, dabei ist er nur ein Gefangener in einem anderen Rhythmus: Hunger ertragen, Hunger aushalten, Hunger besiegen – um am Ende dann doch wieder zu essen.

Es gibt kein Entkommen. Fressen. Verdauen. Ausscheiden. Wiederholen. Es ist das einzige unverhandelbare Gesetz.

Der Hunger schreibt Geschichte

Die Welt wurde nicht nur durch große Ideen erschaffen. Sie wurden aus vollem Magen geformt.

Kein Imperium wurde aus Überzeugung erobert, sondern aus Notwendigkeit. Kein Krieg begann mit einem edlen Ideal, sondern mit knurrenden Bäuchen. Hunger ist der wahre Motor der Geschichte.

Er macht den Heiligen zum Dieb. Den Pazifisten zum Mörder. Den König zum Bittsteller.

Die Französische Revolution? Brot war zu teuer.
Der Untergang Roms? Zu viele Mäuler, zu wenig Korn.
Die großen Entdeckungsreisen? Hunger nach Gewürzen, nach Fleisch, nach Gold.

Bertold Brecht hatte recht: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Hunger lässt Menschen beten, betteln, stehlen, töten. Er zersetzt Gesellschaften, zerreißt Reiche, entzündet Revolutionen. Jede Idee, jede Kultur, jede Religion – sie alle stehen nur so lange, wie der Magen gefüllt ist.

Der Mensch glaubt, er handle aus freien Stücken. Doch am Anfang steht immer der Magen. Und am Ende? Kommt wieder der Hunger!

Die große Täuschung des modernen Menschen

Der Hunger hat seine Maske gewechselt. Früher zwang er den Menschen aufs Feld, ins Jagdgebiet, in die Schlacht. Heute lässt er ihn klicken, bestellen, liefern.

Der moderne Mensch glaubt, er sei damit frei. Supermärkte, Restaurants, Lieferdienste – sie täuschen Autonomie vor, doch sie sind nur ein verlängertes Glied einer alten Kette. Sein Essen kommt in Plastik verpackt, sein Hunger wird mit Convenience betäubt. Er muss nicht mehr jagen, nicht mehr kämpfen – doch er bleibt ein Sklave seines Magens.

Er glaubt, er isst aus Genuss. In Wahrheit gehorcht er dem Imperativ seines triebhaften Fleisches.

Und weil er seinem Hunger keinen Sinn mehr abringen kann, macht er aus Nahrung ein Ritual, eine Religion, ein Spektakel. Er feiert Gourmetküche, schwört auf Diäten, zählt Kalorien, trinkt Selleriesaft, meidet Zucker, fastet nach Uhrzeit. Er nennt es Wellness – doch es ist nur eine kompliziertere Form eines alten Zwangs. Der Hunger diktiert sein Handeln, aber er merkt es nicht. Denn heute knurrt der Magen leiser. So wird das moderne Essen zu einer oft wertvollen Sinnquelle.

Was aber bleibt von seiner Zivilisation, wenn die Lieferketten brechen? Wenn die Regale leer sind? Wie lange bleibt er kultiviert, wenn der Hunger zurückkehrt?

Der erste Bissen am Morgen. Der letzte Bissen vor dem Schlaf.

Tag für Tag. Jahr für Jahr. Ein Leben lang.

Abschließendes

Sie können jetzt zu Recht einiges einwenden. Die garstige Reduktion des Menschen auf den Hunger ist provokant und zweifellos überspitzt, aber sie berührt eine universelle Wahrheit: Ohne Nahrung gibt es kein Denken, kein Handeln, kein Sein. Denn ohne Essen geht es faktisch nicht, und mit wenig Essen ist diese Faktizität sehr präsent. Diese Präsenz nimmt mit zunehmender Sättigung ab.

Mit leerem Magen ist das Dasein eine drängende Notwendigkeit, eine permanente Gegenwart der Entbehrung. Erst mit zunehmender Sättigung tritt dieser Umstand in den Hintergrund. Er verschwindet nicht, aber er ist keine Sorge mehr.

Freilich ist der Mensch nicht nur ein hungriges Wesen. Seine Ideen, seine Kreativität, seine kulturellen Errungenschaften erheben ihn über den reinen Überlebenskampf. Aber auch diese Höhenflüge des Geistes gedeihen in auf der Grundlage ines gefüllten Magens wahrscheinlich besser. Die größten Ideen und Ideale wurzeln letztlich in den banalsten Bedürfnissen. Und so bleibt der Mensch, bei allen metaphysischen Höhenflügen und bei aller geistigen Größe, am Ende doch ein Verdauungstrakt mit Bewusstsein. Und er folgt, ob er will oder nicht, dem Elendorhythmischen Kalkül.



Interne Links:

Man lebt nicht vom Brot allein

Externe Links:

YouTube: Erst das Fressen, dann die Moral – Die Dreigroschenoper

Wikipedia: Arthur Schopenhauer – Die Welt als Wille und Vorstellung


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