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Existenzphilosophie

Kierkegaard: Wiederholung und Erinnerung

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Lesedauer 7 Minuten

Kierkegaard: Gefangen in der Struktur von Wiederholung und Erinnerung

„Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung, denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, während hingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert.“
Sören Kierkegaard

Oft heißt es, wir sollten im Moment leben. Aber können wir das wirklich? Kierkegaard hatte seine Zweifel. Er sah den Menschen als ein denkendes Wesen, gefangen zwischen Wiederholung und Erinnerung. So entgleitet ihm der Augenblick immer wieder: Statt die Gegenwart zu erleben, kehrt er in Gedanken in die Vergangenheit zurück oder projiziert sich in die Zukunft. Was bleibt dann vom Moment? Wir klammern uns an das Vergangene und hoffen auf das Zukünftige, während der Augenblick selbst von diesen Gedanken überlagert wird. Was bedeutet es also, im Moment zu leben, wenn unsere Existenz von Wiederholung und Erinnerung bestimmt ist?

Das zeitliche Auseinanderfallen des Gesagten vom Gemeinten

Der Mensch gilt als das denkende Wesen. Aus diesem Umstand aber entsteht für Kierkegaard ein Problem. Um dies zu verdeutlichen, bedarf es einer kurzen begrifflichen Einordnung. Kierkegaard spricht von Erinnerung als das Denken über vergangenes und zukünftiges. Kierkegaard zeigt, dass die Struktur der Erinnerung für beiden Richtungen zutrifft. In beiden Fällen ist es ein gedankliches Durchgehen, entweder vorwärts oder rückwärts. Damit ist diese gedankliche Leistung, in beiden Fällen, ein Erinnern. Die Gegenwart bezeichnet er als Augenblick, um dessen Flüchtigkeit zu betonen.

Das Denken vollzieht sich in der Sprache, und im Gegenzug können wir also davon ausgehen, dass wir, wenn wir sprechen, laut denken. Ein denkender Mensch wird des Denkens wegen niemals im Augenblick leben, sondern in der Vergangenheit oder der Zukunft. Sprechen wir also etwas, dann beziehen wir uns auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft. Dazu ein kurzes Beispiel: Wenn ich in Gesellschaft bin und sage „Ich gehe jetzt“, dann meine ich damit, dass ich gehen werde. Die Aussage bezieht sich auf die unmittelbare Zukunft, nicht auf den Moment des Gehens selbst. Wenn ich etwa von jemandem geweckt werde und sage „Ich schlafe“, dann ist damit gemeint, dass ich entweder geschlafen habe oder zu schlafen beabsichtige, denn im Moment des Sprechens schlafe ich nicht.

Nehmen wir nun an, ich sage „Ich schreibe diesen Satz“, während ich ihn tatsächlich schreibe. Für einen Beobachter scheint es so, als würde alles gleichzeitig geschehen. Kierkegaard hält dies jedoch für einen weit verbreiteten Irrtum. Es mag zwar so aussehen, als wäre alles gleichzeitig, aber bevor ich sage, dass ich diesen Satz schreibe, hatte ich bereits die Idee, woraufhin ich plante, dieses zu tun. Die Idee, diesen Satz zu schreiben, war also vorher bereits da. Sie ist eine gedankliche Vorwegnahme, die in der Vergangenheit getroffen wurde, bevor die Handlung ausgeführt wurde. Die sprachliche Aussage ist lediglich die Wiederholung einer bereits gefassten Absicht So wird der Augenblick eben gerade nicht spontan gelebt.

Kierkegaard zeigt uns hier, dass das Denken immer ein Zurückblicken oder ein Vorwegnehmen ist, das sich im Sprechen vollzieht. Das, was wir tun, ist also nie vollständig im Augenblick verankert. Der scheinbar unmittelbare Augenblick wird für Kierkegaard, durch die Struktur der Wiederholung und der Erinnerung überlagert.

Kierkegaard: Die Struktur der Wiederholung und Erinnerung

Das Denken vollzieht sich also in zwei Richtungen. Entweder wir schauen in die Vergangenheit und erinnern uns zurück, oder wir blicken in die Zukunft und erinnern uns nach vorne. Für Kierkegaard ist beides dieselbe Bewegung. Die Erinnerung nach rückwärts ist die gedankliche Aufarbeitung des Vergangenen, die Erinnerung nach vorwärts, die Vorwegnahme des Zukünftigen. So ist das Denken, das gedankliche Durchgehen, für ihn immer ein Erinnern, das sich niemals auf den Augenblick, sondern immer nach rückwärts oder vorwärts richtet. Die Wiederholung wiederum ermöglicht es, das Gedachte in die Gegenwart zu bringen, indem wir das Erinnerte erneut durchleben oder umsetzen.

Nun ist es aber so, dass der Mensch bestrebt ist, im Augenblick zu leben, weil er eben nur in diesem existiert. Es besteht aber das zuvor beschriebene Problem, dass der Mensch in die Erinnerung verstrickt ist. Die einzige Möglichkeit, die der Mensch nun hat, im Augenblick zu leben, ist ein Kompromiss. Es ist die Wiederholung. Die Wiederholung schafft die Verbindung zwischen Erinnerung und dem Augenblick. Der Mensch erinnert sich an die Dinge aus der Vergangenheit und wiederholt sie rückwärts. Dasselbe gilt für Erinnerungen nach Vorwärts, also in die Zukunft. Der Mensch erinnert sich an zukünftiges und wiederholt sie vorwärts.

Denken wir an berufliche Karrieren. Wir beschäftigen uns mit unseren Karrierezielen, legen einen Plan dahinter und haben bald jeden Schritt durchdacht – wir haben uns nach vorne erinnert. Im Augenblick wiederholen wir das Gedachte, indem wir den Plan umsetzen. Wir verbinden also die Erinnerung nach vorne mit dem Augenblick, indem wir den Plan umsetzen. Die Wiederholung ermöglicht es, den Moment greifbar zu machen, indem wir das gedachte in die Tat umsetzen.

Für Kierkegaard fühlt sich der Mensch in dieser Struktur sicher, weil er seine Handlungen danach ausrichtet, was er bereits gedanklich durchlebt hat. Auf der anderen Seite hat er die Erinnerungen, deren er durch die Wiederholung wieder habhaft werden kann. Es entsteht ein Gefühl der Kontrolle und Vorhersehbarkeit. Dies führt beim Menschen zu einem Zustand, in dem er seinen Frieden findet. Und dennoch bleibt da ein Unbehagen.

Das Unbehagen

Es stellt sich nämlich die Frage nach dem Sinn, wenn das Leben nur in Wiederholungen gelebt wird. Was bleibt von einem Leben übrig, wenn es gedanklich bereits vorweggenommen und dann lediglich wiederholt wird? Kann es wirklich sein, dass das Leben so gemeint ist? Dass es eine endlose Wiederholung von dem ist, was bereits, geschehen oder vorweggenommen wurde? Ist ein Leben in Routinen und Wiederholungen ein wirklich gelebtes Leben? Hier spürt der Mensch, dass etwas fehlt, eine echte, lebendige Erfahrung, die nicht nur die Realisierung einer gedanklichen Vorwegnahme ist. Stellen Sie sich folgendes vor: Jeden Morgen stehen Sie auf, machen sich einen Kaffee, gehen zur Arbeit und kehren abends nach Hause zurück. Sie essen zu Abend, schauen fern und gehen schließlich zu Bett. Tag für Tag wiederholt sich dieser Ablauf, und selbst wenn Sie einmal Urlaub nehmen, ist es oft nichts anderes als eine Wiederholung anderer Urlaube. Strände, Sehenswürdigkeiten und dieselben Erwartungen an Erholung und Genuss. Sie putzen das Haus, gehen einkaufen, treffen Freunde und führen dieselben Gespräche wie immer. Selbst die Freizeitgestaltung wird zu einer Wiederholung. Derselbe Spaziergang im Park, dieselbe Lieblingsserie, dieselben Gespräche über die Arbeit oder das Wetter.

Oder nehmen Sie die Feiertage, die eine Unterbrechung vom profanen Alltag versprechen. Weihnachten, Geburtstage, Silvester. Jahr für Jahr planen wir dieselben Feiern, essen dasselbe Essen, treffen dieselben Menschen. Doch oft verspüren wir eine Leere, weil wir ahnen, dass diese Erlebnisse nicht neu sind. Statt echter Lebendigkeit, erfahren wir die Wiederholung des Vertrauten. Weil alles bereits vorweggenommen und geplant ist, bleibt kein Raum für spontanes und unvorhergesehenes.

Kierkegaard erkennt an, dass der Mensch in dieser Struktur zwar zufrieden sein kann, weil er sich im Modus der Wiederholung und Erinnerung sicher fühlt, doch diese Zufriedenheit ist trügerisch. Sie beruht auf der Illusion, das Leben durch Planung und Wiederholung kontrollieren zu können. Früher oder später spürt er aber, dass es ein Gefängnis ist, indem er gefangen bliebt.  

Der Sprung

In diesem Unbehagen sehnt sich der Mensch nach Veränderung, nach einem Ausbruch aus dem Kreislauf der Routinen von Wiederholung und Erinnerung. Den Menschen drängt es nach einer neuen Erfahrung, die gerade nicht durch den Modus der Wiederholung bestimmt ist. Es ist der Wunsch nach Spontaneität, Veränderung, dem reinen Augenblick, ohne ihn vorher durchdacht oder geplant zu haben. Kierkegaard zufolge gelingt dies nur durch einen Sprung. Allerdings ist man im Nachhinein jedoch oft enttäuscht. Das neue kann häufig nicht die Erwartung einlösen, die der Sprung versprochen hat. Man will zurück in den sicheren Hafen, der sich bewährt hat.

Ein Paar etwa lebt seit vielen Jahren in einer Beziehung. Zunehmend fällt auf, dass sich Routinen eingeschlichen haben. Bei einem der Partner entsteht der Eindruck, dass das nicht alles gewesen sein kann. Er fühlt sich von der Idee eines Seitensprungs angezogen – eine neue Erfahrung, etwas Spannendes, das den Alltag durchbricht.

Und so entscheidet sich der Partner für den Sprung. Die neue Erfahrung ist aufregend, sie bringt tatsächlich etwas Neues in sein Leben. Aber nun bestehen zwei Möglichkeiten. Entweder ist er vom Sex doch nicht so ganz überzeugt oder es plagen ihn andere Zweifel. In diesem Fall will er wieder zurück ins Vertraute, in die Wiederholung. Oder aber, er trennt sich von seinem bisherigen Partner und schließt sich dem neuen an. In diesem Fall, wird er sich aber auch wieder in Wiederholungen verstricken. Der Sprung aber, ist in jedem Fall eine Enttäuschung. Denn diese erste Erfahrung ist unwiederbringlich. Wer zum ersten Mal in den Apfel beißt, wird die weiteren Äpfel nicht mir mit derselben Neugier und Freude essen können. Der Sprung selbst ist nämlich nicht wiederholbar und diese erste Erfahrung bleibt für alle Zeit unwiederbringlich.

Kierkegaard und die Wiederholung: Das Dilemma

Kierkegaard zeigt uns, dass jedes Handeln letztlich zur Wiederholung wird. Der Sprung bietet zwar kurzfristig eine Abwechslung, führt aber dann auch wieder in die Wiederholung. Der Mensch ist gefangen in einem paradoxen Zustand. Er sehnt sich nach Veränderung, doch sobald er sie erreicht, wird das Neue wieder zur Wiederholung. Der Augenblick entgleitet uns, da unser Denken immer zurückblickt oder vorausplant. Selbst das Neue, das wir durch den Sprung zu erreichen hoffen, wird früher oder später zur Wiederholung. Die erste Erfahrung, der erste Reiz der Entdeckung, ist unwiederbringlich verloren, sobald wir es erlebt haben. Alles andere sind bloß Wiederholungen.  

Kierkegaard konfrontiert uns mit der Frage, ob es überhaupt möglich ist, das Leben in seiner vollen Intensität zu erfahren, oder ob wir ewig in der Struktur der Wiederholung gefangen bleiben. Er bietet keine einfache Lösung, sondern zeigt uns, dass die Sicherheit der Wiederholung zugleich unser Gefängnis ist. Auch wenn diese Lebensweise uns oft nicht glücklich macht, finden wir darin unseren Frieden, weil wir das Gefängnis gewohnt sind und die Freiheit fürchten.

Der Sprung in den Glauben

Obwohl Kierkegaard keine Lösung für das Dilemma bietet, zeigt er einen radikalen Ausweg: den Sprung in den Glauben. Anders als andere Sprünge, etwa ein Seitensprung oder ein Jobwechsel, die nur zu neuen Routinen führen, ist dieser Sprung von anderer Natur. Er ist kein logischer Entschluss, sondern geht über die Vernunft hinaus. Er verlangt ein radikales Vertrauen, das dem Modus der Wiederholung entgeht. Kierkegaard zufolge bleibt uns nichts anderes, als in den Glauben zu springen, da kein gerader Weg dorthin führt.

Der Sprung in den Glauben entspringt einem tiefen inneren Bedürfnis nach einer Beziehung zum Absoluten – zu Gott. Nur im Glauben sieht Kierkegaard die Möglichkeit, die menschliche Begrenztheit zu überwinden, da er den Menschen in eine direkte Verbindung mit dem Transzendenten bringt. Der Glaube ist kein Produkt der Vernunft, sondern ein lebendiger Akt des Vertrauens, der das rationale Denken transzendiert.

Kierkegaard beschreibt diesen Sprung als eine spirituelle Erfahrung, die im Augenblick geschieht – ohne Rückgriff auf Vergangenes. Er fordert, das Bedürfnis nach Kontrolle loszulassen und sich dem Unbekannten anzuvertrauen. So wird der Glaube zu einem Akt radikaler Freiheit, der den Kreislauf der Wiederholung und Erinnerung durchbricht und den Menschen aus dem Gefängnis der Wiederholung in die Möglichkeit des Augenblicks führt.



Externe Links: Spektrum.de – Metzler Lexikon Philosophie: Die Wiederholung

Wikipedia: Søren Kierkegaard

Deutschlandfunk: Søren Kierkegaard„Der Glaube beginnt gerade da, wo das Denken aufhört“

Interne Links:

Finger im Dasein: Kierkegaard und das „Geschwätz“ – Unauthentische Kommunikation

Finger im Dasein: Selbstwerdung und Authentizität: Ein Blick auf Kierkegaards Stadien des Lebens im Zeitalter des Digitalen

Finger im Dasein: Sören Kierkegaards Ethik für Rebellen: Radikale Ethik des Einzelnen

Finger im Dasein: Kierkegaard – Der Augenblick

Finger im Dasein: Kierkegaard – Der Sprung oder über was es heißt zu springen

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