Kierkegaard und das „Geschwätz“: Unauthentische Kommunikation
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Unauthentische Kommunikation: Kierkegaard und das „Geschwätz“
Kopenhagen in den 1830er Jahren. Eine Stadt wie ein Gemälde. Volle Gassen und lebhafte Marktplätze prägten das Stadtbild dieses traditionsreichen Handelszentrums. In dieser pulsierenden Stadt, die sich zwischen Tradition und Fortschritt bewegte, begann der junge Sören Kierkegaard seine endlose Suche nach der Bedeutung des individuellen Lebens. Er war bekannt dafür, als Beobachter und Zuhörer durch die Straßen zu ziehen. Was er dort erlebte, hielt er oft in Tagebüchern fest. Eine Sache, die ihm dabei auffiel, war das „Geschwätz“ der Leute. Dieses „Geschwätz“, ein ununterbrochenes Strömen oberflächlicher Konversationen, die kaum persönliche oder tiefgründige Themen berühren und so die Einzigartigkeit jedes Einzelnen vernachlässigen, reflektierte für Kierkegaard die Entfremdung und den Identitätsverlust in einer zunehmend von der Masse beeinflussten Gesellschaft. Kierkegaard der als Gründervater der Existenzphilosophie bezeichnet werden kann, diagnostiziert damit als erster den Mechanismus der Massenkommunikation – ein Phänomen, bei dem Nachrichten oder Informationen über verschiedene Medienkanäle verbreitet werden und eine große Zahl von Menschen erreichen, oft auf Kosten der Tiefe und Authentizität der Kommunikation. Perspektiven, die in der späteren Folge von Martin Heidegger und auch von Carl Jaspers aufgegriffen werden sollten.
„O, schaffet Schweigen“
„Du stehst da und hast mit einem Menschen gesprochen. Es war ein Mann von Mittelgröße, blond, in braunem Mantel – es war ein Schwatzkopf; aber du hoffst fast, mit ihm fertig geworden zu sein. Im selben Augenblick, da er geht, kommt da ein anderer: ein großer, schwerer Mann, dunkelhäutig, in blauem Frack – das ist doch wohl nicht derselbe Mensch? Freilich nicht, ach, aber es ist das gleiche Geschwätz. Und so denn ins Unendliche. Kein Tier ist so furchtbar wie Geschwätz; nur daß das Geschwätz 100 000 Millionen Junge wirft – die alle verschieden aussehen, aber dennoch das gleiche Geschwätz sind“.
(Kierkegaard 2003: 188)
Das „Geschwätz“, das Kierkegaard beschreibt, verkörpert für ihn eine überindividuelle epochale Gestalt und gleichsam die Signatur der Moderne. Es ersetzt echte Rede, in der sich jemand wirklich offenbart und sein Gegenüber vollständig anerkennt. Statt tiefe Verbindungen zu schaffen, bleibt diese Kommunikationsform oberflächlich und entfremdet, ein Symbol für die fehlende Authentizität in der zwischenmenschlichen Kommunikation. In der massenmedialen und öffentlichen Kommunikation droht die individuelle und tiefe Auseinandersetzung mit Themen verloren zu gehen, wenn Menschen häufig nur das wiederholen, was sie in den Nachrichten, Zeitschriften oder in sozialen Netzwerken aufschnappen, ohne eigene Reflexion oder tiefgründigen Austausch. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Alltagskommunikation, in der Gespräche über Belanglosigkeiten oft dominieren. Diese flüchtigen und oberflächlichen Konversationen spiegeln Kierkegaards beschriebenes Phänomen wider und verdeutlichen, wie moderne Kommunikation echte persönliche Interaktionen durch ein ununterbrochenes Strömen oberflächlicher Gespräche ersetzt, die die Einzigartigkeit des Einzelnen und die Möglichkeit tiefgründiger menschlicher Verbindungen vernachlässigen.
„Geschwätz“ ist nach Kierkegaard Ausdruck einer Verzweiflung an sich selbst. Verzweiflung bezieht sich dabei auf das Gefühl der Entfremdung und des Verlustes der eigenen Identität. Diese Verzweiflung entsteht, weil das Individuum nicht mehr als einzigartiges Subjekt spricht oder wahrgenommen wird, sondern als Teil einer homogenisierten Masse. Das Individuum fühlt sich von dieser Art der Kommunikation „besessen“, weil es seine Fähigkeit verliert, authentisch und selbstbestimmt zu agieren.
Wenn ich ein Arzt wäre und mich einer fragte: „Was meinst du, muß getan werden?“, so würde ich antworten: „Das erste, was getan werden muß, und die unbedingte Voraussetzung dazu, dass überhaupt etwas getan werden kann, ist -: schaffe Schweigen! Gebiete Schweigen! Gottes Wort kann ja nicht gehört werden, und wenn es mit Hilfe lärmender Mittel geräuschvoll hinausgerufen wird, damit man es auch im Getöse hören kann, so bleibt es nicht Gottes Wort. Schaffe Schweigen!! Ach, alles lärmt, und wie heißes Getränk das Blut bekanntlich in Wallung bringt, so ist in unserer Zeit jenes einzelne, selbst das unbedeutendste Unternehmen und jede einzelne, selbst die nichtssagendste Mitteilung bloß darauf berechnet, die Sinne zu reizen oder die Masse, die Menge, das Publikum und den Lärm zu erregen!
Der Mensch, dieser gewitzigte Kopf, sinnt fast Tag und Nacht darüber nach, wie er zur Verstärkung des Lärms immer neue Mittel erfinden und mit größtmöglicher Hast das Geräusch und das leere Gerede möglichst überallhin verbreiten kann. Ja, was man auf solche Weise erreicht, ist wohl bald das Umgekehrte: die Mitteilung ist an Bedeutungsfülle wohl bald auf den niedrigsten Stand gebracht, und gleichzeitig haben umgekehrt die Mittel der Mitteilung in Richtung auf eilige und alles überflutende Ausbreitung wohl das Höchstmaß erreicht, denn was wird wohl hastiger in Umlauf gebracht als das Geschwätz?! Und anderseits -: was findet willigere Aufnahme als das Geschwätz?! – O, schaffet Schweigen!!
(Kierkegaard 2010: 96)
Ein starker Befund
Was bis hierhin beschrieben wurde, ist eine eindrucksvolle Kultur- und Medienkritik eines Denkers, der seiner Zeit immer einen oder gar mehrere Schritte voraus war. Bereits in der Zeit des Umbruchs selbst, bemerkte Kierkegaard, dass mit der Kommunikation etwas nicht stimmte. Er sah voraus, wie die Massenmedien die Art und Weise, wie Menschen interagieren und sich selbst wahrnehmen, grundlegend verändern würden.
Gerade in unserer heutigen Zeit, die von digitaler Kommunikation und sozialen Netzwerken dominiert wird, erscheinen Kierkegaards Beobachtungen eindringlicher denn je. Das „Geschwätz“ hat sich in Form von Tweets, Posts und Kommentaren aufs höchste materialisiert. Diese Formen der Kommunikation können schnell die Oberfläche streifen, ohne je in die Tiefe zu gehen. Sie bieten oft nur Raum für schnelle Urteile und flüchtige Eindrücke, die selten zu einem echten Dialog oder tiefgreifenden Verständnis führen.
Die Moderne und die Flut der Informationen
Die Informationsflut, die durch das Internet und die sozialen Medien ermöglicht wird, hat vielleicht zu einer „Demokratisierung des Wissens“ geführt, aber sie hat auch dazu beigetragen, dass die Qualität der Kommunikation oft durch die Quantität der Information ersetzt wird. In dieser neuen Welt des permanenten Informationsrauschens finden die stillen, bedachten und reflektierten Stimmen selten Gehör. Was entsteht ist eine Umgebung, die von Lärm und Ablenkung geprägt ist, und in der das Wesentliche oft im oberflächlichen Getöse untergeht.
Die Presse als Medium der Nivellierung des Individuellen
Kierkegaards kulturkritische Analyse des „Geschwätzes“ und dessen Auswirkungen auf die individuelle Identität ist eng verknüpft mit seinem Verhältnis zur Presse seiner Zeit. In einem seiner Tagebucheinträge von 1854 drückte Kierkegaard seine tiefe Besorgnis über die Presse als ein Medium der Nivellierung aus:
„Ich sage, dass besonders die Tagespresse in Richtung auf die Herabwürdigung der Menschen zu Exemplaren arbeitet, und nichts ist gewisser. Wie in der Papierfabrik Lumpen zu einer Masse zusammengearbeitet werden, ebenso zielt die Tagespresse darauf ab, den Menschen allen Unterschied der Individualität, allen Geist abzuschleifen, und sie dann glücklich zu machen als Ziffer durch jenes Leben, welches das der Ziffermäßigen ist: in allem genau so wie die anderen; darin findet das Tier-Geschöpf Frieden und Ruhe, in der Herde, und darin findet der Neid sich besänftigt.“
(Kierkegaard 2003: 188)
Für Kierkegaard verkörperte die Presse einen machtvollen und gefährlichen Mechanismus zur Entindividualisierung, der einerseits die Vielfalt menschlicher Erfahrungen einebnet, andererseits die thematische Richtung der öffentlichen Diskussion bestimmt. Diese Entindividualisierung offenbart sich in zweifacher Weise. Einerseits durch die Reduktion komplexer, individueller Perspektiven auf vereinfachte, stereotype Darstellungen in den Medien (mit Medien sind gleichsam auch soziale Netzwerke gemeint). Indem persönliche und vielschichtige Ansichten in einheitliche, massentaugliche Nachrichten umgewandelt werden, verliert der Einzelne seine Identität als individuelles Wesen und wird zu einem anonymen Teil des Kollektivs, einer bloßen „Ziffer“ in der statistischen Masse. Andererseits beeinflussen Medien aktiv die Themen, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, indem sie vorgeben, was „wichtig“ und „relevant“ ist. Dies verleitet die Menschen dazu, weniger über ihre persönlichen Erlebnisse oder tiefergehenden Interessen zu sprechen und stattdessen die von der Presse diktierten Themen aufzugreifen. Diese Dynamik verstärkt die Homogenisierung des öffentlichen Diskurses und minimiert die Authentizität individueller Kommunikation.
Indem Individuen vorrangig über allgemein vorgegebene und häufig oberflächliche Themen sprechen, die von den Medien popularisiert werden, verlieren sie die Fähigkeit, ihre eigenen, ja einzigartigen Perspektiven und Erfahrungen auszudrücken. Diese Themen sind meistens breit angelegt und auf allgemeine Akzeptanz hin ausgerichtet, wodurch sie wenig Raum für individuelle Perspektiven und persönliche Ansichten bieten. Infolgedessen werden persönliche Unterschiede und individuelle Ausdrucksformen durch die vorherrschende Konformität der Medieninhalte schlicht unterdrückt. Dies führt nach Kierkegaard zu einer weiteren Nivellierung der individuellen Identität, da die Einzigartigkeit jeder Person in einer homogenisierten öffentlichen Diskussion verloren zu gehen droht. Die Konsequenz ist eine Gesellschaft, in der die Vielfalt der individuellen Meinungen und Perspektiven durch die Dominanz massenmedial verbreiteter, standardisierter Themen unterdrückt wird.
Ein weiteres, aber besorgniserregendes Beispiel für diese Problematik stellt die moderne Boulevardpresse wie etwa die Bildzeitung dar. Ihre Neigung zu skandalisierenden Schlagzeilen und sensationalistischer Berichterstattung verdeutlicht, wie Medien zusätzlich zur Nivellierung, individuelle Diskurse durch die Betonung von Oberflächlichkeit und Sensationslust weiter übertönen.
Kierkegaards Ruf nach Stille
Kierkegaards Aufforderung, endlich „Schweigen zu schaffen“, ist heute vielleicht dringender denn je. In der heutigen Zeit, in der Medien den öffentlichen Diskurs dominieren und individuelle Gedanken oft durch das konstante Rauschen oberflächlicher Informationen übertönt werden, ist echte Stille rar geworden. Doch gerade in der Stille finden wir den Raum für Reflexion und Selbstbesinnung, Raum für mehr Innerlichkeit und Individualität. Es ist dieser Raum, in dem wir uns von den Fesseln des „Geschwätzes“ befreien und zu einer tieferen, authentischeren Form der Kommunikation zurückkehren können.
Kierkegaard erkannte die destruktive Kraft des oberflächlichen „Geschwätzes“ und seine Worte sollten eine mahnende Erinnerung daran sein, dass das Schaffen von Stille nicht nur eine persönliche, sondern auch eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist. In einer Welt, die von der Flut trivialer und gleichförmiger Kommunikation überwältigt wird, bleibt das Bedürfnis nach echter Stille bestehen, um das individuelle und kollektive Bewusstsein zu bewahren.
Einen Satz noch zum Ende. Wer sich Kierkegaards Tagebücher einmal ansieht, wird oft mit seinem Klagen über den Zeitgeist konfrontiert. Nicht auszudenken, was er wohl geschrieben hätte, wenn er unsere heutige Zeit, hätte erleben müssen.
Literaturverzeichnis:
Kierkegaard, Søren. Zur Selbstprüfung der Gegenwart, empfohlen an die gegenwärtigen Christenheit. Herausgegeben von Hayo Meyer. Frommann-Holzboog, Stuttgart 2010, S. 96
Kierkegaard, S. (2003). Gesammelte Werke und Tagebücher / Gesammelte Werke und Tagebücher (E. Hirsch, H. Gerdes, & H. M. Junghans, Hrsg. & Übers.). Grevenberg.
Externe Links:
Philosophie-Magazin: Sören Kierkegaard
Ärzteblatt: Sören Kierkegaard – Vorläufer der Tiefenpsychologie
Deutschlandfunk: Sören Kierkegaard – Der Einzelne und die Massengesellschaft
Interne Links:
Selbstwerdung und Authentizität: Ein Blick auf Kierkegaards Stadien des Lebens im Zeitalter des Digitalen
Die Bedeutung der Wahl für ein authentisches Leben