Kierkegaards Ethik für Rebellen
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Sören Kierkegaards Ethik für Rebellen: Radikale Ethik des Einzelnen
Kierkegaard war ein Rebell. Bis zu seinem Tod kämpfte er gegen die dänische Staatskirche. die für ihn aus leeren Ritualen und einem oberflächlichen Glauben besteht. Für ihn stand die institutionalisierte Religion im Widerspruch zu echter, persönlicher Frömmigkeit und zur authentischen Beziehung zu Gott. Kierkegaard kritisierte die Kirche dafür, dass sie die Menschen in eine falsche Sicherheit wiege, indem sie den Glauben auf bloße Formalitäten und gesellschaftliche Konformität reduzierte. Er forderte eine Rückkehr zu einer individuellen, leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben und der eigenen Existenz. Seine Schriften sind geprägt von einem tiefen Misstrauen gegenüber Massenbewegungen und institutionellen Autoritäten, die seiner Ansicht nach die wahre Bedeutung des Christentums verfälschen. Kierkegaard sah sich als einsame Stimme, die zur radikalen Selbstbesinnung und zu einem authentischen Leben in persönlicher Verantwortung aufruft.
Für Kierkegaard ist Ethik kein System universeller Regeln oder Tugenden, sondern ein zutiefst persönlicher Prozess. Es geht nicht nur um moralisches Handeln, sondern um die Frage, wie man ein authentisches Leben führen kann. Kierkegaards Ethik betont die Einzigartigkeit des Einzelnen, die persönliche Verantwortung und die Notwendigkeit, sich selbst zu wählen. Im Gegensatz zu Kant und Aristoteles sieht Kierkegaard die Wahrheit nicht in allgemeinen Gesetzen oder Prinzipien, sondern in der subjektiven Auseinandersetzung des Einzelnen mit sich selbst. Ethik wird hier zur Suche nach innerer Wahrheit und Authentizität, die jenseits vorgegebener Normen liegt.
Kierkegaards Ethik: Das Gewissen als Zentrum der Individualität
Kierkegaards ethisches Denken stellt das Individuum, den einzelnen Menschen, in den Mittelpunkt. In einer Welt, in der Menschen zunehmend als Teil einer anonymen Masse wahrgenommen werden – sei es als Arbeiter, Konsumenten, Eltern, Kinder oder schlicht als Nummern in einem System – sieht Kierkegaard die Gefahr, dass das Individuum hinter diesen Allgemeinbegriffen verschwindet. Diese gesellschaftlichen Kategorien definieren den Menschen oft nur noch durch seine Rolle und Funktion, wodurch die Einzigartigkeit und die tiefer liegenden Bedürfnisse des Einzelnen vernachlässigt werden.
Das „Gewissen“ spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Für Kierkegaard ist das Gewissen nicht nur eine Art moralischer Kompass, der uns sagt, was richtig und falsch ist. Vielmehr ist es der Kern unseres eigenen „Selbst“, der Ort, an dem wir unsere wahre Identität und Authentizität finden. Das Gewissen hilft uns, uns selbst zu erkennen und Entscheidungen zu treffen, die wirklich von uns kommen und nicht nur von gesellschaftlichen Normen oder äußeren Einflüssen bestimmt sind.
In anderen Worten: Durch das Gewissen wird uns bewusst, wer wir wirklich sind, unabhängig davon, welche Rolle uns die Gesellschaft zuweist. Es erhebt die Stimme, wenn wir in Differenz zu uns selbst stehen. Es ist der Teil von uns, der es uns ermöglicht, uns von den Erwartungen und Vorgaben der Massen zu lösen und als authentische Individuen zu leben. Kierkegaard fordert uns auf, auf unser Gewissen zu hören, weil es uns zeigt, wie wir ein wahrhaftiges Leben führen können, das nicht nur den oberflächlichen Standards der Gesellschaft entspricht, sondern aus unserer eigenen inneren Überzeugung und Freiheit heraus gestaltet ist.
Der Konflikt zwischen dem Äußerlichen und dem Innerlichen
Kierkegaard sieht das Gewissen auch als einen Ort des Konflikts, insbesondere wenn das äußere Leben (die Rollen, die wir spielen, die Erwartungen, die an uns gestellt werden) nicht mit dem inneren Leben (unserem wahren Selbst und unserer inneren Überzeugung) übereinstimmt. Das Gewissen führt zu einer Art innerem Dialog, bei dem wir die Differenz zwischen dem, was wir tun oder darstellen, und dem, was wir wirklich sind, spüren. Dieser Konflikt kann zu Verzweiflung führen, die bei Kierkegaard eine treibende Kraft für den Sprung in ein authentisches, wahrhaft existenzielles Leben ist.
Kierkegaards Ethik – Die Drei-Stadien-Lehre: Ästhetisch, Ethisch, Religiös
Kierkegaard beschreibt den Weg zur Authentizität in seiner Lehre von den drei Stadien des Lebens. Zunächst das ästhetische Stadium, wo der Mensch von Lust und Freude angetrieben wird. Es ist das Leben des Genießers, der stets nach dem nächsten sinnlichen Kick sucht, ohne tiefere Bindungen oder Verpflichtungen einzugehen. In dieser Phase lebt der Mensch nur für den Moment, getrieben von den Reizen der Welt um ihn herum.
Doch irgendwann bemerkt der Ästhetiker, dass sein Leben hohl ist, dass der ständige Wechsel von Vergnügen zu Vergnügen keine echte Erfüllung bringt. Er beginnt zu verzweifeln, erkennt, dass er sich in einer endlosen Schleife bewegt, die ihn nicht weiterbringt. Diese Verzweiflung öffnet die Tür zum nächsten Stadium: dem ethischen.
Im ethischen Stadium fängt der Mensch an, nach moralischen Werten und Pflichten zu leben. Er erkennt, dass ein Leben, das nur auf Vergnügen basiert, kein sinnvolles Leben ist. Er sucht nach Idealen und Verpflichtungen, die sein Handeln leiten, und versucht, ein Leben in Übereinstimmung mit moralischen Prinzipien zu führen. Doch auch hier stößt er an Grenzen. Denn die unendliche Forderung, gut und moralisch perfekt zu sein, kann niemals vollständig erfüllt werden. Es bleibt eine Kluft zwischen dem, was wir sein sollten, und dem, was wir sind. Diese Erkenntnis führt wiederum zu Verzweiflung.
Im religiösen Stadium erkennt der Mensch seine eigene Unvollkommenheit und seine Abhängigkeit vom Absoluten, von Gott. Es ist die Erkenntnis, dass wir uns selbst nicht vollständig erlösen können, dass wir uns nur durch einen „Sprung in den Glauben“ in das Vertrauen auf eine höhere Macht retten können. Dieser Sprung in den Glaubens ist keine rationale Entscheidung, sondern ein Akt des Vertrauens, ein Schritt ins Ungewisse, der uns über uns selbst hinausführt.
Der Sprung in den Glauben und die radikale Freiheit
Kierkegaards Konzept des „Sprungs“ ist revolutionär. Es ist die Idee, dass es im Leben keine Sicherheit gibt, keine festen Brücken, die uns von einem sicheren Punkt zum anderen führen. Stattdessen müssen wir uns immer wieder in das Unbekannte wagen, müssen die Kontrolle loslassen und uns auf den Glauben verlassen. Dieser Sprung ist Ausdruck der wahren Freiheit, denn er befreit uns von den Zwängen der Vernunft und der äußeren Regeln, hin zu einem Leben, das auf persönlicher Überzeugung und innerer Wahrheit basiert.
Durch diesen Sprung überwinden wir die innere Zerrissenheit und Verzweiflung, die aus dem ständigen Streben nach moralischer Perfektion und der Angst vor Fehlern entstehen. Der Glaube erlaubt uns, unsere Unvollkommenheit zu akzeptieren und uns selbst zu vergeben. In der Hingabe an das Unbekannte finden wir die Freiheit, unsere wahre Identität zu leben, ohne den Druck, uns an die Erwartungen der Gesellschaft oder rationale Erklärungen anzupassen. Der „Sprung in den Glauben“ öffnet uns den Weg zu einem authentischen Leben, in dem wir nicht länger Sklaven unserer Ängste und Zweifel sind, sondern mutig und ehrlich unserem eigenen Weg folgen können
Die Bedeutung der Selbstwahl
Kierkegaards Ethik fordert eine radikale Selbstwahl. Für ihn ist Ethik nicht etwas, das von außen diktiert wird, sondern eine bewusste Wahl des Einzelnen, sich selbst zu sein. Die Selbstwahl wird zum Gegenmittel gegen die Verzweiflung, die auftritt, wenn man sich in äußeren Umständen oder gesellschaftlichen Rollen verliert. Kierkegaards Ethik ist somit ein Aufruf zur Authentizität und zum wahren Selbstsein, zur Besinnung auf das eigene Gewissen und die eigene innere Stimme.
Grenzen der Ethik und der Weg zur Religion
Trotz der hohen Bedeutung, die Kierkegaard der ethischen Wahl beimisst, erkennt er auch ihre Grenzen. Die Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit und Schuld führt zur Einsicht, dass der Mensch aus eigener Kraft nicht vollständig „gut“ sein kann. Hier verweist Kierkegaard auf die Religion, die nicht als Aufhebung der Ethik, sondern als deren Erfüllung gesehen werden muss. Die Religion bietet die Möglichkeit der Vergebung und der Versöhnung mit dem Absoluten, was durch ethisches Handeln allein nicht erreicht werden kann.
Jeder Kann so Leben wie Kierkegaard, aber nicht alle – die Wildgansparabel
Kierkegaards Ethik ist interessant, aber vor allem aufrührerisch und rebellisch. Man kann es etwa so auf den Punkt bringen: Jeder kann so leben, aber wenn alle so leben, ist damit kein Staat zu machen.
Kierkegaards Ethik ist nicht für die breite Maße gemacht, sie ist für Rebellen gemacht. Von der breiten Masse wusste er, dass sie eine authentische Lebensweise ohnehin nicht anstreben würde. Er wusste, dass es immer Menschen geben wird, die ein Leben in Konformität und Anpassung leben. Wer sich mit ihm beschäftigt hat, weiß dass er immer wieder Bilder und Parabeln verwendet, wie die der Wildgans in der Wildgansparabel, die sinngemäß so geht:
In einer Wildgansschar gibt es jeden 7. Tag eine Predigt über die Freiheit und das majestätische Fliegen der Wildgänse am Himmel. Die zahmen Gänse lauschen begeistert und stimmen der Botschaft zu, dass ihr wahres Schicksal darin liegt, frei zu fliegen. Doch nach der Predigt kehren sie in ihre Ställe und ihrem sicheren Leben im Hof zurück, lassen sich füttern und wagen es nicht, wirklich zu fliegen. Sie sprechen von Freiheit, aber handeln nicht danach. Kierkegaard zeigt damit, dass wahre Veränderung nur durch Taten und nicht durch bloße Worte erreicht wird.
Kierkegaard selbst war diese Wildgans, die sich vom sicheren Hof entfernte, um die Freiheit des Himmels zu suchen, und er schrieb für jene, die bereit sind, dasselbe zu tun. Seine Betonung der individuellen Authentizität und des subjektiven Erlebens ist etwas, das jeder für sich anstreben kann – ein persönlicher Weg, unabhängig von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. Doch seine Existenzweise ist nicht darauf ausgelegt, ein kollektives System zu schaffen, in dem alle die gleichen Werte und Ziele teilen oder sich in eine gemeinsame Richtung bewegen. Sie fördert die individuelle Selbstfindung und das persönliche Streben nach Wahrheit, anstatt einen allgemeinen Konsens oder eine einheitliche moralische Ordnung zu etablieren.
Kierkegaards Ethik ist also eher eine Herausforderung an den Einzelnen als ein Rezept für das Kollektiv. Sie fordert uns auf, über die gesellschaftlichen Erwartungen hinauszuwachsen und uns selbst zu entdecken, doch sie lässt uns auch erkennen, dass nicht jeder diesen Weg gehen wird – und deshalb ist sie eine Ethik für Rebellen.
Abschließende Gedanken: Kierkegaards Ethik – Eine Einladung zur Selbstentdeckung
Kierkegaards existenzphilosophische Ethik ist keine Theorie; sie ist eine Ethik der radikalen Freiheit und eine Einladung, das eigene Leben neu zu denken, die inneren Stimmen ernst zu nehmen aber auch sich selbst ernst zu nehmen und damit authentisch zu leben. In einer Welt, die leider viel zu oft von Oberflächlichkeit und Anpassung geprägt ist, ruft Kierkegaard uns auf, mutig zu sein, unser wahres Selbst zu suchen und den Sprung in das Unbekannte zu wagen. Es ist eine Ethik der Freiheit und des Glaubens, die uns ermutigt, unseren eigenen, persönlichen Weg zu finden.
Interne Links:
Selbstwerdung und Authentizität: Ein Blick auf Kierkegaards Stadien des Lebens im Zeitalter des Digitalen
Sören Kierkegaard: Die Wiederholung
Sören Kierkegaard: Der Sprung – oder über was es heißt zu springen
Sören Kierkegaard: Der Augenblick
Externe Links:
Wikipedia: Die Krankheit zum Tode
Psychologische Praxis Rieländer: Das Wesen der Verzweiflung und ihre Stufen
nach KIERKEGAARD „Die Krankheit zum Tode“ (pdf)
Entweder – Oder. Ein Lebensfragment )pdf)