
„Liebe Dich selbst“- Die Ideologie der Selbstfürsorge
„Liebe Dich selbst.“ – Die Ideologie der Selbstfürsorge
Wir sollen uns selbst lieben, denn nur dann seien wir überhaupt in der Lage, andere zu lieben – und unser volles Potenzial ausschöpfen. So oder so ähnlich wird es uns jedenfalls eingeredet. Was wie ein freundlicher Rat daherkommt, der auch gut in einem Glückskeks verpackt sein könnte, klingt auch noch weise. Es ist einer dieser typischen Sätze, die wir oft in Ratgebern und sozialen Medien lesen oder von Lifecoaches, Esoterikern und Therapeuten hören. Im Bücherregal finden wir ihn irgendwo zwischen „Erkenne Dein inneres Licht“ und „Sei Du selbst“. Gesagt wird damit: Du bist genug. Du darfst so sein, wie du bist. Nimm Dir Zeit für Deine Me-Time und gönn Dir doch auch was? Was hier oft im selben Tonfall erzählt wird, in dem auch Lavendelöl oder Wohlfühltees angeboten werden, klingt sanft, friedlich und selbstheilend – ist aber vor allem eines: eine Zumutung. Denn er verschiebt jede Verletzung, jede Einsamkeit, jede Erschöpfung ins Innere – als wäre nicht die Welt hart, sondern dein Herz zu weich. Und er klingt dabei auch noch wie die Lösung für alles. Was auch ist – liebe Dich selbst. Bist Du erschöpft? Liebe Dich selbst. Fühlst Du Dich einsam? Liebe Dich selbst. Scheiterst Du gerade? Na, Du weißt schon: Liebe Dich selbst.
Am Ende ist er das Placebo einer Gesellschaft, die den Einzelnen sich selbst überlässt.
Nicht Fürsorge, sondern Selbstsorge. Nicht Solidarität, sondern Selbstoptimierung. Er ist die Botschaft einer Zeit, in der alles Ware geworden ist – auch das Selbst. Denn wer sich selbst liebt, der optimiert sich. Kauft sich was Gutes. Die Selfcare-Industrie boomt. „Liebe Dich selbst“ ist keine Befreiung – es ist die freundliche Verpackung einer Konsumlogik, die aus Selbstfürsorge Selbstvermarktung macht.
Vom Gebot zur Technik: Eine kurze Geschichte der Selbstliebe
Der Gedanke, sich selbst zu lieben, ist nicht neu. Schon in der christlichen Tradition taucht er auf – allerdings anders. „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ heißt es im Neuen Testament. Gemeint ist natürlich nicht die Liebe als Eros, sondern als Agape oder Caritas – die Nächstenliebe. Die Selbstliebe ist hier aber kein Zweck, sondern ein Mittel: Wer sich selbst als von Gott angenommen versteht, kann auch den anderen annehmen. Der Zweck ist hier aber Nächstenliebe – nicht Selbstverwirklichung.
In der Moderne verschiebt sich dieses Verhältnis. Mit der Aufklärung entsteht ein neues Selbstbild: Der Mensch als autonomes, vernunftbegabtes Subjekt. Im 20. Jahrhundert dann, rücken Psychologie und Psychoanalyse die Innenwelt ins Zentrum. Die Frage ist nicht mehr: Was ist der Mensch? Sondern: Wer bin ich – und wie werde ich ich selbst?
In den 1970er-Jahren wird Selbstliebe zur Gegenbewegung – gegen Autorität, Scham und Anpassung an ein repressives System. Love yourself bedeutet in etwa soviel wie: Du bist wertvoll – auch ohne Leistung und ohne Anpassung. Es ist die Zeit von Feminismus, Antipsychiatrie, Selbsthilfegruppen. Selbstannahme wird von nun an politisch.
Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus wendet sich das Blatt nochmal. Was als Befreiung gedacht war, wird zur Technik – zur Methode der Selbstverbesserung und zur Voraussetzung von Erfolg. Die Frage ist nicht mehr, wie ich mich selbst annehme – sondern, wie ich durch Selbstliebe besser funktioniere.
Selbstliebe und die neoliberale Umdeutung
Im neoliberalen Zeitalter ist aus dem emanzipatorischen Ruf nach Selbstannahme ein stilles Muss geworden. „Liebe Dich selbst“ – klingt freundlich, meint aber: Sei funktionsfähig.
Wer sich nicht liebt, gilt als defizitär. Ein Mangel, der gleich alles betrifft: Beziehungen, Arbeit, Gesundheit oder Glück. Und mehr noch: Wer sich nicht liebt, ist eben selbst schuld.
Was einmal Selbstrespekt war, ist heute die Bedingung für Resilienz, Anpassung und Produktivität. Wer scheitert, scheitert nicht an Umständen – sondern am eigenen Mindset. Sätze wie „Du kannst nur andere lieben, wenn Du Dich selbst liebst“ oder „Wie Du mit Dir umgehst, bestimmt Deinen Erfolg“ zeigen, wie sehr das Soziale psychologisiert wurde.
Nicht das System ist dysfunktional – sondern das Ich, Es soll sich lieben, optimieren, neu erfinden. In dieser Logik liegt aber eine stille Grausamkeit: Wer unter Druck steht, soll sich entspannen. Wer erschöpft ist, soll achtsam sein. Wer ausgebeutet wird, soll sich selbst wertschätzen. Sie verkehrt letztlich Schmerz in Schuld und Erschöpfung in persönliches Versagen. Man nennt es Selbstfürsorge, wenn der Einzelne sich selbst wieder flottmachen muss – für ein System, das ihn zermürbt. Die Zumutungen bleiben – nur tragen sie jetzt ein freundliches Lächeln.
Liebe Dich selbst: Die Ökonomie des Selbst
Unter dem Banner der Selfcare boomt eine ganze Industrie: Bücher, Coachings, Podcasts, Retreats und Wellness, Achtsamkeits-Apps, Journaling Kits und Apps oder Skin-Care-Routinen oder ganz banales wie besagte Wohlfühltees. Man soll sich lieben – aber bitte mit den richtigen Produkten. Sich kümmern heißt heute: investieren. Und zwar in sich selbst.
Denn wer sich liebt, zeigt das auch: auf Instagram etwa, im „Ich bin es mir wert“-Gestus der Werbung – in der Sprache des Erfolgs. Die Botschaft: Wer sich liebt, bleibt dran. Und wer an sich arbeitet, ist nicht nur resilient – sondern auch verwertbar. Das Ich wird zur Ressource. Planbar und steuerbar. Du sollst Dich nicht einfach gut fühlen. Du sollst Dich lohnen. Denn:
Ich liebe mich – also investiere ich!
Ich liebe mich – also optimiere ich!
Ich liebe mich – also funktioniere ich!
So wird Liebe zur Leistung. Und das Ich zur Marke. Zur Personal Brand, die gepflegt und kommuniziert werden muss. Was früher Selbstannahme hieß, heißt heute Selbstmanagement. Was einmal innerer Weg war, ist zur unternehmerischen Aufgabe geworden und wird zur Schau gestellt.
Die Kehrseite: Schuld, Scham, Erschöpfung
In einer Kultur, in der Selbstliebe zur Norm geworden ist, wird ihr Fehlen zum Makel. Wer sich nicht liebt, passt nicht ins Bild – wirkt unvollständig, therapiebedürftig. Selbstzweifel gelten nicht mehr als Lebensphasen, sondern als Störung.
Die Folge ist doppelter Druck: Der Zwang zur Selbstliebe – und die Scham, daran zu scheitern. Viele Menschen sind nicht „unfähig“ oder „nicht resilient“ – sie sind einfach erschöpft. Müde vom Optimierungsdruck. Müde vom ewigen „Sei gut zu dir“, das längst zu „Mach was aus dir“ geworden ist.
Diese Rhetorik der Selbstliebe verschleiert, was sie erzeugt: Einsamkeit, Vergleich, Überforderung. Und sie schließt gerade jene aus, die sie angeblich stärken will: die Zweifelnden, die Gebrochenen, die Widersprüchlichen.
Philosophische Perspektive: Kritik an der positiven Affirmation
Die Forderung nach Selbstliebe wirkt harmlos – oder besser – heilsam. Philosophisch betrachtet ist sie Teil einer Machtstruktur – einem unsichtbaren Netz von Erwartungen, Regeln und Normen, das unser Denken und Handeln prägt. Der französische Poststrukturalist Michel Foucault argumentiert: Moderne Subjekte werden nicht mehr von außen gezwungen, sondern von innen diszipliniert. Nicht das Gefängnis zähmt uns – sondern der Spiegel. Nicht der König herrscht – das Ich tyrannisiert sich selbst von innen.
Der Satz „Liebe dich selbst“ ist eine Machttechnik. Nur wirkt er nicht repressiv, sondern affirmativ – und ist gerade deshalb so wirksam. Denn er fordert keine Unterwerfung, sondern Identifikation mit dem glücklichen, autonomen, optimierten Selbst. Macht operiert heute nicht mehr durch Verbote, sondern durch Selbstverwirklichung. Das Subjekt gehorcht, weil es glaubt, es wolle es selbst.
Byung-Chul Han nennt genau das Psychopolitik: Eine Herrschaft, die sich im Inneren fortsetzt – durch Selbstkontrolle, Selbstoptimierung, Selbstbeobachtung. Der neoliberale Mensch rebelliert nicht – er managt sich. Und wenn er scheitert, scheitert er an sich.
Auch Adorno warnt vor diesem Zwang zur Positivität. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ – das heißt: Wer sich im kranken System einrichtet, verliert den Blick für dessen Krankheit. Achtsamkeit, Akzeptanz, Affirmation werden am Ende zur Betäubung.
„Liebe Dich selbst“: Abschließendes
„Liebe dich selbst“ klingt nach Heilung, ist aber der weichgespülte Imperativ, sich selbst zu verwalten. Was wie Fürsorge wirkt, ist am Ende bloß Funktionserhalt.
Wirkliche Selbstannahme entsteht nicht durch Mantras – sondern durch ein Umfeld, in dem niemand sich ständig beweisen muss, um wertvoll zu sein.
Ein Umfeld, das nicht fragt: Wie liebst du dich selbst?, sondern: Wer ist für dich da, wenn du es nicht kannst?
Wahre Liebe beginnt dort, wo das Ich aufhört, sich ständig zu optimieren – und einfach sein darf.
Externe Links und Literatur:
Nordmann, J. (2017) Das neoliberale Selbst: Zur Genese und Kritik neuer Subjektkonstruktionen. ICAE Working Paper Series No. 22. Linz: Johannes Kepler Universität Linz. Verfügbar unter: https://www.econstor.eu/bitstream/10419/171398/1/icae-wp22.pdf (abgerufen am: 1. Juli 2025).
Wikipedia: Selbstliebe
Interne Links:
„Du musst nur wollen“ – Der Mythos vom Willen in Zeiten der Erschöpfung
Ich will frei sein – sagt das Ich.
Das „Ich“ als Ort: Poststrukturalismus und das Ende des Subjekts
Entdecke mehr von Finger im Dasein
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
