Liminalität: Victor Turner – die transformative Kraft von Ritualen
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Victor Turner: „Liminalität“ und die transformative Kraft von Ritualen
Im letzten Artikel habe ich mich mit der sozialen Funktion des Rituals auf der Grundlage der Überlegungen von Émile Durkheim beschäftigt. Während Durkheims Fokus auf der gesellschaftlichen Konstitution und Stabilität liegt, zeichnet hingegen Victor Turner ein dynamisches Bild der Gesellschaft und beschäftigt sich mit der Liminalität und der transformativen Kraft des Rituals. In den 1950er Jahren erforschte er als Feldforscher in Afrika die rituellen Praktiken der „Ndembu“, insbesondere deren Heilungs- und Initiationsrituale. Diese Rituale, die Krankheiten und Unglück abwehrten und soziale Konflikte lösten, zeigten ihm die wichtige Rolle von Ritualen bei der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung und im Umgang mit Krisen (Bräunlein 2012, S. 34-35).
Turner, der sich in der Folge intensiv mit Übergangsriten auseinandersetzte, übernahm diesen Begriff der „rites de passage“ von dem deutsch-französischen Ethnologen Arnold van Gennep (1873-1957). In seinem Aufsatz „Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites“ aus dem Jahr 1967 untersucht Turner das Phänomen der Veränderung im menschlichen Wesen, insbesondere in Momenten, in denen die gewohnten sozialen Strukturen und Verhaltensweisen vorübergehend suspendiert sind (Bräunlein 2012, S. 55).
Übergangsrituale
Arnold van Gennep prägte den Begriff der Übergangsrituale in seinem Werk „Les rites de passage“, wobei er diese in drei Phasen unterteilt: Trennung, Schwelle und Angliederung. Er beobachtete, dass solche Rituale in vielen Kulturen vorkommen, ihre spezifische Ausgestaltung jedoch kulturspezifisch variiert (Fischer-Lichte 2021, S. 54). In der Phase der Trennung erfolgt eine symbolische Loslösung des Individuums oder der Gruppe von ihrer bisherigen Position in der sozialen Ordnung oder von bestehenden kulturellen Zuständen. Die mittlere Phase, auch Schwellenphase genannt, zeichnet sich durch eine gewisse Unbestimmtheit aus, da sich das rituelle Subjekt in einem Übergangsbereich befindet, der nicht die Merkmale des vorherigen oder zukünftigen Zustands aufweist. In der letzten Phase der Wiedereingliederung ist der Übergang abgeschlossen, und das Individuum oder die Gruppe kehrt in einen stabilen Zustand zurück, mit klar definierten Rechten und Pflichten innerhalb der sozialen Struktur. Es wird erwartet, dass sie sich an die etablierten Normen und ethischen Richtlinien der Gemeinschaft halten (Turner 1979, S. 235).
Abhängig vom Grad der Trennung zwischen verschiedenen Zuständen können Übergangsphasen Krisen für alle Beteiligten auslösen. Sowohl das Individuum, das eine Grenze überschreitet, als auch dessen soziales Umfeld sind gefordert, sich neu zu orientieren und sich an die veränderten Bedingungen anzupassen. Die prototypischen Beispiele für derartige Übergänge, die potenziell krisenhaft sind, unterstreichen die Anpassungsschwierigkeiten: Schwangerschaft, Geburt, Bestattung, Heirat und Trennung, Initiationsriten, die Ankunft von Fremden. Diese Ereignisse konstituieren nicht nur individuelle Lebenskrisen, sondern bedrohen auch potenziell die soziale Ordnung. Eine Hochzeit etwa verändert bestehende soziale und ökonomische Strukturen, definiert Pflichten und Verantwortlichkeiten neu; Neuankömmlinge in Bildungseinrichtungen oder Berufsanfänger könnten die bestehende Ordnung der aufnehmenden Institution infrage stellen; Tod und Krankheit verweisen auf den Einfluss unkontrollierbarer Kräfte. Rituale eignen sich, so die Grundannahme, zur Bewältigung dieser Krisen (Volbers 2014, S. 69).
„Liminalität“
Den Zustand während der Schwellenphase, bezeichnet Victor Turner als „Liminalität“ (vom lateinischen „limen“ für Schwelle), was er als eine Phase labiler Zwischenexistenz definiert (Fischer-Lichte 2021, S. 54). Diese Phase ist charakterisiert durch eine Zeit, in der Individuen oder Gruppen sich in einem Übergang befinden, der sie zwischen zwei Zuständen verortet – sei es in Bezug auf soziale Positionen oder Lebensphasen. Turner erweitert dabei den Begriff des „Zustands“ so, dass er nicht nur rechtlichen Status, Beruf oder soziale Positionen umfasst, sondern auch kulturell anerkannte Lebensphasen wie Kindheit, Ehe oder Berufung sowie mentale und emotionale Zustände einschließt. Zugleich betont er, den Begriff eines „Zustands des Übergangs“ im Kontext der Liminalität bewusst zu meiden, und spricht stattdessen von einem dynamischen Prozess oder einer Transformation, ähnlich dem Übergang von Wasser zum Siedepunkt oder der Metamorphose einer Larve zum Schmetterling (Turner 1979, S. 234). Damit unterstreicht Turner die einzigartige Natur der Liminalität als einen Moment der Ambiguität und des Potenzials für kulturelle Veränderungen, der sich von einem festen „Zustand“ unterscheidet und markiert so eine kulturell signifikante Veränderung von einem anerkannten Zustand zum anderen.
In Turners Theorie des Schwellenzustands gilt der Neophyt als „tabula rasa“, bereit, mit für den neuen sozialen Status relevantem Wissen und Eigenschaften geprägt zu werden. Die Neophyten durchlaufen physische und psychische Prüfungen, wie Torturen oder Demütigungen, die sowohl den alten Status symbolisch auflösen als auch auf die neuen Verantwortlichkeiten vorbereiten. Diese Prozesse unterstreichen die Prägung des Individuums durch die soziale Gemeinschaft und betonen, dass ohne diese soziale Verankerung das Individuum formlos bleibt (Turner 2005, S. 102-103). Schließlich wird die liminale Periode als eine Zeit dargestellt, in der traditionelle Hierarchien und soziale Unterschiede vorübergehend aufgehoben sind, was zu einem verstärkten Gemeinschaftsgefühl und einer egalitären Kameradschaft zwischen den Neophyten und der Gemeinschaft führt. Turner hebt hervor, dass in dieser Phase die soziale Struktur vorübergehend durch eine Gemeinschaft von Gleichgestellten, die er als „Communitas“ bezeichnet, ersetzt wird, was die transformative und erneuernde Kraft von Übergangsriten unterstreicht (Turner 1979, S. 237-241).
Liminalität und „Communitas“
Turners Konzept der „Communitas“ bezieht sich auf eine intensivierte Gemeinschaftserfahrung, die während der Liminalität von Übergangsritualen entsteht und tiefgreifende Veränderungen sowohl für die Individuen, die am Ritual teilnehmen, als auch für die gesamte Gesellschaft mit sich bringt. Turner hebt hervor, wie bestimmte Rituale, wie etwa Übergänge vom Jugendlichen zum Erwachsenen oder Heiratszeremonien, tiefgreifende Veränderungen sowohl für Einzelpersonen als auch für die Gesellschaft als Ganzes mit sich bringen können. Turner sieht Rituale als ein Werkzeug, um die Gemeinschaft zu erneuern und zu festigen. Dabei hebt er zwei wichtige Aspekte hervor: Zum einen erzeugen Rituale ein verstärktes Gefühl der Gemeinschaft, was Turner als Communitas bezeichnet. Dieses Gefühl überwindet die gewöhnlichen sozialen Barrieren zwischen den Menschen und schafft ein tiefes Gefühl der Verbundenheit und Gleichheit. Zum anderen spielen Symbole in diesen Ritualen eine zentrale Rolle, indem sie komplexe und vielschichtige Bedeutungen tragen, die es den Teilnehmenden ermöglichen, die rituellen Handlungen auf unterschiedliche Weise zu interpretieren. Diese Aspekte tragen gemeinsam dazu bei, dass die Gemeinschaft gestärkt und neu geformt wird, wodurch die soziale Ordnung erneuert und die Bindungen innerhalb der Gruppe gefestigt werden (Fischer-Lichte 2021, S. 55).
Communitas: Struktur und Anti-Struktur
Wesentlich für das Verständnis der Communitas ist Turners Unterscheidung in Struktur und Anti-Struktur. Struktur bezieht sich in Turners Theorie auf die geregelte, geordnete soziale Realität des Alltagslebens. Diese Struktur ist durch soziale Hierarchien, Rollen, Normen und Erwartungen gekennzeichnet, die das Verhalten der Menschen und ihre Interaktionen innerhalb der Gesellschaft regeln.
Die Communitas ist hingegen anti-strukturell und bezieht sich auf den Zustand, während der liminalen Phase von Übergangsritualen, in dem die normalen sozialen Strukturen vorübergehend aufgelöst werden. In dieser Phase werden die Teilnehmer von ihren normalen sozialen Positionen gelöst und erleben einen Zustand der Gleichheit, der oft als intensiv gemeinschaftlich und egalitär beschrieben wird. Turner sah die Communitas als eine grundlegende menschliche Bindungserfahrung, die außerhalb der normalen sozialen Strukturen existiert (Bräunlein 2012, S. 54-55).
Turner versteht das Leben sowohl von Individuen als auch von Gruppen als einen dialektischen Prozess, der die wiederkehrende Erfahrung von Gegensätzen wie Ober- und Unterordnung, Communitas und strukturelle Ordnung, Homogenität und Differenzierung sowie Gleichheit und Ungleichheit umfasst. Der Wechsel von einem niedrigeren zu einem höheren Status vollzieht sich über ein Zwischenstadium der Statuslosigkeit, in dem die kontrastierenden Zustände einander bedingen und für die Entwicklung unverzichtbar sind. Da jede Gesellschaft aus zahlreichen Individuen, Gruppen und Kategorien besteht, die jeweils ihre eigenen Entwicklungszyklen durchlaufen, existiert zu jeder Zeit eine Vielfalt von fixierten Positionen und Statuswechseln. Somit wird jedes Individuum im Laufe seines Lebens abwechselnd mit Struktur und Communitas sowie mit Zuständen des Verharrens und Übergängen konfrontiert (Turner 2005, S. 97).
Turners Konzept der Communitas bietet einen tiefen Einblick in die transformative Kraft von Übergangsritualen, die nicht nur Individuen, sondern auch die gesamte Gemeinschaft erneuern. Durch das vorübergehende Aufheben sozialer Strukturen ermöglichen diese Rituale eine Erfahrung von Gleichheit und intensiver Gemeinschaftlichkeit, die die sozialen Bindungen stärkt und die Teilnehmenden auf ihre neuen Lebensabschnitte vorbereitet.
Schlussbetrachtung
Die Ausführungen von Victor Turner zu den Konzepten der Liminalität und Communitas illustrieren die transformative Kraft von Ritualen weit über die Grenzen traditioneller anthropologischer Betrachtungen hinaus. Die interdisziplinäre Anwendung dieser Konzepte bietet vielfältige Möglichkeiten, von der Gestaltung pädagogischer Programme bis hin zur therapeutischen Praxis, wobei die bewusste Einbeziehung von Übergangsritualen das Potenzial birgt, individuelle Entwicklungsprozesse zu unterstützen und zu erleichtern.
Gerade in unserer heutige Zeit, die von rapidem sozialem und technologischem Wandel geprägt ist, erscheint die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch gemeinsame rituelle Praktiken als ein bedeutsames Unterfangen. Diese Praktiken können als Katalysator für die Erneuerung von Gemeinschaften dienen, indem sie einen gemeinsamen Erfahrungsraum schaffen, der die Neuverhandlung von Identitäten ermöglicht und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert.
Des Weiteren spielen Rituale eine zentrale Rolle bei der Konfliktlösung und dem sozialen Wandel. Indem sie die Möglichkeit bieten, soziale Spannungen aufzufangen und zu verarbeiten, können sie als Instrumente zur Förderung von Verständigung und Versöhnung in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche dienen. Die Anerkennung der Bedeutung solch ritueller Praktiken kann dazu beitragen, Brücken zu bauen und ein tieferes Verständnis zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen zu fördern.
Es bleibt festzuhalten, dass die Theorien Turners bei Weitem nicht nur akademische Einsichten liefern, sondern auch praktische Handlungsanweisungen für die Bewältigung der Herausforderungen einer sich stetig wandelnden Welt anbieten. Die bewusste Integration von Übergangsriten in den sozialen und kulturellen Alltag könnte ein Schlüssel zur Förderung individueller Resilienz, gesellschaftlicher Kohäsion und kollektiver Erneuerung sein. Diese Erkenntnisse eröffnen neue Perspektiven für die Anwendung anthropologischer Theorien in interdisziplinären Kontexten und unterstreichen die Notwendigkeit, die transformative Kraft von Ritualen in den Mittelpunkt sozialer und kultureller Praktiken zu rücken.
Literaturverzeichnis
Bräunlein, P. J. (2012). Zur Aktualität von Victor W. Turner: Einleitung in Sein Werk (2012. Aufl.).
Fischer-Lichte, E. (2021). Performativität: Eine kulturwissenschaftliche Einführung. utb GmbH.
Turner, V. (1979). Betwixt and between: The liminal period in rites of passage. In W. A. Lessa & E. Z. Vogt (Hrsg.), Reader in comparative religion: An anthropological approach (S. 233–244). Harper & Row.
Turner, V. (2005). Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur (1. Aufl.). Campus.
Volbers, J. (2013). Performative Kultur: Eine Einführung (2014. Aufl.). Springer VS.
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Externe Links:
YouTube: 10e Seven Classic Theories of Religion – Victor Turner on rites of passage
Universität Basel: Victor Turners Ritualtheorie