Mäßigung: Meden agan – die Vermeidung von Übermaß
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„Meden agan“ oder die Vermeidung von Übermaß und was das alles mit persönlichem Glück zu tun hat
Aufforderungen wie „halte Maß“ oder „halte die goldene Mitte ein“ mögen banal oder sogar abgedroschen klingen. Doch hinter diesen scheinbar simplen Imperativen verbirgt sich eine tiefgründige Philosophie. Denn so besserwisserisch wie das auch anmutet, liegt in diesen Aussagen eine 2500 Jahre alte Weisheit. Die Zauberformel lautet „Meden agan“ was so viel bedeutet wie „nichts zu viel“ oder „nichts im Übermaß“. Dahinter liegt die Idee der „Mäßigung“ oder des „Maßhaltens“ als eine Haltung, ein Verhältnis oder genauer, ein Selbstverhältnis. Was das aber alles mit persönlichem Glück zu tun hat, schauen wir uns im Folgenden an.
Meden agan
Solon der Weise, so will es der Mythos, begegnete bei seinem Besuch des Orakels von Delphi den Worten „meden agan“, die im Tempel des Apollon eingraviert waren. Er machte sie zu einer Maxime, die sein Handeln leiten sollte. Er wurde letztlich bekannt für seine Politik der Mäßigung, seinen „solonischen Reformen“, um die extreme Kluft zwischen Arm und Reich zu überwinden, soziale Spannungen zu mildern und Gesetze zu schaffen, die das Gleichgewicht in Athen herbeiführen sollten.
Aristoteles Philosophie verkörpert das Prinzip der Mäßigung in besonderem Maße. In seiner „Nikomachischen Ethik“ entwickelt Aristoteles das Konzept der „mesotes“ oder der „goldenen Mitte“ und wendet sie auf die Tugend an. Großzügigkeit etwa ist ein Wert, der zwischen Geiz und Verschwendung zu finden ist oder Tapferkeit, die zwischen Feigheit und Mut liegt. Auch wenn Aristoteles den Ausdruck „meden agan“ nicht direkt verwendet, ist seine Lehre von der Tugend als mittlerem Weg zwischen Extremen im Geist dieser Maxime verwurzelt.
Diese Maxime war nicht nur philosophisch bedeutsam, sondern auch tief in der griechischen Kultur verankert. Sie prägte das alltägliche Leben und den künstlerischen Ausdruck, wo das Streben nach Harmonie und Ausgewogenheit zentral war. Darüber hinaus beeinflusste „meden agan“ auch andere philosophische Schulen, wie die Stoa, die ebenfalls die Mäßigung als Schlüssel zum Glück sahen.
Selbst in der römischen Philosophie hinterließ „meden agan“ Spuren. Denker wie Seneca und Cicero übernahmen das Prinzip der Mäßigung in ihre ethischen Lehren, was zeigt, dass diese Maxime über die Jahrhunderte hinweg an Bedeutung und Relevanz gewann.
„Meden agan“ als Lebensphilosophie und Haltung der Mäßigung
„Meden agan“ ist mehr als nur ein altertümlicher Spruch – es ist eine Lebensphilosophie, die bis heute ihre Gültigkeit bewahrt hat. In einer Welt, die oft von Extremen und der Gefahr der Hybris geprägt ist, erinnert uns diese Maxime daran, dass wahres Glück nicht im Exzess, sondern im Gleichgewicht liegt. Es geht darum, bewusst zu leben, sich selbst zu hinterfragen und in allen Dingen das rechte Maß zu finden.
Maßvolles Handeln ist dem eigenen Dasein nicht nur nicht schädlich, sondern gerade förderlich. Wer übermäßig isst, wird dick und schadet seiner Gesundheit oder riskiert seine Beweglichkeit, wer maßlos Alkohol trinkt, riskiert ebenso seine Gesundheit, wer übermäßige Erwartungen oder Forderungen an seine Mitmenschen hat, erntet dadurch Spannungen, wer sich übermäßig selbst kritisiert oder unrealistisch hohe Erwartungen an sich selbst stellt, riskiert Enttäuschungen und ein negatives Selbstbild oder wer übermäßig Informationen konsumiert riskiert Überbelastungen, Stress oder Unsicherheit. Auch der Drang nach übermäßiger Aufmerksamkeit und Anerkennung führen letztlich zu Enttäuschung und Unzufriedenheit, vor allem wenn ebenjene einmal ausbleibt.
Die Mäßigung als Haltung ermöglicht es uns, unser Leben in Balance zu halten und unser volles Potential auszuschöpfen. Sie schützt uns vor den Fallstricken des Übermaßes und bewahrt uns davor, in Extremen zu verharren, die uns letztlich schwächen. In der Mäßigung liegt die wahre Kraft – die Kraft, ein erfülltes, gesundes und zufriedenes Leben zu führen, das nicht durch Exzesse getrübt wird. „Meden agan“ erinnert uns daran, dass das rechte Maß nicht nur eine Tugend ist, sondern der Weg zu einem Leben in Fülle und innerem Frieden.
Meden agan ist nicht Mittelmaß, ist nicht Durchschnittlichkeit
Mittelmaß ist kein schmeichelhafter Begriff. Wer „mittelmäßig“ ist, steht im Verdacht, sein Potential nicht voll auszuschöpfen. „Meden agan“ ist jedoch gerade kein Mittelmaß. Vielmehr bedeutet es, das eigene Potential voll zu entfalten, indem man die Extreme meidet, die das eigene Leben einschränken.
„Meden agan“ ist nicht das Verbleiben in Durchschnittlichkeit, sondern die Kunst, das Gleichgewicht zu finden, das es uns ermöglicht, unser volles Potential auszuschöpfen. Es geht darum, die Mitte zu wählen, weil in ihr die Freiheit liegt, sich in allen Bereichen des Lebens weiterzuentwickeln und zu wachsen. Die Balance, die „Meden agan“ anstrebt, ist der Schlüssel zu einem Leben, in dem alle Fähigkeiten und Talente zum Tragen kommen können, ohne durch die Last von Extremen und einseitiger Vereinnahmung gebremst zu werden.
„Meden agan“ ist nicht das Verharren im Mittelmaß, sondern die bewusste Entscheidung, das Beste aus sich herauszuholen – in jedem Bereich des Lebens.
Mäßigung: Was hat das alles mit persönlichem Glück zu tun?
Meden agan, das Prinzip der Mäßigung, mag zunächst wie eine Einschränkung erscheinen, ein „Fahren mit angezogener Handbremse“, doch in Wirklichkeit ist es ein Weg zu tieferem, nachhaltigem Glück. Die Philosophen der Antike, wie Aristoteles und Epikur, sahen das Glück (Eudaimonia) nicht im kurzlebigen Genuss oder in der Anhäufung von Reichtum, sondern in einem Leben, das in Einklang mit der eigenen Natur und den Grundwerten steht.
Aristoteles lehrte, dass wahres Glück durch das Streben nach Tugend und Ausgeglichenheit erreicht wird. Die Tugenden selbst liegen in der Mitte zwischen zwei Extremen – ein Gedanke, der tief in der Idee des „meden agan“ verwurzelt ist. Das Streben nach dieser Mitte führt nicht nur zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit, sondern auch zu innerem Frieden und Zufriedenheit.
Wer Maß hält, befreit sich von den Zwängen des Übermaßes und der Abhängigkeiten. Ein Leben, das von Mäßigung geprägt ist, ermöglicht es, die Freuden des Lebens zu genießen, ohne von ihnen einseitig vereinnahmt und beherrscht zu werden. Es schafft Raum für Reflexion, für das Bewusstwerden eigener Bedürfnisse und für die Wertschätzung der kleinen Dinge, die im Getümmel der Extreme oft übersehen werden.
Das Vermeiden von Extremen – sei es in der Arbeit, in der Politik, im Konsum oder in den zwischenmenschlichen Beziehungen und den eigenen Erwartungen– schützt nicht nur vor körperlicher und seelischer Erschöpfung, sondern fördert auch die Fähigkeit, langfristig zufrieden zu sein. Mäßigung trägt dazu bei, dass wir uns selbst nicht überfordern, unsere Ressourcen bewahren und gleichzeitig unsere Lebensqualität steigern. In dieser Balance finden wir die Freiheit, unser volles Potential zu entfalten und die wahre Bedeutung von Glück zu erfahren.
Im Grunde bedeutet „meden agan“ nicht, weniger vom Leben zu haben, sondern das Leben in seiner Fülle zu genießen, ohne dabei von Extremen überwältigt zu werden. Es ist die Kunst, sich in der Mitte zu finden, dort, wo sich Stabilität und Zufriedenheit entfalten können. Diese innere Balance ist der Schlüssel zu einem erfüllten und glücklichen Leben.
Abschließende Gedanken
Der Gedanke der Mäßigung ist nicht nur in der abendländischen Philosophie prominent. Auch in anderen Kulturen und Traditionen wird Mäßigung als Schlüssel zu einem erfüllten und harmonischen Leben betrachtet. Im Buddhismus etwa ist der „mittlere Weg“ eine zentrale Lehre Buddhas, die Mäßigung zwischen Askese und Luxus betont. Dieser Weg führt zur Befreiung vom Leiden und zur Erleuchtung. In der chinesischen Philosophie betont Konfuzius die Wichtigkeit der „Goldenen Mitte“, die auf Harmonie und Balance in allen Aspekten des Lebens abzielt. Der Taoismus fördert das Leben im Einklang mit dem „Tao“ oder „Weg“, das oft durch Mäßigung und Einfachheit erreicht wird.
Obwohl das Prinzip der Mäßigung uralt ist, scheint es in unserer heutigen Gesellschaft an Bedeutung verloren zu haben. Die postmoderne Welt ist geprägt von Überkonsum und überhöhten Erwartungen an uns selbst und unsere Umgebung. Wir jagen Extremen nach, sei es im Streben nach materiellem Wohlstand, im Perfektionismus oder in der Selbstoptimierung. Doch gerade in dieser hektischen und überfordernden Welt könnte die Rückbesinnung auf „meden agan“ den Schlüssel zu einem tiefergehenden Glück und zu einem erfüllteren Leben bieten.
Mäßigung ist nicht Verzicht, sondern die bewusste Wahl, das Leben in seiner Fülle zu genießen, ohne sich in Exzessen zu verlieren. Es ist der Weg, das eigene Potential auszuschöpfen, ohne sich selbst zu überfordern. In der Mitte liegt nicht das Mittelmaß, sondern die wahre Kraft und Freiheit. „Meden agan“ erinnert uns daran, dass das Streben nach Ausgewogenheit nicht nur eine Tugend der Vergangenheit ist, sondern eine zeitlose Weisheit, die uns auch heute noch den Weg zu einem harmonischen und erfüllten Leben weisen kann.
Externe Links:
ARD Audiothek: Das rechte Maß – Über die vergessene Tugend der Mäßigung
Metzler Lexikon Philosophie: Maß
Interne Links:
Aristoteles: Praxis vs. Poiesis und was das alles mit persönlichem Glück zu tun hat
Aristoteles: Nikomachische Ethik – Zeitlose Einsichten für die moderne Welt