Man lebt nicht vom Brot allein
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Neues aus Dystopia

Man lebt nicht vom Brot allein – Neues aus Dystopia

Lesedauer 5 Minuten

Man lebt nicht vom Brot allein

Ein Mann sitzt an einem Tisch. Vor ihm ein Teller, darauf eine Gabel, ein Messer, eine Serviette, gefaltet zu einem Dreieck. Der Teller ist leer. Man hat ihm gesagt, das Essen sei auf dem Weg. Er nickt. Wartet. Wartet weiter. Ein Kellner tritt heran, mit einer Kanne Kaffee. „Ein wenig Geduld“, sagt der Kellner und gießt ein. Der Kaffee dampft, er riecht nach nichts. Der Mann betrachtet die Tasse, hebt sie an die Lippen. Die Flüssigkeit ist heiß, aber geschmacklos, oder vielleicht ist er es, der nichts mehr schmeckt. Er blickt um sich. Andere Tische, andere Menschen. Sie alle warten. Manche haben bereits Brot bekommen, kleine, runde Laibe, von denen sie mit vorsichtigen Bissen nehmen. Sie sprechen leise miteinander, nicken bedächtig, als ginge es um große Dinge. Einer zeigt auf den leeren Teller des Mannes, sagt: „Man lebt nicht vom Brot allein.“ Der Mann nickt. Natürlich. Aber man lebt auch nicht ohne.

Nach einiger Zeit kehrt der Kellner zurück. „Ihr Essen ist unterwegs.“

„Woher wissen Sie das?“

„Es wurde mir gesagt.“

„Und woher wissen die es?“

„Es wurde ihnen gesagt.“

Der Mann denkt nach. Er kann sich nicht mehr erinnern, etwas bestellt zu haben. Aber er hätte gerne ein Stück Brot. Wenigstens Brot.

„Man muss Geduld haben“, sagt der Kellner.

„Geduld wofür?“

„Für die Dinge, die kommen.“

„Und wenn sie nicht kommen?“

„Dann haben Sie Geduld gehabt.“

Der Mann legt die Gabel beiseite. Sein Magen zieht sich zusammen. In der Ecke des Raumes hängt eine Uhr, aber sie zeigt keine Zeit an, nur das Wort später.

Plötzlich, ein Geräusch. Ein Teller, irgendwo weiter hinten, wird auf den Tisch gestellt. Köpfe drehen sich, die Gespräche verstummen. Ein Kellner hebt den Deckel einer silbernen Servierplatte. Der Mann kann den Inhalt nicht sehen, aber er hört ein leises „Ah“ von einem der Gäste. Danach wieder Schweigen.

Der Kellner kommt zurück. „Noch einen Kaffee?“

„Nein“, sagt der Mann.

Der Kellner schaut ihn an. „Sie haben ja kaum getrunken.“

„Er schmeckt nach nichts.“

Der Kellner nickt. „Geschmack ist eine Frage der Erwartung.“

Vielleicht, denkt er, ist es besser, nicht zu essen. Vielleicht ist es das Essen, das ihn an diesen Tisch fesselt. Vielleicht wäre er längst fort, wenn der Hunger ihn nicht hielte. Jedenfalls war er unruhig geworden.

Hinter ihm tuscheln zwei Gäste. Er hört Bruchstücke: „Warten ist wichtig.“ – „Man muss es verdienen.“ – „Vielleicht ist es eine Prüfung“. „Es ist bald soweit“, „Bald ist gut“. „Bald ist immer gut“. „Wir müssen nur warten“.

Der Kellner beugt sich zu ihm. „Man lebt nicht vom Brot allein.“

Der Mann blickt ihn an. „Und wovon dann?“

Der Kellner lächelt. „Von der Gewissheit, dass es kommt.“

„Und wenn es doch eine Lüge ist?“

Der Kellner sah den Mann an, zog die Augenbrauchen hoch, erhob den Zeigefinger und beugte sich leicht nach vorne: „Lügen und Wahrheiten schmecken gleich, solange man daran glaubt.“

Der Mann sagte nichts. Er hörte die Stimmen um sich herum, sah die leeren Teller, die leeren Blicke. Alles war voller Worte – in Gesprächen, in Versprechen, in Beruhigungen. Sie kamen und gingen, waberten durch den Raum, weich und formbar wie Brotteig, aber ohne Substanz.

An einem Tisch in der Ecke hinter sich, erblickt er einen alten Mann. Sein Teller ist leer, seine Hände ruhen auf dem Tischtuch.

„Seit wann sind Sie hier?“, fragt der Mann.

Der Alte blinzelt langsam. „Ich weiß es nicht mehr.“

„Und Ihr Essen?“

„Es ist unterwegs.“

Die Tür öffnet sich. Ein Mann tritt ein, setzt sich mit einem erwartungsvollen Lächeln an einen Tisch.

„Es soll gut sein hier“, sagt er leise.

Der Mann am Tisch nickt. „Ja.“

Der Neue schaut auf den leeren Teller vor sich. „Ich freue mich schon.“

Draußen, auf der Straße, zieht ein Karren vorbei. Darauf Säcke mit Mehl, Körbe mit Obst, ganze Brotleibe. Ein Mann sitzt darauf, sein Gesicht ausdruckslos, seine Hände ruhen auf den Säcken. Er scheint nicht zu warten.

Der Mann rückt seinen Stuhl zurück. Ein leises Geräusch. Er erhebt sich, langsam, wie einer, der lange gesessen hat. Ein Gast am Nebentisch hält inne, das Brotstück in der Hand. Ein anderer schaut nur flüchtig auf, als hätte er kurz etwas bemerkt, sich dann aber entschieden, es zu ignorieren. Der Kellner tritt sofort an ihn heran. „Wohin gehen Sie?“

„Ich habe kein Essen bestellt.“

„Aber Ihr Essen kommt gleich.“

„Ich glaube nicht.“

Der Kellner schaut ihn an, verwundert. Dann sieht er zu den anderen Gästen, die ihn ebenfalls beobachten, mit mildem Erstaunen.

Als der Mann geht, dreht sich eine Frau an einem Tisch zu ihm. Ihre Stimme ist leise, fast besorgt.

„Man wartet doch“, sagt sie.

Der Mann hält inne. „Und wenn man nicht will?“

Die Frau runzelt die Stirn. „Dann… dann weiß ich nicht.“

Der Mann geht zur Tür. Ein leises Murmeln hinter ihm. „Man lebt nicht vom Brot allein.“ Er öffnet die Tür. Draußen ist es kalt. Hinter ihm, für einen kurzen Moment, dieses Murmeln.

„Er geht…“, sagt jemand.

„Er geht wirklich?“

Er tritt hinaus. Dann fällt die Tür ins Schloss.

Er atmet tief ein und verharrt für einen Moment. Er geht einen Schritt und sieht sich um. Er steht nun auf der Straße. Hinter ihm das Restaurant, in dem Worte serviert wurden, wo Teller leer blieben und die Uhr nur später zeigte. Vor ihm die Stadt – grau, reglos, als hätte sie ebenfalls vergessen, dass es einmal etwas anderes gab als Warten.

Er sieht den Karren mit den Brotleiben. Der Mann darauf blickt nicht zu ihm. Vielleicht bemerkt er ihn nicht. Vielleicht interessiert er sich nicht.

„Haben Sie Brot?“ fragt der Mann.

Der Karrenführer hebt langsam den Kopf. Sein Blick ist müde, als hätte er diese Frage schon zu oft gehört.

„Es wurde bereits verteilt.“

„Aber ich habe keins bekommen.“

Der Karrenführer zuckt die Schultern.

„Man lebt nicht vom Brot allein“, murmelt er.

Der Mann nickt. Natürlich nicht. Aber warum nur sind immer die satt, die so etwas sagen?

Er betrachtet seine Hände. Dünn. Vielleicht schon immer so gewesen. Vielleicht auch nicht. Er kann sich nicht erinnern.

Hinter ihm das Restaurant. Dort, wo die Menschen immer noch warten.

Der Karren rollt weiter.

Der Mann bleibt stehen. Der Wind weht kalt um seine Schultern.

Er schaut nach oben. Keine Sterne. Nur das matte Leuchten der Straßenlaternen, das die Stadt nicht heller, sondern blasser macht.

Auf einer Bank saß ein Mann mit einem halben Brot in der Hand. Er biss ab, langsam. Er wirkte lustlos.

Der Mann blieb stehen. „Ist es gut?“

Der andere kaute, kaute, schluckte.

„Man lebt nicht vom Brot allein“, sagte er.

Der Mann setzt einen Fuß vor den anderen und zieht langsam weiter.

Vielleicht gibt es dort Brot.



Externe Links:

Humboldt-Universität zu Berlin – Theologische Fakultät: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Deutschlandfunk: Die Macht der Worte (1/4)Wörter als Waffen

Spektrum.de: Die verblüffende Macht der Sprache

Interne Links:

Warme Worte füllen keinen Magen – oder das Elendorhytmische Kalkül


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