Man sagt
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Neues aus Dystopia

Man sagt – Neues aus Dystopia

Lesedauer 2 Minuten

Man saß in Reihen. Nicht zu nah, nicht zu weit.
Man sprach leise, wenn überhaupt.
Die Gespräche begannen fast immer gleich: „Man sagt“
„Man hat gehört…“
„Man weiß ja…“
„Man sollte…“

Es war nicht unhöflich, nur… unpersönlich.
Kein Name, kein Ich, kein Du.
Nur das, was man eben so sagte.

Der Junge bemerkte es zuerst in sich selbst.
Ein Wort, das ihm auf der Zunge lag.
„Ich.“
Er sprach es nicht aus. Aber es wuchs.

In der Schule wurde gelehrt, wie man spricht.
„Man sagt Danke.“
„Man sagt Entschuldigung.“
„Man fragt nicht zu viel.“
Die Lehrerin lächelte viel. Aber sie sagte nie: „Ich weiß es.“
Nur: „Man weiß es.“

Eines Tages, in einer Pause, sagte der Junge leise:
„Ich hab geträumt.“
Ein anderes Kind sah ihn erschrocken an.
Dann sagte es schnell: „Man träumt manchmal komische Sachen.“
Und das Gespräch war vorbei.

Zu Hause sprach man über das Wetter.
„Man sagt, es bleibt kühl.“
„Man hofft auf Regen.“
„Man muss dankbar sein.“

Er fragte: „Wer ist eigentlich dieses Man?“
Der Vater blinzelte. Die Mutter trank einen Schluck Wasser.
Dann sagte der Vater: „Man stellt solche Fragen nicht.“
Und die Mutter fügte hinzu: „Man ist vorsichtig.“

Er begann, die Gespräche zu beobachten.
Wie sie sich um das Eigentliche wanden.
Wie niemand meinte, was er sagte –
aber alle sagten, was man meinte.

Der Junge begann, still zu werden.
Er dachte noch, manchmal.
Aber seine Gedanken wurden weicher, formbarer.
Sie passten sich an.
Weniger Ecken, mehr Floskeln.

Einmal flüsterte ein alter Mann ihm zu:
„Man hat früher Ich gesagt.“
„Warum hat man aufgehört?“
Der Mann senkte den Blick.
„Man hat gesehen, was passiert, wenn man zu viel Ich ist.“

Der Junge stand eines Morgens auf.
Er schaute in den Spiegel und sagte:
„Ich.“

Es war still.
Aber die Stille hatte Gewicht.
Draußen lief jemand vorbei und murmelte:
„Man spricht nicht so.“

Er ging trotzdem weiter.
Sprach nicht viel. Aber wenn, dann sagte er:
„Ich denke.“
„Ich will.“
„Ich weiß es nicht.“

Die Leute sahen ihn an.
Manchmal mit Neugier.
Manchmal mit Sorge.
Einmal fragte jemand leise:
„Darf man das?“
Er antwortete:
„Ich weiß es nicht. Aber ich tue es.“

Aber, die Jahre vergingen.
Seine Stimme wurde ruhiger.
Die Fragen seltener.
Die Formulierungen klarer.
„Man lebt gut.“
„Man tut, was man kann.“
„Man ist, was man ist.“

Man wurde befördert.
Man gratulierte ihm.
Er sagte:
„Man freut sich über das Vertrauen.“

Später kam ein Junge zu ihm.
Noch jung, noch unruhig in der Sprache.
Er fragte:
„Warum sagt man nicht Ich?“
Er sah ihn an.
Lächelte freundlich.
Und sagte:
„Man fragt sich das manchmal.



Interne Links:

Heidegger: Das „Man“ und das ständige Ringen um Authentizität und Konformität

Der Blick – Neues aus Dystopia

Neues aus Dystopia: Warten

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Man lebt nicht vom Brot allein – Neues aus Dystopia

Externe Links:

Verywellmind.com – The Asch Conformity Experiments


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