
Möglichkeit und Notwendigkeit: Wie Freiheit Wirklichkeit schafft
Möglichkeit und Notwendigkeit: Wie Freiheit Wirklichkeit schafft
Das Leben beginnt mit einem nahezu endlosen Möglichkeitshorizont. Je älter wir werden, desto mehr Verantwortung tragen wir und desto häufiger stehen wir vor Entscheidungen, in denen sich unsere Möglichkeiten konkretisieren. Man könnte auch sagen, dass jede Wirklichkeit immer auch die Verneinung vieler anderer Möglichkeiten bedeutet. In dem Moment also, in dem etwas wirklich wird, verlieren unzählige andere Möglichkeiten ihre Potenzialität. Kierkegaard spricht davon, dass im Akt der Wahl, das Selbst sich festlegt – und jede Wahl schließt andere Wege aus. In dieser Synthese wird das Potenzial der Möglichkeiten aufgehoben, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits wird es verwirklicht (ein Teil der Möglichkeiten realisiert sich), andererseits verfällt ein Großteil der ursprünglichen Optionen, sobald sie nicht gewählt werden. Die so entstehende Wirklichkeit ist also zugleich Ergebnis und Fortführung des Spannungsverhältnisses von Freiheit (Möglichkeit) und Grenze (Notwendigkeit). Auch Heidegger sieht das ähnlich, indem er den Menschen als „Sein-zum-Tode“ beschreibt. Das menschliche Leben ist ein ständiges Aktualisieren von Möglichkeiten, während andere ungelebt bleiben. Der Tod ist dabei die letzte Grenze, die jede Möglichkeit endgültig zunichtemacht. Mit zunehmendem Alter, schwinden auch die Möglichkeiten, bis sie im Tod endgültig erschöpft sind.
Freiheit und Notwendigkeit
Freiheit ist das Reich der Möglichkeit, während die Wirklichkeit zur Notwendigkeit wird. Indem wir handeln, machen wir aus der Freiheit der Möglichkeiten die Notwendigkeit der Tatsachen. Das Leben ist ein fortlaufendes Spiel zwischen diesen beiden Polen.
Die Notwendigkeit ist aber nicht nur das, was bleibt, wenn alle Möglichkeiten verschwunden sind. Sie kann auch als der feste Boden verstanden werden, auf dem wir stehen, der uns Stabilität bietet. Jede getroffene Wahl erschafft ein Stück Wirklichkeit als eine Notwendigkeit, die uns Halt gibt – auch wenn sie zur gleichen Zeit, andere Möglichkeiten verschließt. Diese Stabilität kann aber auch zu einem Gefühl des Gefangen-seins führen, wenn die getroffene Entscheidung, uns in einen Zustand der Unzufriedenheit oder vielleicht sogar des Leidens führt. Dann fühlen wir uns wie eingesperrt in einer Wirklichkeit, die wir aus der Möglichkeit heraus, selbst geschaffen haben.
Es liegt an uns, diesen Zustand entweder zu akzeptieren oder den Mut zu finden, eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. Manchmal bedeutet das, den eingeschlagenen Weg zu verlassen, eine neue Wahl zu treffen und damit den Möglichkeitsraum wieder zu öffnen. Manchmal ist es aber auch ein innerer Prozess: Die Akzeptanz der eigenen Entscheidungen und die Versöhnung mit dem, was ist. Selbst wenn aber die Notwendigkeit wie ein Gefängnis wirkt, bleibt uns die Freiheit, uns durch unsere Haltung zu befreien. Es ist die letzte, vielleicht tiefste Freiheit, die wir besitzen: die Wahl, die Notwendigkeit zu akzeptieren.
Man kann es als negativ betrachten, dass die Wirklichkeit viele Möglichkeiten zunichtemacht, aber genau darin liegt auch das Potential zur Freiheit. Indem wir wählen, schaffen wir Wirklichkeit. Das Nicht-Verwirklichte bleibt im Schatten, aber es ist die Bedingung dafür, dass überhaupt etwas Wirkliches entstehen kann.
Vielleicht liegt gerade darin die größte Frage an uns selbst: Haben wir den Mut, unsere Möglichkeiten zu wählen und damit Wirklichkeit zu schaffen? Oder verharren wir im Schatten der ungenutzten Möglichkeiten, aus Angst, die Freiheit zu verlieren?
Möglichkeit und Notwendigkeit: Praktische Implikationen:
Vor dem Hintergrund, dass sich das Spannungsverhältnis zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit täglich aufs Neue in unserem Leben offenbart, müssen wir uns an dieser Stelle die Frage stellen, was all das konkret für unser Leben bedeutet. Dabei lassen sich drei Bereiche identifizieren:
Der Umgang mit Entscheidungen
Im Moment der Entscheidung bewegen wir uns vom Reich der Möglichkeiten in das der Notwendigkeiten. Diese Schwelle zu überschreiten, erfordert Mut – den Mut, Verantwortung für die eigene Existenz zu übernehmen. Kierkegaard spricht hier vom „Sprung“ als einem Akt, der nicht vollständig rational begründbar ist, sondern vielmehr ein Wagnis ist.
Praktisch bedeutet es, dass wir lernen müssen, mit der Ungewissheit zu leben, die jeder bedeutsamen Entscheidung innewohnt. Die Erkenntnis, dass keine Wahl perfekt sein kann und jede Entscheidung andere Möglichkeiten ausschließt, kann paradoxerweise befreiend wirken. Sie entlastet uns vom Druck, die „eine richtige“ Entscheidung treffen zu müssen, und ermöglicht stattdessen ein bewussteres Wählen aus existenzieller und authentischer Überzeugung heraus.
Die Kunst der Rückschau und der Umgang mit Reue
Die zweite praktische Dimension betrifft unseren Umgang mit bereits getroffenen Entscheidungen. Die Versuchung ist natürlich groß, in der Rückschau alternative Möglichkeitspfade zu erdenken und sich in Reue oder Nostalgie zu verlieren. Eine existenzphilosophische Perspektive aber, eröffnet einen anderen Weg: Die bewusste Annahme der eigenen Geschichte als notwendig gewordene Wirklichkeit.
Sartres Gedanke, dass wir für unser eigenes Leben radikal verantwortlich sind, erinnert uns daran, dass Reue zwar schmerzhaft, aber immer auch der Ausgangspunkt für eine neue Sinngebung sein kann.
Möglichkeit und Notwendigkeit: Ethik der Möglichkeiten
Jede Entscheidung aber, erfordert Verantwortung für die Möglichkeitsräume anderer. Unsere Entscheidungen begrenzen oder erweitern nicht nur unsere eigenen Möglichkeiten, sondern auch die unserer Mitmenschen. Wie also können wir so handeln, ohne dass wir die Freiheit anderer nicht unnötig einschränken?
Levinas‘ Ethik des Anderen gibt uns hier eine Richtung: Die Anerkennung der unendlichen Verantwortung für den Anderen als Grundlage ethischen Handelns. Praktisch könnte dies bedeuten, bei Entscheidungen nicht nur die eigenen Möglichkeiten, sondern auch deren Auswirkungen auf die Möglichkeitsräume anderer zu reflektieren.
Wir leben heute in einer Zeit, die von scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten geprägt ist. Hier bietet die existenzphilosophische Perspektive eine wichtige Orientierung: Wahre Freiheit liegt eben gerade nicht in der Vermehrung von Optionen, sondern in der bewussten Annahme der Begrenzungen und in der mutigen Verwirklichung ausgewählter Möglichkeiten. Es gilt inmitten der existenziellen Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit und Notwendigkeit einen authentischen Weg zu finden.
Literatur:
Kierkegaard, S. (2005). Die Krankheit zum Tode · Furcht und Zittern · Die Wiederholung · Der Begriff der Angst (H. Diem, Hrsg.; G. Jungblut, R. Lögstrup, & W. Rest, Übers.). dtv Verlagsgesellschaft.
Externe Links:
Wikipedia – Die Krankheit zum Tode
Wikipedia – Modalität (Philosophie)
Entdecke mehr von Finger im Dasein
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

