Naturrecht: Das Recht als Ableitung aus höheren Prinzipien
Woher kommt das Recht? Teil 1
Die Naturrechtslehre: Das Recht als Ableitung aus höheren Prinzipien
Warum empfinden wir bestimmte Handlungen intuitiv als gerecht oder ungerecht, unabhängig von den Gesetzen, die in unseren Gesellschaften gelten? Diese universelle Frage nach Gerechtigkeit ist tief verwurzelt in der Naturrechtslehre, einem der ältesten und einflussreichsten Konzepte in der Rechtsphilosophie. Das Naturrecht geht von der Prämisse aus, dass es fundamentale Rechtsprinzipien gibt, die universell und nicht von menschlichen Gesetzen abhängig sind. Sie können ihre Ursprünge in der Natur selbst oder in einer höheren, göttlichen Ordnung haben. Aber wie lassen sich solche Prinzipien identifizieren und begründen? Und welche Auswirkungen haben sie auf unsere Rechtsauffassung und -praxis?
Naturrecht – das überpositive Recht
Das Naturrecht geht davon aus, dass bestimmte Prinzipien universell gültig sind, unabhängig davon, ob sie durch die Natur gegeben oder durch eine göttliche Ordnung festgelegt sind. Diese überzeitlichen Prinzipien stehen im Kontrast zum positiven Recht, das durch menschliche Setzung gekennzeichnet ist und sich somit räumlich und zeitlich entfaltet. Im Gegensatz dazu beansprucht das Naturrecht, über kulturelle Grenzen hinweg und durch die Zeiten hindurch Gültigkeit zu besitzen. Doch wie lassen sich solche überpositiven Rechtsprinzipien begründen?
Naturrecht als Maßstab für das positive Recht
Als überpositives Recht gilt das Naturrecht als Maßstab für menschlich positivierte Rechtsordnungen. Das Naturrecht kann insoweit dazu dienen, Rechtsordnungen zu legitimieren oder zu kritisieren. Gerade nach dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland wurde die rechtspositivistische Denkhaltung vielfach in Frage gestellt. Rechtsprechung im Rahmen der Nürnberger Gesetze war aus rein rechtspositivistischer Sicht schlicht legal. Der deutsche Rechtsphilosoph und Jurist Gustav Radbruch prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des „gesetzlichen Unrechts“. Radbruch formuliert mit diesem Begriff gleichsam implizit, dass es ein überpositives Recht geben muss, wonach das positive Recht als Unrecht qualifiziert werden kann.
Genau hier entsteht jedoch ein Problem, und zwar jenes der Rechtssicherheit. Das Recht verliert so seine Autorität, denn es muss sich ständig an einem übergeordneten, überpositiven Recht messen lassen. Hierdurch entsteht die Gefahr, dass die Gesetze ihre Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit verlieren, was aber grundlegend für die Rechtssicherheit ist. Wie können Rechtsanwender und Bürger ihre Handlungen an Gesetzen ausrichten, wenn diese ständig durch ein vages und oft subjektiv interpretiertes Naturrecht herausgefordert werden können?
Eine mögliche Lösung für das Spannungsverhältnis zwischen Naturrecht und der Rechtssicherheit liefert ebenfalls Gustav Radbruch mit der sogenannten radbruch´schen Formel. Diese besagt, dass ein Gesetz, das so ungerecht ist, dass es als „unerträglich“ angesehen wird, wie etwa die Nürnberger Rassegesetze, den Charakter eines gültigen Rechts verliert. Radbruch argumentierte, dass in solchen extremen Fällen die Gerechtigkeit Vorrang vor der Rechtssicherheit haben sollte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede geringfügige Ungerechtigkeit die Gültigkeit eines Gesetzes außer Kraft setzt, sondern nur in Fällen von schwerwiegender und offensichtlicher Ungerechtigkeit.
Durch diese Formel bietet Radbruch eine Handhabe, um mit dem Dilemma umzugehen, dass die strikte Anwendung von positivem Recht zu moralisch inakzeptablen Ergebnissen führen kann, wie es unter den nationalsozialistischen Gesetzen der Fall war. Gleichzeitig bewahrt sie das Prinzip der Rechtssicherheit für Fälle, in denen die Ungerechtigkeit eines Gesetzes nicht dieses extrem hohe Maß erreicht.
Die radbruch´sche Formel ist ein Versuch, eine praktikable Balance zwischen der Notwendigkeit der Rechtssicherheit und der moralischen Forderung nach Gerechtigkeit herzustellen. Sie bleibt ein zentrales Thema in der Diskussion um die Rolle des Naturrechts in modernen Rechtssystemen und fordert uns auf, die Grundlagen unserer Rechtsordnung kontinuierlich zu hinterfragen und zu bewerten.
Das aristotelische Naturrechtsdenken
Aristoteles leitet im Rahmen seiner Ethiken, der „Magna Moralia“ und der „Nikomachischen Ethik“, das Naturrecht aus dem Wesen des Menschen ab. Für ihn ist das Naturrecht kein abstrakter und idealer Normbereich außerhalb der menschlichen Lebenswirklichkeit. Es ist vielmehr bereits in der menschlichen Praxis selbst angelegt und damit auch nach außen hin wahrnehmbar. Aristoteles begründet dies damit, dass die meisten Menschen, ohne darüber nachzudenken, nicht stehlen, betrügen oder morden, wodurch das Naturrecht bereits vor der Moral verortet werden muss. Für Aristoteles sind Naturrechtsprinzipien daher nicht bloß äußerliche Regeln, sondern tief im Wesen des Menschen verankert – sie sind Teil seiner essentiellen Natur oder seines „Eidos“. Dieses Eidos, verstanden als die grundlegende menschliche Form, lenkt unser natürliches Verhalten und fördert Handlungen, die mit Gerechtigkeit und richtigem Handeln übereinstimmen.
Kosmologisches Naturrecht der Stoa
Eine andere Begründung des Naturrechts findet sich bei den Stoikern, die in der Tradition der Vorsokratiker Heraklit, Anaximander und Pythagoras stehen. Hiernach gründet das Naturrecht nicht auf der Natur des Menschen, sondern auf der natürlichen Ordnung, dem durch den Logos selbst gestalteten Kosmos. Die stoische Philosophie fordert die Akzeptanz und Anerkennung der Logizität des Weltenlaufs und der damit verbundenen Weltgesetze. Diese logisch-kosmologische Begründung des Rechts steht bereits grundsätzlich in kritischer Distanz zu jeder positiven Rechtsordnung und betont, dass wahres Recht nicht durch menschliche Institutionen, sondern durch die kosmische Vernunft selbst bestimmt wird. Das Naturrecht entfaltet somit eine universale Gültigkeit, wohingegen positivierte Rechtsordnungen, wie etwa im Falle von Sklaven, Ungleichheiten legitimieren können.
Die stoische Auffassung betont, dass wahres Recht transzendental und kosmisch determiniert ist, was zu einer universellen Geltung führt, die über die partikularen Gesetze einzelner Staaten hinausgeht. Dieser Ansatz bietet eine Basis für die Kritik an gesellschaftlichen Strukturen und Gesetzen, die natürliche Gleichheit und Gerechtigkeit untergraben. Allerdings kann die Betonung eines kosmisch determinierten Rechts auch Herausforderungen mit sich bringen, da die Interpretation dessen, was natürlich und gerecht ist, variieren und zu unterschiedlichen Auffassungen führen kann.
Transzendentale Begründung des Naturrechts
Eine transzendentale Begründung naturrechtlicher Prinzipien findet sich im Christentum. Für Augustinus leiten sich jene aus dem Willen Gottes ab. Eine wesentliche Unterscheidung ergibt dabei, dass das Naturrecht im religiösen Kontext seinen objektiven Charakter verliert und vielmehr durch ein Subjekt, nämlich durch Gott begründet wird. Für Thomas von Aquin ist dieses oberste und ewige Gesetz, das „lex aeterna“. Es umfasst alles, was die Lenkung der Schöpfung betrifft. Als ewig bezeichnet Thomas das lex aeterna bereits deshalb, weil es zeitlich unabhängig von menschlich-sozialer Entwicklung gilt. Teil hat der Mensch so Thomas dadurch, dass seinen Neigungen, auf die hin er angelegt ist mit der richtigen Einsicht folgt. Als Gebote (praecepta) versteht Thomas bspw. die Selbsterhaltung, das wechselseitige Begehren von Mann und Frau, die Erkenntnis zur Wahrheit sowie das Leben in einer Gemeinschaft. Wie aber auch bereits Augustinus vertritt er die Auffassung, dass das Naturrecht alleine nicht ausreicht, weil die die Naturgesetze zu allgemein sind. Gleichwohl dienen sie als oberste Erkenntnisprinzipien für die Positivierung des Völkerrechts, der lex humana. Auch in der christlichen Naturrechtslehre muss sich das positive Recht an den Prinzipien des Naturrechts messen lassen.
Kant und das Vernunftrecht – eine „neue“ Form des Naturrechtsdenkens
Für Immanuel Kant hat das Naturrecht weder einen empirischen noch einen transzendentalen Ursprung, wie es in kosmologischen oder theologischen Modellen der Fall ist. Stattdessen gründet das Recht bei Kant in der Freiheit des Menschen und entsteht aus der praktischen Vernunft. Nach Kant ist Naturrecht gleichbedeutend mit Vernunftrecht. Es handelt sich nicht um ein übergesetzliches Recht, das neben dem positiven Recht besteht, sondern vielmehr leitet sich das positive Recht aus der Reflexion des Vernunftrechts ab. In Kants Theorie ist Recht ein synthetischer Begriff a priori, der die Bedingung der Möglichkeit des Rechts selbst definiert. Diese Synthese verbindet die Freiheit eines Individuums mit der Freiheit anderer unter den Bedingungen der empirischen Welt, in der das Recht Wirklichkeit wird.
Diese Verbindung wird besonders im Besitzrecht deutlich. Die Aussage „das ist mein“ verkörpert nicht nur einen empirischen Anspruch auf ein Objekt, sondern verweist auch auf ein tieferes, vernunftbasiertes Prinzip. Es verbindet die intelligible Seite des Subjektes – seine Vernunft und Freiheit – mit der empirischen Seite der äußeren Gegenstände. Durch diese Verknüpfung etabliert Kant eine Rechtsordnung, die auf universellen Vernunftprinzipien basiert und die zugleich praktisch umsetzbar ist.
Kants Rechtsphilosophie eröffnet eine Perspektive, die es ermöglicht, positive Gesetze kritisch zu hinterfragen und sie an vernunftbasierten, universellen Prinzipien zu messen. Dies stellt sicher, dass das positive Recht nicht nur legal, sondern auch legitim ist. So bietet Kants Ansatz eine fundierte Basis für die Bewertung und Weiterentwicklung von Rechtsordnungen, die die menschliche Freiheit respektieren und fördern.
Naturrecht: Abschließende Gedanken
Das Naturrecht hat eine lange und komplexe Geschichte, die tief in der philosophischen Tradition verwurzelt ist. Von den antiken Überlegungen von Aristoteles und den Stoikern bis hin zu den transzendentalen und vernunftbasierten Interpretationen von Augustinus, Thomas von Aquin und Immanuel Kant zeigt das Naturrecht eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde kulturelle und wissenschaftliche Verständnisse. Trotz seiner historischen Bedeutung steht das Naturrecht jedoch in einer modernen, wissenschaftlich geprägten Welt vor erheblichen Herausforderungen.
Die Relevanz des Naturrechts wird besonders dann deutlich, wenn es um fundamentale Fragen der Gerechtigkeit und der moralischen Grundlagen von Gesetzen geht. Während christlich-theologische Begründungen seit der Aufklärung an Einfluss verloren haben, findet das Naturrecht in verschiedenen Formen weiterhin Beachtung. Ein markantes Beispiel hierfür ist die Debatte um die Scharia, die als Form des Naturrechts göttliche Prinzipien direkt in menschliches Recht überträgt. Insbesondere in Ländern mit einer starken Verfassung wie Deutschland führt dies zu Spannungen, da extremistische Gruppen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft die Scharia über das Grundgesetz stellen möchten, was zu erheblichen rechtlichen und gesellschaftlichen Konflikten führen kann.
Diese Diskussionen unterstreichen die anhaltende Bedeutung des Naturrechts in der globalen Auseinandersetzung über die Grundlagen der Rechtsprechung, auch wenn die Ansätze und Interpretationen variieren können. Die moderne Anwendung des Naturrechts birgt jedoch Risiken: Missinterpretationen oder Missbrauch durch extreme Gruppen könnten die Rechtsordnung destabilisieren. Daher fordert die Anfälligkeit des Naturrechts für subjektive und oft antiquierte Interpretationen eine fortlaufende, kritische Auseinandersetzung mit seinen Prinzipien, um sicherzustellen, dass die Anwendung des Rechts nicht nur den Buchstaben der Gesetze, sondern auch den Geist der Gerechtigkeit widerspiegelt.
Letztlich bleibt das Naturrecht auch heute noch ein lebendiger Teil unserer rechtlichen und moralischen Kultur, eine ständige Erinnerung daran, dass unsere Gesetze und gesellschaftlichen Normen auf tiefen liegenden ethischen Überzeugungen basieren sollten. Die Diskussion um das Naturrecht fordert uns auf, nicht nur die Legalität, sondern auch die Legitimität und Moralität unserer Rechtssysteme zu hinterfragen und aktiv daran zu arbeiten, dass unsere Rechtsordnungen die Freiheit und das Wohl aller Menschen fördern.
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Prolog zur Blogreihe „Rechtsphilosophie“: Woher kommt das Recht?