Berührung
Philosophie

Neues aus Dystopia: Die Berührung

Lesedauer 2 Minuten

Neues aus Dystopia: Die Berührung

Berührungen waren nicht verboten.
Aber sie waren anmeldepflichtig.

Für spontane Berührungen gab es ein Protokoll.
Dreistufig.
Zustimmung, Kontext, Zweck.

Er stand in einem Wartesaal.
Ein Mann neben ihm nieste.
Ein Reflex zuckte durch seinen Arm – die alte Geste, jemandem die Hand auf die Schulter zu legen.

Er tat es nicht.
Die Bewegung stoppte vor der Ausführung.
Sein Armband vibrierte leicht, präventiv.

Früher, so hieß es, war Berührung Alltag.
Heute war sie eine Abweichung.
Es hatte einmal gute Gründe gegeben, hieß es.
Aber niemand sprach sie aus.
Sie standen nur in alten Richtlinien unter der Rubrik: Ursprung.

Man sagt, früher habe ein Händedruck gereicht, um alles zu verlieren.

In den Schulungen lernte man, wie man Nähe taktil vermeidet.
Man sprach von Haptikersatz über Stimme, Mimik, digitale Resonanz.
„Die wahre Verbindung ist die, die keinen Körper braucht“, stand auf einem Plakat.
Davor standen Menschen. Sie nickten.

Einmal hatte ihn jemand berührt – flüchtig, an der Schulter, im Vorbeigehen.
Es war nichts geschehen. Kein Alarm. Kein Hinweis.
Aber etwas blieb zurück.
Eine Erinnerung ohne Form.
Etwas, das nicht erfasst wurde, aber dennoch da war.

Es gab ein Zentrum für kontrollierte Berührungen.
Man nannte es das Taktilitätsmodul.
Dort konnte man gegen Gebühr eine Berührung buchen.
Drei Modelle:
– Kontakt Basis (5 Sekunden)
– Beruhigungsmodul
– Nähe mit beidseitiger Zustimmung

Man stand sich gegenüber, wartete auf das Signal.
Dann legte man kurz eine Hand auf die andere.
Ein Summen. Ein Licht. Ende.

Er hatte es ausprobiert.
Die Berührung war warm, aber funktional.
Als hätte jemand eine Tür geöffnet, in einen Raum, der nicht mehr existierte.

Einige sagten, Berührung sei gefährlich geworden.
Nicht, weil sie weh tue.
Sondern weil sie sich verbreiten könne.

Was sich verbreitet, war nie gut.
Also wurde sie begrenzt.

Seit Einführung der Berührungsprotokolle
sank die Zahl registrierter Traumata um 70 %.

Kinder berührten sich noch.
Beim Spiel. Im Streit. Im Trost.
Sie wurden später geschult, wie man sich „zurücknimmt“.
Man nannte es Berührungsbewusstsein.
Ein Junge fragte einmal:

„Aber wann darf ich jemanden anfassen?“
Die Antwort war:
„Wenn du es vorher genau weißt.“
Der Junge schwieg.

Am Abend lag er in seinem Raum.
Allein, aber nicht unverbunden.
Sein Armband zeigte:
„Heute 0,0 taktile Kontakte.

„Empfohlene Mindestmenge nicht erreicht.“

Er schloss die Augen.
Und erinnerte sich an eine Berührung,
die keine Anmeldung hatte.
Keinen Kontext. Kein Zweck.
Nur Wärme.
Und Nähe.

Etwas, das heute
nicht mehr vorgesehen war.



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