
Immer weiter – Neues aus Dystopia
Immer weiter – Neues aus Dystopia
Er rannte nicht. Aber er ging schneller als nötig.
Alle taten das.
Niemand sagte es, aber man spürte es: Wer langsamer war, galt als irgendwie falsch.
Als habe er den Takt verloren.
Ein Mann vor ihm stieß sich die Tür auf, ohne zu halten. Dahinter ein Gang. Noch einer. Wieder Türen.
Ein System aus Gängen, das sich zu beschleunigen schien, je weiter man ging.
„Bleiben Sie bitte in Bewegung“, sagte eine Stimme aus der Wand.
Er blieb stehen.
„Bitte weitergehen“, sagte sie.
Nicht fordernd. Nur sachlich.
In einem Raum saßen Menschen an Laufbändern. Sie schrieben Nachrichten, sortierten Aufgaben, beantworteten Anfragen, sprachen miteinander – während ihre Körper in Bewegung blieben.
Ein Mann drehte sich zu ihm.
„Stehenbleiben ist Rückschritt“, sagte er.
„Wohin gehen Sie?“
„Vorwärts.“
„Wohin führt das?“
Der Mann zuckte mit den Schultern.
„Das weiß man nie. Wichtig ist, dass man immer weiterkommt.“
Er nickte – nicht zustimmend, sondern aus Müdigkeit.
In einem anderen Raum waren Wände mit Uhren bedeckt. Alle zeigten unterschiedliche Zeiten, alle bewegten sich leicht asynchron.
Ein Schild darunter:
„Vertrauen Sie der Bewegung. Nicht der Richtung.
Eine Frau bot ihm ein Getränk an.
„Für Ihre Leistungsfrequenz. Sie sinkt.“
„Ich bin müde.“
„Das ist kein anerkannter Zustand.“
„Ich möchte mich setzen.“
„Dann müssen Sie Ihre Geschwindigkeit später ausgleichen.“
Er nahm das Getränk. Es schmeckte nach Zitrus und Reue.
Er erinnerte sich vage an früher.
An das Sitzen unter Bäumen.
An das Schweigen am Wasser.
An das Gehen ohne Ziel.
„Ich glaube, ich habe mich einmal gelangweilt“, sagte er laut.
Eine Frau in der Nähe wandte sich erschrocken um.
„Das sollten Sie nicht sagen.“
Ein junger Mann sprintete an ihm vorbei.
„Ich arbeite an mir selbst!“ rief er, ohne stehenzubleiben.
Ein anderer schrie: „Ich bin schneller als gestern!“
Ein Dritter hielt ein Gerät hoch: „Meine Fortschrittskurve! Seht her!“
Sie liefen alle in verschiedene Richtungen.
Er blieb stehen.
Ein Alarm ertönte.
Zuerst leise, dann lauter.
Ein Licht blinkte.
Ein Mann in Uniform trat zu ihm.
„Ihre Fortbewegung ist unter der Norm. Haben Sie eine Erklärung?“
„Ich möchte einfach nur stehen.“
„Warum?“
„Weil ich es will.“
„Das reicht nicht.“
Er wurde in einen Raum geführt. Dort standen andere.
Still. Bewegungslose Menschen, die zu langsam waren.
Ein leiser Ton lief in Dauerschleife: „Es geht weiter. Es geht immer weiter.“
Er schloss die Augen.
Nicht aus Trotz. Sondern weil er spüren wollte, ob noch etwas da war.
Etwas, das nicht rannte. Nicht eilte.
Etwas, das einfach nur war.
Und für einen Moment –
einen einzigen –
meinte er es zu spüren.
Wie einen Punkt,
klein, leise, schwer zu halten.
Aber da.
Interne Links:
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Externe Links:
YouTube: Hartmut Rosa „Beschleunigung – Symptom unserer Zeit?“
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