
Neues aus Dystopia – Fragmente einer anderen Welt
Neues aus Dystopia – Ein Prolog
Man sagt, Dystopia sei eine Welt.
Aber wer einmal dort war, sagt, es sei eine Erinnerung,
die sich als Landschaft ausbreitet.
Es gibt Straßen, die im Kreis verlaufen.
Schilder, die auf nichts verweisen.
Städte, in denen Häuser leer stehen,
obwohl Lichter hinter den Fenstern flackern.
Dörfer, in denen geflüstert wird,
doch nie gesprochen.
Ein Fluss, der rückwärts fließt – manchmal.
Eine Wüste, in der es regnet,
aber nur auf den Schatten der Dinge.
Die Menschen hier haben keine Namen.
Sie kennen einander nicht.
Manche tragen Nummern, andere nur Funktionen.
Sie heißen: „die Frau mit dem dunklen Schal“,
„der Mann, der immer geht, bevor es hell wird“,
„das Kind, das nicht spricht“.
Einige wissen nicht mehr, wie sie heißen,
nur, dass sie gemeint waren.
Namen wurden ersetzt durch Muster.
Manche tragen Masken.
Andere ihre eigenen Gesichter.
Beides scheint ihnen fremd.
Sie teilen Regeln, deren Ursprung niemand kennt.
Bewegungen, die niemand mehr versteht,
aber jeder ausführt.
Weil sie da sind.
Weil sie schon immer da waren.
In Dystopia gibt es Orte, an denen sich die Zeit faltet.
Momente, die nie enden.
Und solche, die verschwinden,
bevor sie beginnen.
Zeit vergeht nicht –
sie wiederholt sich.
Es gibt Gerüchte von einer Hauptstadt.
Doch niemand weiß, ob sie je existiert hat –
oder ob sie erst noch vergessen werden muss.
Wer hier lebt, sucht nichts mehr.
Wer hier wandert, vergisst bald,
warum er aufgebrochen ist.
Die Menschen erinnern sich nicht mehr.
Sie durchsuchen das Archiv.
Erinnerung wurde zu Zugriff,
Gedächtnis zur Datei.
Dystopia hat keinen Anfang. Kein Ende.
Nur Geschichten, die sich darin verlieren.
Und manchmal – sehr selten –
erzählt jemand davon.
Nicht um zu warnen.
Nicht um zu erinnern.
Sondern weil das Erzählen selbst,
die einzige Bewegung ist,
die hier noch möglich scheint.
Vielleicht war Dystopia nie ein Ort.
Vielleicht war es immer nur ein Gedanke,
den niemand zu Ende gedacht hat.
Was blieb, sind Fragmente.
Überreste. Aufzeichnungen,
deren Ursprung längst verblasst ist.
Im Archiv der Fragmente
sind einige davon versammelt.
Nicht in Ordnung,
nicht vollständig,
aber vielleicht genug,
um sich zu erinnern.
Wer lesen will, beginnt dort.
Neues aus Dystopia – Archiv der Fragmente
Kategorie I – Struktur & Ritual
Fragment A0 – Die Zeremonie: Man kommt zusammen, man senkt den Blick, man tut was vorgesehen ist. Was einst Sinn hatte, ist nur noch Form. Eine Parabel von 2 Minuten.
Fragment A1 – Warten: Eine Haltestelle. Kein Plan, keine Uhr. Nur Menschen, die warten. Vielleicht auf einen Bus. Vielleicht auf etwas anderes. Es kommt nichts – aber man bleibt.
Fragment A2a – Die Bewertung Teil 1: Ein Leben im grünen Bereich. Alles ist geregelt, kalkuliert, optimiert – bis auf das, was fehlt. Er lebt im Rhythmus der Punkteskala, jeder Blick, jedes Lächeln, jede Geste misst seinen Wert. Als er für einen Moment zögert, gerät das System ins Wanken – oder er selbst. Doch dort, wo Zahlen keine Rolle mehr spielen, beginnt vielleicht etwas anderes. Etwas, das nicht bewertet werden kann.
Fragment A2b – Die Bewertung Teil 2:
Fragment A2c – Die Bewertung Teil 3:
Fragment A3 – Arbeit ist wichtig: Sie bewegen die Hände. Immer. Präzise. Leer. Niemand weiß, was getan wird – nur dass es getan werden muss. Die Maschinen sind verstummt, doch das Summen bleibt. Ein Sinn? Vielleicht in der Bewegung selbst. Wer fragt, riskiert die Ordnung. Wer zweifelt, arbeitet schlechter.
Fragment A4 – Man lebt nicht vom Brot allein: Ein Restaurant voller Versprechen. Alle warten auf das, was niemals kommt. Nur das Warten selbst scheint zu nähren – bis einer aufsteht.
Kategorie II – Nähe und Distanz
Fragment B0 – Die Berührung: Man sagt, früher habe ein Händedruck gereicht, um alles zu verlieren. Heute braucht es Zustimmung, Dokumentation, einen Grund. Doch manchmal spürt man etwas – durch Stoff, durch Glas, durch Protokolle hindurch. Etwas, das nicht vorgesehen ist. Nicht erlaubt. Vielleicht: Nähe.
Fragment B1 – Der Blick: Augenkontakt ist limitiert. 2,7 Sekunden – danach wird gewarnt. Zu lang geschaut, zu tief gesehen. Der Blick wird vermessen, reglementiert – weil er treffen kann, erinnern, aufwühlen. Doch ein Kind sieht ihn an – lange, ungefiltert. Für einen Moment: eine Verbindung. Keine Regel. Nur das, was einmal war – oder hätte sein können.
Kategorie III – Zeit & Erinnerung
Fragment C0 – Die Nacht: Man begann, sie aufzuzeichnen – jede Sekunde, jedes Geräusch, jeden Traum. Was einst verborgen war, wurde sichtbar. Was erlebt wurde, wurde ersetzt. Die Dunkelheit flackerte. Und irgendwann wusste niemand mehr, wie sie sich anfühlt.
Fragment C1 – Immer weiter: Stillstand ist verdächtig. Wer innehält, gefährdet den Takt. Alle sind in Bewegung – ziellos, doch mit Ziel. Türen öffnen sich zu Gängen, Gänge führen ins Nichts. Es zählt nicht das Wo, nur das Weiter. Aber was, wenn jemand stehen bleibt? Was, wenn jemand fragt? Vielleicht gibt es etwas, das nicht rennt – sondern einfach nur ist.
Fragment C2 – Das Gedächtnis: Sie lachten, wie sie sich später lachen sehen wollten. Sie küssten sich, wie sie sich später küssen sehen wollten. Sie lebten, um es später anschauen zu können. Und vergaßen, wie es war, da zu sein. Der Moment war zur Kulisse geworden. Nicht zum Erleben. Zum Aufzeichnen.
Kategorie IV – Sprache & Wahrheit
Fragment D0 – Man sagt: Man sagt, es sei nur eine Geschichte. Man sagt, sie dauere zwei Minuten. Man sagt, sie sei harmlos. Doch wer liest, wird spüren: Etwas fehlt. Etwas war da. Etwas wird nicht gesagt. In einer Welt, in der das Ich verschwunden ist, lebt man – angepasst, korrekt, ohne Ecken. Bis ein Junge ein Wort auf der Zunge spürt, das niemand mehr ausspricht. Ein kleines Wort. Ein gefährliches Wort. Ein Anfang.
Externe Links: