Nihilismus
Helena GARCIA, adobe.stock
Existenzphilosophie,  Metaphysik,  Philosophie

Nihilismus: Die Entmystifizierung der Welt

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Lesedauer 8 Minuten

Die Entmystifizierung der Welt: Ein Blick auf den Nihilismus

Auf den Punkt gebracht, vertritt der Nihilismus die Auffassung, dass die Welt inhärent bedeutungslos ist. Für menschliche Verhältnisse klingt das trostlos, denn es liegt in unserer Natur, in allem Bedeutungen zu suchen und Werte zuzuschreiben, um unserer Existenz Sinn und Richtung zu geben. Stimmt der Nihilismus, dann hat im Universum nichts von sich aus Bedeutung. Das heißt, weder der Mensch, andere Tiere, unsere Erde, noch die Sterne des beeindruckenden Nachthimmels besitzen eine ihnen innewohnende, objektive Bedeutung. Alles, was wir kennen, von den Großtaten der Geschichte bis zu den alltäglichen Begebenheiten, wird dann zur Belanglosigkeit in einem gleichgültigen Universum, in dem Bedeutungen und Werte lediglich menschliche Konstrukte sind, jedoch keinen Widerhall in der Struktur des Kosmos finden. So hat der Begriff doch eine gewisse wesensmäßige Geneigtheit. Auf der einen Seite neigt er zum Pessimismus, weil ja doch alles keinen Wert hat. Auf der anderen Seite ist er psychologisch herausfordernd, denn es ist sicherlich deprimierend, wenn man sich jede Hoffnung nimmt, dass es da etwas Gutes in der Welt geben könnte.

Der Nihilismus bringt also nicht allzu viel mit, was ihn auf den ersten Moment sympathisch machen könnte. Er bietet zwar eine grundsätzliche Sicht auf die Welt, stellt damit aber sämtliche traditionell religiöse und philosophische Überzeugungen in Frage. Gerade weil der Nihilismus eben ist, was er ist, wird er nicht selten zur Schelte herangezogen. Wer den Relativismus preist, also die Ansicht, dass Bedeutung und Werte von Kulturen von den jeweiligen Kontexten abhängen, setzt sich schnell dem Vorwurf aus, ein Nihilist zu sein. Und das ist keine Ehrung.

Wer oft mit dem Nihilismus in Verbindung gebracht wird, ist Friedrich Nitzsche. Er war einer der ersten Philosophen der den Nihilismus als grundlegendes Problem der modernen Kultur thematisierte. Für Nietzsche ist der Nihilismus die unausweichliche Folge des „Tod Gottes“, also dem Verlust des Glaubens an eine vorgegebene moralische Ordnung. Nietzsche sah in dieser Entwicklung die Gefahr, dass für die Menschen ein „Sinnvakuum“ entsteht und traditionelle Werte an Bedeutung verlieren. Dieses Sinnvakuum versucht der Mensch dann mit „falschen Götzen“ zu füllen. Wo vorher der Glaube Sinn gestiftet hat, stehen nun Konsum, Fortschrittsdenken, Wissenschaft oder andere menschliche Errungenschaften. Nietzsche sah die Gefahr darin, dass diese modernen und säkularen Sinngebilde nur oberflächliche Lösungen bieten, auf die tieferen existenziellen Fragen des Lebens jedoch keine Antwort liefern.

Nietzsche weist aber nicht nur auf die Gefahren des Nihilismus hin, er erkennt ihn zwangsläufig auch an. Seine „Umwertung der Werte“ ist nichts anderes als die Idee, dass Werte nicht statisch und ewig festgeschrieben sind, sondern vielmehr dynamisch und wandelbar. Aus nihilistischer Sicht hat nichts an sich einen Wert, es sei denn, man wertschätzt es. Nietzsche betrachtet Werte als Ausdruck der Lebenshaltung, der Machtverhältnisse und kulturellen Umstände. Nietzsches Konzept der Umwertung der Werte zielt darauf ab, die grundlegenden Werte der westlichen Kultur zu überdenken und umzugestalten, um den Nihilismus zu überwinden. Diese traditionellen Werte sind Nietzsche zufolge aus der christlich-jüdischen Tradition entstanden, die er als „Sklavenmoral“ bezeichnet, weil er sie als ein ethisches System ansieht, das aus der Perspektive der Unterdrückten entstanden ist und Werte wie Demut und Gehorsam über Macht und Selbstbehauptung stellt. Er wollte neue Werte einer „Herrenmoral“ schaffen, die das Leben bejahen und die menschliche Größe und Kreativität fördern. Vielleicht kennen sie in diesem Zusammenhang den Begriff des „Übermenschen“.

Was ist nun das Problem mit dem Nihilismus?

So und was ist jetzt eigentlich genau das Problem mit dem Nihilismus und warum wird jemanden zum Vorwurf gemacht, er sei ein Nihilist? Sicher, wir haben festgestellt, dass der Nihilismus all die schönen Bedeutungen, die wir in die Welt hineindenken, gnadenlos negiert. Das Universum so verstanden, erscheint wie ein kalter und rauer Ort, dem wir bedingungslos ausgesetzt sind. Und ja, die ganze Zeit haben wir mehr vom Universum erwartet. Aber was bekommen wir jetzt? Ein bedeutungsloses Vakuum, in dem unsere tiefsten Sehnsüchte nach Sinn, Ordnung und Bestimmung nicht mehr sind als eine bloße Illusion. Dieses Erwachen in eine Realität, in der unsere Träume, Hoffnungen und Ideale schonungslos als geistig-soziale Konstruktionen entlarvt werden, rüttelt an den Grundfesten unserer Seele. Der Nihilismus ist eine bittere Pille und er zwingt uns unsere vermeintlich unerschütterlichen Wahrheiten zu hinterfragen, und er entlässt uns in eine Welt, in der die einzigen Antworten, die wir finden, jene sind, die wir selbst erschaffen. So stehen wir dann nackt und allein, einem gleichgültigen Kosmos gegenüber.

Diese Erkenntnis hat zunächst weitreichende Auswirkungen auf unser Leben. Wenn alles keine objektive Bedeutung hat, nichts einen Wert besitzt, könnte daraus gefolgert werden, dass es auch egal sei wie wir selbst handeln. Wir könnten eine Haltung einnehmen, die die Gleichgültigkeit des Universums übernimmt. Werte und Moral sind lediglich soziale Konstruktionen und müssten vor dem Hintergrund einer kosmischen Gleichgültigkeit nicht beachtet werden. Diese Haltung führt jedoch schnell zu einer Unzufriedenheit, da mit Grundlagen menschlicher Gemeinschaft und Kooperation unvereinbar ist.

Sprechen wir also über Nihilismus, sprechen wir nicht über eine Lebenseinstellung, sondern immer darüber, wie dieser überwunden werden kann.

Ist die Realität nihilistisch?

Schauen wir uns dazu einmal im Universum um und fragen uns, was wir erkennen. Erkennen sie dort eine Ordnung, verhält sich das Universum moralisch, und spiegeln die unermesslichen Weiten des Kosmos in irgendeiner Weise unser Verständnis von Recht und Unrecht wider. Wir wissen alle, dass der Mensch einen Wert besitzt. Aber ist dieser Wert eine von uns vorgenommene Konstruktion oder ist der Wert des Menschen objektiv vorhanden?

Ich will es so sagen. Das Universum wird auf uns, genauso wenig Rücksicht nehmen wie auf die Dinosaurier. Wenn also bis dahin alles gut laufen sollte, wird, in vielleicht 3 Milliarden Jahren, pessimistischere Schätzungen sprechen sogar von 1,3 Milliarden Jahren, kein Leben auf der Erde mehr möglich sein, weil die Erde der bevorstehenden Ausdehnung der Sonne zum Opfer fallen wird. Ob es die Menschen dann noch gibt, hängt davon ab, was wir uns bis dahin einfallen lassen. Es scheint also eher so zu sein, dass dem Menschen von der Seite des Universums, kein besonderer Wert zugesprochen wird, dass sich das Universum uns gegenüber vielmehr gleichgültig verhält. Ob sie also da sind oder nicht, scheint das Universum nicht im Geringsten zu kümmern. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer kosmischen Gleichgültigkeit. Ich weiß nicht, wie es ihnen damit geht, sie können auch glauben was sie möchten, aber diese kosmische Gleichgültigkeit scheint für mich als eines der erdrückendsten Argumente.

Was bedeutet es, wenn der Nihilismus eine akkurate Beschreibung der Realität wäre?

Wenn man nun die kosmische Gleichgültigkeit in Rechnung stellt, erscheint die Vorstellung eines moralischen Realismus – der Idee, dass unabhängig von uns, universelle moralische Werte existieren, fast schon absurd. Moralische Realisten vertreten die Ansicht, dass solche Werte existieren, und auch wenn wir sie noch nicht entdeckt haben, sie in Zukunft möglicherweise erkennbar werden. Wenn aber die menschliche Existenz, und so sieht es wohl danach aus, durch nichts geschützt oder berücksichtigt wird, dann unterstreicht das die indifferente Haltung des Universums. Es ist daher fragwürdig, wie aus diesen Umständen abgeleitet werden kann, dass es objektive und universelle moralische Werte geben sollte.

Wahrscheinlich haben wir sogar den Nihilismus bereits anerkannt, wollen ihn aber doch nicht wahrhaben. Oder wie erklären sie sich den Umstand, dass wir Missionen unternehmen, die das Ziel haben die Menschen und unsere Erde vor einem Asteroideneinschlag retten zu wollen. Diese kosmische Gleichgültigkeit legt also nahe, dass es schwer zu begründen ist, warum es objektive und universelle moralische Werte geben sollte, wenn das Universum selbst gegenüber unseren Schicksalen gleichgültig zu sein scheint. Dass wir aber unsere Existenz schützen wollen, zeigt vor allem eines, dass wir als Menschen versuchen, Bedeutung und Zweck in einem scheinbar indifferenten Universum zu finden und zu schaffen.

Und nun nehmen wir einmal an es stimmte. Das Universum ist ein nihilistischer Ort. Der Mensch hat keine herausregende Stellung im Kosmos, aber auch nicht andere Tiere, Planeten, Sterne oder was auch immer. Ja ein wenig trostlos wirkt das ganze schon. Der Nihilismus entmystifiziert damit die Welt größtenteils, wobei das große Mysterium, dass es die Welt überhaupt gibt, auch unter nihilistischen Bedingungen bestehen beliebt.

Sie müssten in dieser Welt nur eines akzeptieren: Das Universum interessiert sich nicht für sie und es folgt keinem höheren Plan und Zweck. Sie könnten das auch als Befreiung auffassen, denn sie müssen sich nicht mit Aberglauben, Horoskopen oder Konzepten wie Glück und Unglück beschäftigen. Anstatt vierblättrige Kleeblätter zu suchen oder mühsam nach Sternschnuppen Ausschau zu halten, können sie ihre Zeit gleich anders verwenden (ob das sinnvoller ist, müssen sie selbst entscheiden). Sie brauchen auch keine Glücksbringer mehr, müssen sich keine Tarotkarten legen und die Linien auf ihren Händen haben nichts mit ihrem Lebensverlauf zu tun. Und wenn ihnen dann mal wieder ein Spiegel zu Bruch geht, brauchen sie sich nicht zu fürchten, dass dies sieben Jahre Unglück bringt. Sie sehen, der Nihilismus bietet eine ganze Reihe praktischer Vorzüge, die Sie dazu ermutigen könnten, sich von traditionellen Ritualen und Überzeugungen zu lösen und eine realistischere, unabhängigere Perspektive auf das Leben und das Universum einzunehmen.

So eröffnet der Nihilismus die Möglichkeit, die Welt so zu sehen, wie sie ist – ohne übernatürliche Bedeutungen oder verborgene Pläne – und gibt uns die Freiheit, unseren eigenen Weg zu bestimmen, frei von den Fesseln des Aberglaubens und der Furcht vor dem Unglück. Sie könnten also Anfangen, den Nihilismus als Einladung zu verstehen, eine pragmatischere und authentischere Lebensweise zu erkunden, in der wir unsere Entscheidungen und Handlungen auf der Grundlage von Vernunft und persönlicher Überzeugung treffen, statt auf mystische Zeichen und Symbole zu vertrauen.

Nihilismus – Schlussbetrachtung

Der Nihilismus, das steht außer Frage, entmystifiziert die Welt. Er entkleidet das Universum und unsere Existenz von übernatürlichen Bedeutungen und zwingt uns, die Realität so zu betrachten, wie sie ist – roh, ungeschminkt und frei von vermeintlich höheren Zwecken. In einer solchen Weltanschauung liegt eine klare, wenn auch nüchterne Wahrheit: Es gibt keine vorgegebenen Skripte, keine vorherbestimmten Schicksale oder universelle moralischen Wahrheiten, die außerhalb unserer eigenen Konstruktionen existieren.

Diese radikale Sichtweise fordert uns heraus, unsere eigenen Werte, Bedeutungen und Zwecke zu definieren. In dieser Abwesenheit einer vorgegebenen Ordnung liegt eine tiefgreifende Freiheit, aber auch eine ebenso tiefe Verantwortung. Wir stehen vor der Aufgabe, unser eigenes Leben zu gestalten, unsere eigenen Maßstäbe für das Gute, das Wahre und das Schöne zu setzen.

Vielleicht hatte Nietzsche damit recht, wenn er eine Umwertung der Werte fordert. Diese Aufforderung zur Umwertung öffnet die Tür zu einer Welt, in der wir nicht länger an die Ketten veralteter und fremdbestimmter Ideale gebunden sind. Stattdessen sind wir in der Verantwortung, mutig unsere eigenen Ideale zu erschaffen. Nietzsche sah im Nihilismus nicht das Ende, sondern einen Wendepunkt, einen Beginn – eine Chance, sich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien und in das Licht einer selbstbestimmten Zukunft zu treten.

In dieser neuen Welt, die der Nihilismus uns offenbart, liegt vielleicht sogar ein unerwarteter Optimismus. Nicht die Hoffnung auf eine höhere Ordnung oder einen göttlichen Plan, sondern die Hoffnung, die aus unserer eigenen menschlichen Fähigkeit zur Sinngebung und zum kreativen Schaffen entspringt. Der Nihilismus fordert uns auf, Schöpfer unserer eigenen Bedeutungen zu werden, unser Leben mit Absicht und Bewusstsein zu führen und die Welt um uns herum aktiv zu gestalten.

Die Herausforderung liegt wohl darin, tief in uns zu blicken und uns den schwierigen Fragen zu stellen: Was ist es, das wir wirklich wertschätzen? Was gibt unserem Leben Richtung und Sinn? Der Nihilismus bedeutet auch nicht das Ende jeglicher Moral. Auch wenn das Universum keinen inhärenten Sinn für Moral zu haben scheint, bleibt die Moral doch ein integraler Bestandteil unserer menschlichen Kultur. Sie ist Ausdruck unserer Menschlichkeit und unseren Beziehungen zueinander.  

Vielleicht bietet der Nihilismus als Rahmen sogar die Chance, kulturverschiedene Moralvorstellungen zu überwinden. Indem wir akzeptieren, dass Moral nicht in den Strukturen des Universums und nicht von höheren Mächten bestimmt ist, kann es gelingen, Werte und Normen zu schaffen, die auf einem tiefen Verständnis menschlicher Bedürfnisse, Empathie und gegenseitiger Achtung aufruht. So betrachtet, böte der Nihilismus paradoxerweise sogar eine Grundlage für Moral und moralischen Fortschritt.

Aber ich verstehe natürlich gut, wenn Sie sagen, dass Ihnen das alles zu nüchtern klingt. Mir geht es auch so. Mir wäre die alte Welt, mit ihren vielen kleinen und großen Geheimnissen, ihren überlieferten Mythen und mystischen Traditionen, ihrer Hoffnungen und zauberhaften Träumereien, den Geschichten von Helden und Göttern, die unter den Sternen wandeln, auch viel lieber gewesen. Eine Welt, in der die Dunkelheit der Nacht die Fantasie beflügelt und Geheimnisse birgt, in der jeder Sonnenaufgang die Schönheit und das Wunder des Lebens neu entfaltet und in der Bäume, Blätter und Steine eine stille und beinahe magische Präsenz haben. Eine Welt, wo das Einfache und Alltägliche noch mit einem Hauch von Zauber umgeben sind und jede Brise, jeder Fluss und jedes Bergpanorama die alte Sprache der Natur zu sprechen scheint.


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Externe Links:

Deutschlandfunk Kultur: Philosoph Markus Gabriel über Moral heute, „Das Böse nimmt spürbar zu“

Philosophie-Magazin-Lexikon: Nihilismus

Universität Heidelberg: Nihilismus – Die Metaphysik der Nichtigkeit

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