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Ökonomie,  Politik

Ist die Ökonomie als Wissenschaft in einem guten Zustand?

Lesedauer 6 Minuten

Ist die Ökonomie als Wissenschaft in einem guten Zustand? Oder ist sie gar keine Wissenschaft?

Verfolgt man die aktuellen politischen Debatten um Haushaltspolitik und Staatsfinanzierung kommt einem das Grausen. Kaum eine Sendung in der nicht irgendein Institutsökonom auftritt, der seine ideologische Auslegung ökonomischer Annahmen zum Besten gibt. Mit der Autorität einer akademischen Expertise wollen sie Glaubwürdigkeit erzeugen, indem sie vermeintlich objektive, wissenschaftliche Wahrheiten präsentieren. Je nach Institut, sind sie Vertreter verschiedener Interessen und Ideologien. So gilt Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) als arbeitgebernah, während Lars Feld vom Walter-Eucken-Institut stark wirtschaftsliberale Positionen vertritt. Auch Hans-Werner Sinn, der wenigstens als einziger auch wirklich aussieht wie ein Ökonom, bekannt durch seine Stellungnahmen zur Eurokrise und Target-2-Schulden, ist ein Vertreter des liberalen Monetarismus. Daneben steht Achim Truger, der sich als progressiver Ökonom eher der Modern Monetary Theory (MMT) zuwendet und sich aktuell für das Aussetzen der Schuldenbremse in Krisenzeiten ausspricht. Vor allem die Schuldenbremse wird zunehmend zum Stein des Anstoßes: Für die einen ist sie eine Notwendigkeit, eine letzte Bastion gegen einen vermeintlich zügellosen Staat der nicht priorisieren könne. Wieder andere halten an der Schuldenbremse fest, weil ihnen der Sozialstaat ohnehin ein Dorn im Auge ist und sie den Staat dazu zwingen möchten, Sozialleistungen abzubauen anstatt neue Schulden aufzunehmen. Vor allem für Progressive ist die Schuldenbremse ein Wachstumhindernis, weil sie dringend notwendige Investitionen und Konsumausgaben für Infrastruktur, Bildung, Digitalisierung oder zum Anheizen der ohnehin stagnierenden Nachfrage im Wege steht. Man darf also zu Recht die Frage stellen, ob die Ökonomie als Wissenschaft in einem guten Zustand ist.

Ökonomie als politische Leitwissenschaft

Die zunehmende Dominanz der Ökonomie als politische Leitwissenschaft hat nicht nur politische und soziale Konsequenzen, sondern zeigt auch, wie tief sie fast alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Im politischen Diskurs ist sie unbestritten der maßgebliche Rahmen für Entscheidungen geworden. Dies wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass es in der Politik zwar Wirtschaftsweisen gibt, deren Expertise regelmäßig herangezogen wird, es aber keine „Gesellschaftsweisen“ oder andere gleichwertige Gremien aus anderen Disziplinen gibt.

Die Ökonomie hat sich als das zentrale Instrument zur Erklärung und Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung etabliert – und verdrängt dabei andere wissenschaftliche Disziplinen wie Soziologie oder Umweltwissenschaften. Es scheint, als ob wirtschaftliche Fragen heute als die bedeutendsten gelten und alle anderen Belange in den Hintergrund treten.

Die Ökonomie hat ein ideologisches Problem

Als Wissenschaft erhebt die Ökonomie den Anspruch, objektive wissenschaftliche Wahrheiten zu liefern. Ein Blick auf die Vielzahl widersprüchlicher Theorien zeigt aber leider, dass genau dies oft nicht der Fall ist. Während neoklassische Ökonomen wie Clemens Fuest und Lars Feld auf Haushaltsdisziplin und staatliche Sparsamkeit setzen, fordert die Modern Monetary Theory (MMT), vertreten durch Ökonomen wie Achim Truger genau das Gegenteil: massive staatliche Investitionen, um Wachstum zu fördern und Krisen zu überwinden. Beide Lager präsentieren ihre Ansätze als wissenschaftlich fundiert, doch ihre diametral entgegengesetzten Empfehlungen legen nahe, dass die Ökonomie weniger eine neutrale Wissenschaft ist, als vielmehr ein ideologisches Schlachtfeld.

Diese Widersprüche innerhalb der Ökonomie sind aber nicht bloß theoretische Unterschiede, sondern spiegeln weltanschauliche Wertvorstellungen und Interessen wider. So beruft sich die Neoklassik auf den freien Markt und begrenzt die Rolle des Staates, wobei dieser nur eingreifen soll, um Marktversagen zu korrigieren. Der Neoliberalismus geht sogar noch weiter und fordert eine maximale Deregulierung sowie eine starke Reduzierung staatlicher Eingriffe, mit dem Ziel, den Markt vollständig zu entfesseln und dem Staat eine minimalistische Rolle zuzuweisen. Der Staat soll hier bestenfalls auf die Rolle eines „Nachtwächterstaats“ reduziert werden.

Auf der anderen Seite steht die Modern Monetary Theory (MMT), die den Staat als aktiven Akteur sieht, der nicht nur bei Marktversagen eingreift, sondern eine zentrale Rolle in der Steuerung der Wirtschaft spielt, insbesondere durch Staatsausgaben und Schuldenaufnahme. Diese Gegensätze zeigen, dass es in der Ökonomie oft weniger um wissenschaftliche Wahrheit geht, sondern vielmehr um die Frage, welche Ideologie den Diskurs dominiert.

Ökonomie als Wissenschaft: Interessen und Finanzierung beeinflussen die Forschung

Ein weiteres ideologisches Problem der Ökonomie liegt in der Verflechtung von Forschung und wirtschaftlichen Interessen. Einige wirtschaftswissenschaftliche Institute, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln), haben enge Verbindungen zu Arbeitgeberverbänden und orientieren sich stark an deren Interessen.[1]

Im Gegensatz dazu vertritt das ifo Institut keine klare arbeitgebernahe Agenda, orientiert sich aber stark an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und befürwortet oft marktwirtschaftliche Lösungen. Seine Forschungen sind auf wirtschaftliche Effizienz ausgerichtet, was häufig zu Empfehlungen führt, die marktorientierte Maßnahmen bevorzugen. Auch wenn das ifo Institut keine expliziten Verbindungen zu Lobbyorganisationen hat, kann seine Nähe zu wirtschaftsliberalen Ansätzen ebenfalls als Ausdruck einer ideologischen Ausrichtung verstanden werden.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, auch bekannt als die „Fünf Wirtschaftsweisen“, soll offiziell die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands unabhängig begutachten. Tatsächlich wird die Zusammensetzung des Rates jedoch seit Jahrzehnten von neoliberalen Netzwerken geprägt, wie eine Studie der Otto Brenner Stiftung zeigt[2]. Diese analysierte, dass in den letzten 40 Jahren die Mehrheit der Mitglieder stets marktorientierte Positionen vertreten hat, während kritische Stimmen nur eine Minderheit darstellten. Der Rat neigt dazu, wirtschaftspolitische Maßnahmen wie Deregulierung und Sozialstaatsabbau zu befürworten, was die Neutralität seiner Gutachten in Frage stellt.

Ein Beispiel für diese ideologische Ausrichtung ist die Forderung des Sachverständigenrats im Jahr 2017, das Arbeitszeitgesetz zu lockern, um flexiblere Arbeitszeiten zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu ermöglichen. Zudem wurde die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns sowie Reformen im Bereich der Mietpreisbremse und der Rentenpolitik 2013 kritisiert. Diese Entscheidungen spiegeln deutlich eine wirtschaftsliberale Sichtweise wider.

Die Rolle der Medien und Politik

Talkshows wie Lanz, Maischberger, Nachrichtensendungen oder Zeitungen und das Internet tragen wesentlich dazu bei, die scheinbare Neutralität der Ökonomie zu fördern. In den Medien werden Ökonomen oft als objektive Experten präsentiert, deren Aussagen als wissenschaftliche Wahrheiten gelten. Doch sollte man stets auf der Hut sein, denn ihre Meinungen sind häufig von ideologischen Interessen geprägt. Ökonomen wie Lars Feld oder Clemens Fuest werden regelmäßig in den Medien als neutrale Stimmen zitiert, ohne dass hinterfragt wird, welche Wertvorstellungen und Interessen sie tatsächlich vertreten.

Diese vermeintliche Objektivität führt dazu, dass ihre Empfehlungen – etwa zur Schuldenbremse oder Steuerpolitik – von der Öffentlichkeit als alternativlos wahrgenommen werden. Die Politik nutzt diese Expertise oft, um umstrittene Maßnahmen wie Sparprogramme oder Arbeitsmarktreformen zu legitimieren, die in Wahrheit auf einer bestimmten ideologischen Ausrichtung beruhen, auffällig häufig im Sinne des Neoliberalismus und des freien Marktes.

Ökonomie als Werkzeug der Macht

Die Ökonomie ist nicht nur eine wissenschaftliche Disziplin, sondern oft auch ein Werkzeug der Macht. Wirtschaftspolitische Empfehlungen werden genutzt, um Maßnahmen zu legitimieren, die bestimmten Gruppen – etwa der Wirtschaftselite, Arbeitgebern oder Investoren – zugutekommen. So wird etwa die Schuldenbremse nicht als politisch-ideologische Entscheidung dargestellt, sondern als ökonomische Notwendigkeit verkauft. Sparen hat schließlich einen guten Ruf und wirkt geradezu tugendhaft. Leider ist es makroökonomisch oft wenig sinnvoll, da Sparmaßnahmen in Krisenzeiten die gesamtwirtschaftliche Nachfrage schwächen und zu einer Vertiefung der Rezession führen können. Die vermeintliche Neutralität der Institutsökonomen verdeckt also die Tatsache, dass wirtschaftspolitische Maßnahmen oft von den Interessen bestimmter Gruppen beeinflusst sind.

Ist die Ökonomie überhaupt eine Wissenschaft?

Angesichts der vielen ideologischen Widersprüche und der Nähe zu wirtschaftlichen und politischen Interessen stellt sich die Frage, ob die Ökonomie wirklich den Anspruch einer neutralen Wissenschaft erfüllen kann. Freilich besteht Einigkeit darüber, dass die Ökonomie als Sozialwissenschaft nicht den Status einer exakten Wissenschaft innehat. Dennoch sollte Wissenschaft allgemein Theorien hervorbringen, die nachvollziehbar sind und zu verlässlichen Vorhersagen führen. In der Ökonomie jedoch existiert eine Vielzahl von Theorien, die sich oft widersprechen und stark von politischen Ideologien beeinflusst sind. Dies erschwert es, die Ökonomie als objektive Wissenschaft zu betrachten. Statt einer einheitlichen Methodik und gesicherten Erkenntnissen dient sie zu oft als Bühne für ideologische Auseinandersetzungen, bei denen verschiedene Interessengruppen um die Deutungshoheit ringen. Wenn aber wirtschaftspolitische Empfehlungen maßgeblich von der jeweiligen Denkschule abhängen, wird der Anspruch der Ökonomie auf wissenschaftliche Neutralität schlicht untergraben.

Ein weiteres Problem in der Ökonomie ist der oft unkritische Einsatz von Modellen, die auf stark vereinfachten Annahmen beruhen. Ein Beispiel hierfür ist das Marshall-Kreuz, ein neoklassisches Modell, das Angebot und Nachfrage beschreibt. Obwohl dieses Modell in der Volkswirtschaftslehre weit verbreitet ist, basieren seine Aussagen auf sehr spezifischen Voraussetzungen, die in der Realität häufig nicht erfüllt sind. Die idealisierenden Annahmen entfernen sich erheblich von den tatsächlichen Marktbedingungen und dem Verhalten der Wirtschaftssubjekte. Problematisch wird es, wenn solche Modelle auf Situationen angewendet werden, in denen ihre Voraussetzungen klar nicht gegeben sind. Die wiederholte Anwendung dieser vereinfachten Modelle, oft ohne Rücksicht auf ihre Grenzen, kann dazu führen, dass anstelle von fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen ideologische Vorstellungen verbreitet werden—etwa die Annahme, dass freie Märkte stets optimal funktionieren, wenn man sie nur ungestört lässt.[3]

Ökonomie als Wissenschaft? Abschließende Gedanken

Ein großes Problem der Ökonomie liegt in der ideologischen Färbung vieler Theorien, die oft politische oder weltanschauliche Ansichten stärker widerspiegeln als wissenschaftliche Neutralität. Ökonomische Modelle wie das Marshall-Kreuz oder der Homo Oeconomicus basieren auf stark vereinfachten Annahmen über Märkte und menschliches Verhalten, die in der komplexen, realen Welt selten zutreffen. Diese Vereinfachungen führen zu einer eingeschränkten Vorhersagekraft und untergraben die Glaubwürdigkeit der Disziplin als exakte Wissenschaft.

Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, wo Theorien durch klare, reproduzierbare Methoden überprüft werden, ist die Ökonomie eine Disziplin, die stark von kulturellen, historischen und politischen Einflüssen abhängt. Ökonomische Modelle erheben den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, ignorieren dabei aber oft die Bedingungen, unter denen sie gelten. Dies hat dazu geführt, dass die Ökonomie nicht mehr als neutrale Wissenschaft betrachtet werden kann, sondern vielmehr als machtpolitisches zur Sicherung der Deutungshoheit missbraucht wird.

Deshalb ist die Ökonomie als „politische Leitwissenschaft“ in Frage zu stellen, da sie politische Entscheidungen beeinflusst, ohne dieselbe empirische Verlässlichkeit wie die Naturwissenschaften zu haben. Die vermeintliche Objektivität, die viele ökonomische Theorien beanspruchen, verschleiert ihre ideologische Ausrichtung. Am Ende scheint es in der Ökonomie wohl vielmehr darauf anzukommen, was sie glauben.


Quellenverzeichnis

[1] Vgl. https://lobbypedia.de/wiki/Institut_der_deutschen_Wirtschaft, Abgerufen 13.10.2024

[2] Vgl. https://lobbypedia.de/wiki/Sachverst%C3%A4ndigenrat_zur_Begutachtung_der_gesamtwirtschaftlichen_Entwicklung, Abgerufen: 13.10.2024

[3] https://www.math.uni-hamburg.de/home/ortlieb/FASInterview.html, Abgerufen: 14.10.2024



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