Macht Orange farbenblind? Kann Deutschland von der niederländischen Fußballidentität lernen?
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Das hilflose Gefühl einiger Menschen sich mit der deutschen Nationalmannschaft zu identifizieren oder auch nur anzufreunden, ist nach jedem Spiel neu zu beobachten. Wobei es jenen besser gelegen wäre, wenn sich ihr Pessimismus in deren Scheitern bestätigte. Aber „Die Mannschaft“ macht wieder Freude und ist ein Aushängeschild einer pluralen Gesellschaft und der beste Beweis dafür, dass es geht. Und trotzdem bleiben die Diskussionen um biodeutsch oder nicht. Die Hautfarbe spielt in diesem Kontext leider eine Rolle. Während „Die Mannschaft“ in Deutschland als moderne, aber neutrale Marke positioniert wird, vereint „Oranje“ die Niederlande durch eine starke Symbolik, die alle Unterschiede in einem leuchtenden Meer aus Orange aufgehen lässt.
Natürlich gibt es auch in den Niederlanden Diskussionen über Migration. Doch das Land hat eine lange Tradition der Offenheit, die tief in seiner Kultur verankert ist. Orange greift auf diese historische Identität zurück und funktioniert als Symbol daher besonders gut. Meine Theorie ist also eine Vereinfachung, die die historisch-kulturellen Unterschiede zwischen den Niederlanden und Deutschland vernachlässigt, aber sie zeigt mit einem Augenzwinkern, dass Farbe ein mächtiges Symbol sein kann, das Unterschiede harmonisiert.
Der DFB und die Marke „Die Mannschaft„
Das Konzept von „Die Mannschaft“ des Deutschen Fußballbundes ist gut gemeint und soll Werte wie Integrität, Inklusion und Teamgeist symbolisieren, doch am Ende bleibt es beliebig. Hinter ihr kann sich alles verbergen oder auch nichts. Sie trägt ein wenig dem Zeitgeist Rechnung und ist das gutgemeinte Ergebnis einer Kultur, die bemüht ist, der Vielfalt gerecht zu werden, niemandem zu benachteiligen und auf keinen Fall zu polarisieren. Neutralität ist demzufolge ein hoher Wert. Und „Die Mannschaft“ wird diesem Kulturverständnis voll gerecht. Sie bezeichnet nüchtern, was sie ist.
Eine Marke ohne Tradition
In Deutschland ist es ein neues Phänomen. Jahrelang hieß es in preußischer Formalität und von jedem Spaß befreit, „Deutsche Nationalmannschaft“. Man bekommt dabei fast Minderwertigkeitskomplexe, wenn man Namen hört wie die „Three Lions“ für England, die „Squadra Azzurra“ für Italien, La Albiceleste für Argentienen, die Seleção Canarinho, die Kanarienvögel aus Brasilien oder die Oranje aus Holland.
Während all diese großen Namen aber eine lange historische Tradition haben und tief in die kulturelle Identität ihrer Nationen verankert sind, ist „Die Mannschaft“ eine Marketingkreation des Deutschen Fußballbundes. Unter der Leitung von Oliver Bierhoff wurde der Begriff eingeführt, um die Nationalmannschaft als Marke zu positionieren. Nun ist es eben so, dass wir in Deutschland folgende Situation vorfinden. Die Mehrheit, die sich über die Erfolge freuen kann, und eine Minderheit, deren Identitätsgefühl irritiert, ablehnend oder sogar entfremdet ist. Dieser Spalt wird dadurch verstärkt, dass ein starkes, visuelles Symbol fehlt, das die Vielfalt der Spieler und der Fans überlagern könnte.
Oranje und die Klärung der Farbfrage
Ich habe gestern die Zusammenfassung des Spiels der Niederlande gegen Ungarn in der „Nations League“ angesehen. Bei all dem Orange kamen bei mir sofort wieder die Bilder einen sympathisch-durchgeknallten Fankultur hoch, deren Orange die ganze Straße einnimmt und die Menge freudig von links nach rechts hüpft und man den Eindruck hat, die Straße selbst freut sich mit Ihnen. Es geht mir gar nicht darum, die deutschen Fans oder die deutschen zu kritisieren, wir haben eben keine Farbe wie etwa die Niederländer. Und ich denke deshalb, dass bei uns die Farbfrage nicht geklärt ist.
Oranje
Orange ist nicht nur eine auffällige Farbe – sie hat in der niederländischen Kultur eine tiefe historische und symbolische Bedeutung. Die Farbe steht für das Königshaus von Oranien-Nassau und ist fest in der nationalen Identität verankert. Schon seit dem 16. Jahrhundert symbolisiert Orange den Freiheitskampf der Niederlande und wird heute als Ausdruck des nationalen Stolzes gesehen.[1] Die niederländische Nationalmannschaft trägt diesen Stolz auf dem Spielfeld, und die Fans bringen ihn auf den Straßen zum Ausdruck. Das gesamte Land kleidet sich in Orange – es ist nicht einfach ein Fußballspiel, es ist ein ein visuelles Spektakel mit einer Dominanz, die keine andere Farbe zulässt. Die Farbfrage ist in den Niederlanden also geklärt.
Oranje: Kognitive Sättigung durch Orange
Was wir hier beobachten, würde ich als kognitive Sättigung bezeichnen. Die Wahrnehmung der Fans und der Zuschauer wird so stark von orange geprägt, dass alle anderen visuellen Reize verdrängt werden. Wir werden, förmlich vom Orange „abgefüllt“. Orange übt eine starke visuelle Dominanz aus und lässt keinen Raum für Differenzierungen. Hautfarbe, Herkunft und Unterschiede werden in einem kollektiven Farbrauschen aufgelöst und verschmelzen zu einer leuchtenden Einheit. Das kollektive Symbol der Farbe Orange schafft also eine Einheit, die so stark ist, dass die individuellen Unterschiede kaum wahrgenommen werden. Schwarz, Braun, Weiß gehen letztlich in einem Meer aus Oranje unter und verlieren zunehmend ihre Bedeutung.
Dieser Effekt lässt sich psychologisch erklären. Die Gestaltpsychologie beschreibt, wie unser Gehirn visuelle Eindrücke zu einem kohärenten Ganzen zusammenführt. Das Orange der niederländischen Nationalmannschaft wirkt wie ein visueller Anker, der Spieler und Fans zu einer homogenen Einheit verschmelzen lässt. Individuelle Merkmale treten in den Hintergrund, weil das Gehirn sie zugunsten des geschlossenen Bildes ignoriert.[1] Zudem tritt der Effekt der perzeptuellen Sättigung ein: Wenn ein dominanter, wiederholter Reiz das visuelle Feld dominiert, schwächt dies die Wahrnehmung konkurrierender Merkmale wie Hautfarbe und Herkunft. Das Gehirn wird regelrecht „gesättigt“ von der intensiven Farbe, die als Filter fungiert.[2] Auch die soziale Identitätstheorie liefert eine Erklärung: Menschen neigen dazu, ihre Identität stark aus der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen zu beziehen. Die Farbe Orange symbolisiert diese Zugehörigkeit so kraftvoll, dass sie die Identifikation mit der Gruppe „Oranje“ verstärkt und individuelle Unterschiede überlagert.[3]
In Deutschland hingegen gibt keine vergleichbare Symbolik die Imstande ist, die visuelle Vielfalt zu überlagern. „Die Mannschaft“ wird daran auch nichts ändern. Letztlich ist sie eine neutrale, fast sterile Bezeichnung, die wenig Raum für Emotionen oder starke Identifikation lässt. Ohne ein solches visuelles Symbol richtet sich die Wahrnehmung zwangsläufig auf die individuellen Unterschiede der Spieler. Die Frage nach der Hautfarbe wird plötzlich wichtig, weil es nichts gibt, das diese Unterschiede überdeckt.
Die Kraft der Symbolik
Die niederländische Fankultur zeigt, wie stark ein einziges Symbol sein kann. „Oranje“ ist eben nicht nur eine Trikotfarbe. Sie ist auch keine Marke. Sie ist ein Ausdruck nationaler Identität, ein visuelles Bekenntnis zur Einheit. Die Farbe schafft eine kollektive Identität. Die Aufmerksamkeit gilt nicht den individuellen Unterschieden, sondern der Einheit. In Deutschland fehlt eine solche Symbolik, und das erklärt vielleicht, warum die Diskussionen über Hautfarbe und Herkunft hier immer wieder aufkeimen. Ohne ein starkes visuelles Symbol, das die Vielfalt überdeckt, bleibt die Frage nach der Hautfarbe präsent und wird bewusst und manchmal auch unbewusst zum Thema gemacht.
Oranje: Farbe als Symbol der Einheit
Farbe ist ein universelles Symbol, das auf Einheit zielt, ohne konkrete Bedeutungen aufzuzwingen. Im Gegensatz zu spezifischen Symbolen wie Tieren oder historischen Figuren, die immer bestimmte Geschichten oder Ideologien mit sich tragen, bleibt Farbe abstrakt und unverfänglich. Sie spricht direkt die Emotionen an und schafft Identifikation, ohne jemanden auszuschließen.
Orange ist hierfür besonders geeignet. Es ist eine auffällige, positive Farbe, die keine kontroversen Assoziationen weckt und in den Niederlanden für Lebensfreude und Zusammenhalt steht. Die Symbolik von Orange ist offen und integrativ – sie überdeckt Unterschiede und schafft eine klare, gemeinsame Identität. Während andere Symbole polarisieren können, wirkt Farbe als verbindendes Element. Die niederländische Nationalmannschaft und Fankultur nutzt diese Eigrnschaft. Das Orange verbindet Spieler und Fans, schafft Zugehörigkeit und löst individuelle Unterschiede in einer kollektiven Einheit auf.
Abschließende Gedanken
Farbe als Symbol ist eine gute Idee. Sie verbindet und nivelliert Unterschiede, schafft Zusammenhalt und kann eine starke emotionale Wirkung entfalten. Natürlich kann aber eine Farbe keine komplexen Gesellschaftlichen Probleme lösen. Aber sie erscheint als ein kraftvolles, Werkzeug, das in den Niederlanden so gut funktioniert, weil es auf einer tief verwurzelten historischen Identität aufbaut. In Deutschland fehlt eine solche Tradition.
Am Ende stellt sich die Frage, ob eine stärkere visuelle Identität auch der deutschen Nationalmannschaft helfen könnte, die Vielfalt der Spieler in ein gemeinsames, verbindendes Symbol zu überführen. Vielleicht ist aber die deutsche Skepsis gegenüber starken Symbolen auch Teil unserer belasteten Geschichte.
Könnte eine stärkere visuelle Identität auch hierzulande dazu beitragen, eine solche Einheit zu schaffen?
Quellenverzeichnis:
[1] https://www.dhm.de/blog/2018/04/03/die-niederlaender-und-ihr-oranjegefuehl/, Abgerufen am: 17.11.2024
[1] https://www.gestaltpsychologie.net/gesetz-der-geschlossenheit.shtml, Abgerufen am 17.11.2024
[2] Breiner, T. (2019). Gestaltpsychologie. In: Farb- und Formpsychologie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-57870-4_9
[3] https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/konsistenztheorien/8084, Abgerufen am 17.11.2024
Interne Links:
Das Theater der Träume – eine kleine Philosophie des Fußballs
Vielfalt: Bereicherung oder Herausforderung