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Die Bewertung (Teil 3) – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDie Bewertung (Teil 3) – Neues aus Dystopia Am Nachmittag, auf dem Rückweg, rempelte ihn jemand leicht an.Nichts Ungewöhnliches.Die Straße war voll.Beiläufig spürte er etwas in seiner Hand. Ein gefalteter Zettel.Klein. Unauffällig.Er steckte ihn ein, ohne hinzusehen. Zu Hause faltete er ihn auf.Nur ein Satz:„Dort, wo Punkte keine Rolle spielen. 21 Uhr. Tor 3.“ Er überlegte, den Zettel wegzuwerfen.Tat es nicht.Er legte ihn auf den Tisch.Sah ihn an.Den ganzen Abend lang. Um zwanzig vor neun stand er auf.Zog eine Jacke an.Verließ die Wohnung, ohne Plan, ohne Absicherung. Tor 3 lag in einem alten Industriegebiet.Zwischen rostigen Zäunen und geborstenen Fenstern.Keine Scanner.Kein Licht.Nur eine schwere Tür. Er drückte sie auf.…
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Die Bewertung (Teil 2) – Neues aus Dystopia
Lesedauer < 1 MinuteDie Bewertung (Teil 2) – Neues aus Dystopia Sein Score blieb bei 4,29.Seit drei Tagen unverändert.Er tat, was erwartet wurde.Er lächelte. Er schwieg. Er nickte.Aber die Zahl rührte sich nicht.Wie eine Mauer.Still. Undurchdringlich. Am Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, blieb er kurz stehen.Auf dem Platz vor der Schule übten Kinder.Ein Mann im grauen Anzug gab Anweisungen.„Nach einem Lob: Lächeln und Danke sagen. Langsam nicken.“„Bei Kritik: Augen leicht senken, keine Rechtfertigung.“„Wer schneller reagiert, bekommt bessere Werte.“ Die Kinder wiederholten brav.Sätze, Gesten, Blicke.Einstudiert. Bewertbar.Sie lachten nicht.Sie lachten korrekt. Er sah ihnen zu, eine Weile.Dann senkte er den Blick.Zu langes Beobachten war riskant.Es könnte Fragen aufwerfen.Und Fragen waren gefährlich.…
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Das Gedächtnis – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDas Gedächtnis – Neues aus Dystopia Er erinnerte sich nicht mehr an den Moment. Nur daran, ihn später angeschaut zu haben. Er wusste, dass er gelacht hatte. Nicht, weil er es fühlte. Sondern weil das System es so gespeichert hatte. Er konnte es sehen – im Gedächtnis, auf dem Mitschnitt von Dienstag, 14:07 Uhr. Lächeln. Tonspur: leichtes Lachen. Alle Momente wurden archiviert. Lückenlos. Zugänglich. Verlässlich. Die Kamera an der Jacke, das Ohrmodul, das Rückensensorfeld – alles synchronisiert. Kein Gefühl, kein Blick, keine Geste ging verloren. Man nannte es Gedächtniserweiterung. Aber eigentlich war es eine Auslagerung. Ein langsamer Tausch. Erlebnis gegen Aufzeichnung. Früher hatte er sich an Dinge erinnert,…
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Die Bewertung (Teil 1)- Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDie Bewertung (Teil 1) – Neues aus Dystopia Sein Score betrug 4,31.Am Morgen blinkte die Zahl auf dem Display in seiner Küche.Grün auf weiß. Freundlich. Unnachgiebig.4,31 bedeutete: Zugang zu allen Bereichen.Gute Viertel. Saubere Straßen. Sicherheit.Man musste nichts Besonderes tun.Nur nichts Falsches. Im Aufzug nickte er höflich.Nicht zu überschwänglich.Nicht zu reserviert.Auf der Straße wich er aus, wenn jemand zu nah kam.Er lächelte im richtigen Moment.Er schwieg im richtigen Moment.Kleine Gesten. Kleine Punkte.Unmerklich.Und doch entscheidend. Er wusste, wie man sprach.Keine Ecken, keine Kanten.Keine Meinung, die stoßen könnte.Man sagte, was man sagte.Man empfand, was man empfand.Man glaubte, was geglaubt wurde.Nicht aus Überzeugung. Aus Gewohnheit. Einmal, im letzten Jahr, hatte er einen…
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Die Nacht: Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDie Nacht: Neues aus Dystopia Sie wollten nichts verpassen. Also begannen sie, die Nacht aufzuzeichnen. Alle. Jede Sekunde. Recorder hingen in den Schlafzimmern. In Parks. In Bars. Auf leeren Straßen. Am Morgen wurden die Nächte beschleunigt. Die Aufnahmen liefen in fünffacher Geschwindigkeit. So konnte man sie nacherleben, bevor der neue Tag begann. „Man darf nichts verpassen“, sagte ein Mann im Anzug. Er trug zwei Recorder, einen für Träume, einen für Geräusche. Ein Kind fragte: „Was war gerade?“ Seine Stimme klang ernst, fast unruhig. Er hatte etwas gehört, ein Geräusch vielleicht, oder ein Licht gesehen. Etwas, das bedeutsam hätte sein können. Er wollte sicher sein, dass es aufgezeichnet war.…
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Immer weiter – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenImmer weiter – Neues aus Dystopia Er rannte nicht. Aber er ging schneller als nötig.Alle taten das. Niemand sagte es, aber man spürte es: Wer langsamer war, galt als irgendwie falsch.Als habe er den Takt verloren. Ein Mann vor ihm stieß sich die Tür auf, ohne zu halten. Dahinter ein Gang. Noch einer. Wieder Türen.Ein System aus Gängen, das sich zu beschleunigen schien, je weiter man ging. „Bleiben Sie bitte in Bewegung“, sagte eine Stimme aus der Wand.Er blieb stehen.„Bitte weitergehen“, sagte sie.Nicht fordernd. Nur sachlich. In einem Raum saßen Menschen an Laufbändern. Sie schrieben Nachrichten, sortierten Aufgaben, beantworteten Anfragen, sprachen miteinander – während ihre Körper in Bewegung…
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„Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass….“ – eine Sprachkritik
Lesedauer 3 MinutenEs ist wissenschaftlich bewiesen, dass…. Neulich bin ich auf Facebook auf einen dieser „Faktastisch“-Beiträge gestoßen. Sinngemäß stand dort: „Wissenschaftlich bewiesen: Der ideale Altersunterschied für eine glückliche Beziehung.“ Das ist auf der einen Seite fast schon banal, auf der anderen Seite aber kein Einzelfall. Denn man hört leider oft, dass etwas wissenschaftlich bewiesen sei. Diese Formulierung erzeugt leider zu oft nur den Anschein von Objektivität und Unangreifbarkeit – so, als hätte die Wahrheit nun ihre letzte Gestalt gefunden. Weitergetragen wird diese vermeintliche Gewissheit dann im Gespräch. Der eine erzählt dem anderen, dass die Wissenschaft dieses oder jenes bewiesen hätte. So verbreitet sich dann eine angeblich evidenzbasierte Wahrheit – und gewinnt mit jeder Wiederholung…
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Man sagt – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenMan saß in Reihen. Nicht zu nah, nicht zu weit.Man sprach leise, wenn überhaupt.Die Gespräche begannen fast immer gleich: „Man sagt“„Man hat gehört…“„Man weiß ja…“„Man sollte…“ Es war nicht unhöflich, nur… unpersönlich.Kein Name, kein Ich, kein Du.Nur das, was man eben so sagte. Der Junge bemerkte es zuerst in sich selbst.Ein Wort, das ihm auf der Zunge lag.„Ich.“Er sprach es nicht aus. Aber es wuchs. In der Schule wurde gelehrt, wie man spricht.„Man sagt Danke.“„Man sagt Entschuldigung.“„Man fragt nicht zu viel.“Die Lehrerin lächelte viel. Aber sie sagte nie: „Ich weiß es.“Nur: „Man weiß es.“ Eines Tages, in einer Pause, sagte der Junge leise:„Ich hab geträumt.“Ein anderes Kind sah…