
Rationalität durch Emotionalität: Ich fühle also bin ich
Rationalität durch Emotionalität: Ich fühle also bin ich
Nicht selten begegnen wir der Vorstellung, Rationalität und Emotionalität seien voneinander getrennte Zustände. Diese Dichotomie hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht – etwa bei Platon und Aristoteles, die das Rationale als überlegen ansahen. Eine besondere Zuspitzung aber erfährt sie in der Philosophie Descartes. In seiner Methode des radikalen Zweifels zieht er alles in Zweifel – Sinneswahrnehmung, Körper, Gefühle – bis einzig das Denken als unbezweifelbarer Ursprung übrigbleibt. Mit dem cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) wird das Denken zur alleinigen Gewissheit – während Emotionen und Körper in die Sphäre des Zweifelhaften verwiesen werden.
Philosophische Grundlegung
Die Vorstellung, dass das Denken dem Fühlen vorausgeht, ist Ausdruck einer tradierten abendländischen Hierarchisierung, die ihren Ursprung bereits in der Antike hat. Schon bei Platon und Aristoteles findet sich die Tendenz, das Rationale als das Höhere, das Emotionale als das Niedere und Unzuverlässige zu bewerten. Platon stellt die Vernunft über den triebhaften Teil der Seele, Aristoteles fordert die Zähmung der Affekte durch die Tugend der Mitte. Dieses Denkmodell hat sich durch die Jahrhunderte gezogen – bis es im 20. Jahrhundert durch die Existenzphilosophie ins Wanken geriet. Dort zeigt sich ein anderes Verständnis des Menschseins – eines, das beim Fühlen ansetzt, nicht beim Denken.
Martin Heidegger stellte in Sein und Zeit die Kategorie der „Gestimmtheit“ ins Zentrum seines Denkens. Der Mensch, so Heidegger, ist nie ein rein neutraler Beobachter, sondern immer schon gestimmt – er „findet sich vor“ in einer bestimmten emotionalen Grundverfassung: Angst, Sorge, Langeweile, Freude. Diese Stimmungen sind nicht nachträglich, sondern ursprünglich. Sie eröffnen erst das Feld, in dem Welt überhaupt begegnen kann. Rationalität – das Denken über etwas – ist demnach nicht der Anfang, sondern eine Reaktion auf ein bereits affektives In-der-Welt-Sein.
Auch Maurice Merleau-Ponty, einer der Hauptvertreter der Phänomenologie des Leibes, betont: Der Mensch begegnet der Welt zunächst leiblich – nicht distanziert, nicht denkend, sondern handelnd, fühlend, wahrnehmend. Die Vernunft artikuliert sich aus diesem leiblich-emotionalen Verhältnis zur Welt heraus. Das Fühlen ist keine Störung der Rationalität – es ist ihre Voraussetzung.
Und schließlich Friedrich Nietzsche, der die Vernunft entzaubert: Für ihn ist das Denken nicht autonom, sondern ein Werkzeug der Leidenschaften. „Der Wille zur Wahrheit“ sei nichts anderes als ein Ausdruck tieferer Triebe – ein Bedürfnis nach Ordnung, Kontrolle, Macht. Damit stellt Nietzsche die Hierarchie auf den Kopf: Nicht der Mensch denkt und fühlt dann, sondern die Leidenschaften denken durch den Menschen.
Diese Denker zeigen: Der Mensch ist kein denkendes Wesen, das auch fühlt – sondern ein fühlendes Wesen, das im Denken nach Orientierung sucht.
Rationalität und Emotionalität: Empirische und psychologische Bestätigung
Was in der Philosophie des 20. Jahrhunderts vorbereitet wurde, hat in den Neurowissenschaften und der Psychologie der letzten Jahrzehnte eine eindrucksvolle Bestätigung gefunden. Denn auch empirisch lässt sich die Trennung von Rationalität und Emotionalität nicht mehr halten.
Besonders eindrucksvoll sind die Forschungen des Neurowissenschaftlers Antonio Damasio, der in seinem Werk Descartes’ Irrtum anhand neurologischer Fallstudien zeigt, dass Menschen, die durch eine Hirnschädigung keine Emotionen mehr empfinden können, auch nicht mehr in der Lage sind, sinnvolle Entscheidungen zu treffen – obwohl ihre kognitiven Fähigkeiten vollständig erhalten bleiben.
Damasio beschreibt den Fall von Elliot, einem erfolgreichen Geschäftsmann, der nach der Entfernung eines Tumors im Bereich des ventromedialen präfrontalen Kortex keine emotionalen Reaktionen mehr zeigen konnte. Obwohl seine Intelligenz, sein Gedächtnis und seine logischen Fähigkeiten unangetastet blieben, war er nicht mehr in der Lage, Prioritäten zu setzen, Risiken abzuwägen oder Alltagssituationen sinnvoll zu bewältigen. Er wurde planlos, unentschieden und scheiterte sozial wie beruflich.
Der Fall zeigt: Rationalität ohne emotionale Bewertung wird orientierungslos. Es fehlt die Gewichtung, die Richtung, die Motivation. Emotionen sind nicht Störfaktoren, sondern die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt zu urteilen und zu handeln.
Auch die moderne Kognitionspsychologie hat längst erkannt, dass der Mensch nicht in einem neutralen Modus der reinen Vernunft operiert. Das Denken ist eingebettet in emotionale Kontexte, und diese beeinflussen unsere Wahrnehmung, Erinnerung, Urteilsfähigkeit und Handlungsbereitschaft. Konzepte wie emotionale Intelligenz, affektive Kognition oder somatische Marker machen deutlich, dass es kein Denken ohne Fühlen gibt. Vielmehr ist jede noch so rationale Entscheidung tief affektiv unterfüttert – sei es durch Vertrauen, Angst, Hoffnung oder Begehren.
Selbst in der Wirtschaft, die lange auf Rationalität setzte, wird inzwischen anerkannt: Kaufentscheidungen, Urteile über Risiko, sogar langfristige strategische Überlegungen werden maßgeblich durch affektive Zustände geprägt. Die Idee des homo oeconomicus, des rein rational handelnden Individuums, ist längst widerlegt – und war wohl nie mehr als ein theoretisches Konstrukt ohne Wirklichkeitsbezug.
Rationalität durch Emotionalität: Ich fühle, also bin ich: Ein Fazit
Das Fühlen ist der ursprüngliche Modus menschlicher Existenz. Noch bevor ein Gedanke entsteht, ist der Mensch bereits in eine Welt gestellt, die berührt, aufwühlt, begeistert oder verstört. Innerhalb dieses affektiven Bezugs zur Welt entfaltet sich das Denken – nicht als Gegenpol, sondern als Reaktion, als Orientierung im emotionalen Feld.
Der Gedanke ist kein losgelöstes, kaltes Instrument. Er gewinnt Bedeutung erst durch die affektive Gestimmtheit, in der er sich vollzieht. Rationalität ist durchdrungen von Emotion – und Emotion wird durch Denken strukturiert. Beide sind nicht trennbar, sondern bilden eine unauflösliche Einheit.
Die Vorstellung vom rationalen Subjekt als Inbegriff des Menschlichen wird zunehmend relativiert – philosophisch wie empirisch. Nicht „Ich denke, also bin ich“ – sondern: Ich fühle, also bin ich. Denn jedes Denken beginnt im Erleben – nicht im Zweifel.
Literatur- und Quellenverzeichnis
- Damasio, A. R. (n. d.). António R. Damásio. In Wikipedia. Abgerufen am 6. Mai 2025, von https://de.wikipedia.org/wiki/Ant%C3%B3nio_R._Dam%C3%A1sio
- Deutschlandfunk Kultur. (n. d.). Die Sehnsucht nach Orientierung. Abgerufen am 6. Mai 2025, von https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-sehnsucht-nach-orientierung-100.html (Hinweis: genaue URL ggf. prüfen, da nicht vollständig übergeben)
- Heidegger, M. (2005). Sein und Zeit (19. Aufl.). Max Niemeyer Verlag. Abgerufen am 6. Mai 2025, von https://www.sas.upenn.edu/~cavitch/pdf-library/Heidegger_Sein_und_Zeit.pdf
- Verywell Mind. (n. d.). What is the Affect Heuristic? Abgerufen am 6. Mai 2025, von https://www.verywellmind.com/what-is-the-affect-heuristic-2795028
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