Raum und Leere: Einblicke in verborgene Dimensionen
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Raum und Leere: Von der physikalischen Dimension zur kulturellen Bedeutung
Ich weiß nicht welches Verhältnis Sie zu Raum und Leere haben, aber vielleicht haben Sie nach dem Lesen dieses Artikels ein anderes Verhältnis zu Vasen, Eimern oder Tupperdosen.
Die Leere steht nämlich nicht selten im Verdacht, ein Symbol der Nutzlosigkeit oder des Mangels zu sein. In einer Gesellschaft, die oft von der Idee des „Mehr ist besser“ geprägt ist, wird die Leere manchmal als etwas gesehen, das gefüllt werden muss – sei es mit materiellen Dingen oder ständiger Aktivität – Sie kennen das vielleicht, wenn Sie sich einmal darüber beschwert haben, warum die Schokokugel innen hohl war. Dies jedoch, kann dazu führen, dass die subtileren, aber ebenso wichtigen Werte, die Leere mit sich bringen kann, wie Ruhe, Potential und Raum für Neues, übersehen oder unterschätzt werden. Im Falle der Schokokugel sparen Sie sich jedenfalls Kalorien ein.
Was haben wir hier?
Richtig, eine Vase. Ihre Geschichte ist alt – sehr alt – aber das tut nicht unbedingt etwas zur Sache. Wichtiger ist ihre Funktion, denn es geht mir hier um unser Verhältnis zum Raum und zur Leere. Die Leere in Gegenständen wie einer Vase hat eine tiefe, fast schon mystische Bedeutung. Denn der leere Raum, den wir in einer Vase schaffen, ist ein geradezu geheimnisvoller Ort. Eine Vase wird vor allem deshalb geschätzt, weil sie zunächst nichts enthält. Sie ist in ihrem Ursprungszustand leer – und diese Leere ist kein Mangel, sondern vielmehr ihr Vorzug. Die Vase oder das Gefäß ist ein Raum im Raum. Man könnte sagen, sie ist eine der ersten und einfachsten Formen der Raumstrukturierung.
Stellen Sie sich vor, Sie stünden irgendwo am Anfang der Zeit, umgeben von unermesslichem Raum. Was wollen Sie mit all diesem Raum anfangen? Er ist praktisch nutzlos – ich betone, praktisch nutzlos. Denn natürlich brauchen Sie Raum zum Stehen, Laufen oder Tun, aber Sie können ihn nicht konkret nutzen. Vielleicht haben Sie Durst. Ein klarer Bach ist in der Nähe, doch Sie möchten sich frei bewegen und nicht ständig am Bach verharren. Also denken Sie nach. Die meisten Ideen entstehen schließlich aus einem Problem heraus. Sie formen aus Lehm ein Gefäß und lassen es in der Sonne aushärten. Glückwunsch: Sie haben Raum geschaffen – oder besser gesagt, Sie haben den bestehenden Raum nutzbar gemacht. Jetzt können Sie Wasser aus dem Bach im Raum transportieren.
Was ist passiert?
Sie haben den Raum um sich herum organisiert. Sie haben ihn nutzbar gemacht. Während Sie zuvor einfach nur Raum hatten, haben Sie nun durch das Gefäß eine zusätzliche Dimension innerhalb des Raumes geschaffen. In diesem Raum herrscht, jedenfalls aus makroskopischer Sicht, Leere (für den Fall, dass Sie Physiker sind und sich nun beschweren, dass der Raum in Wirklichkeit gar nicht leer ist).
Durch das Gefäß fangen Sie nun den Raum ein, Sie grenzen ein Stück des Raumes vom übrigen Raum ab und machen den Raum auf diese Weise nutzbar. Wenn Sie so wollen, haben Sie nun etwas technisch gesprochen, die Funktionalität des Raumes erhöht. Die Leere innerhalb der neuen Raumdimension taugt ihnen nun, um andere Dinge im Raum zu transportieren.
Wie bereits gesagt, das Tongefäß oder die Vase ist eine sehr einfache Form der Raumorganisation. Sie können auch ein Hochhaus bauen, in das Sie allerhand reinbekommen, das wäre dann aber eine sehr komplexe Struktur mit einem ungeheuren Potential für die darin enthaltene Leere.
Soweit zur rein funktionalen Seite der Raumorganisation. Aber diese Raumorganisation hat nicht nur eine funktionale Seite.
Raum und Leere: Die Ästhetische Dimension des leeren Raumes
Denn diese innere Leere eines Objekts fügt dem Raum nicht nur eine physikalische, sondern auch eine ästhetische Dimension hinzu, die unsere Wahrnehmung des umgebenden Raums beeinflussen kann.
Nehmen Sie das hier.
Was sehen Sie? Natürlich die Form einer Vase. Was Sie nicht sofort sehen aber erahnen können ist, dass die Vase ein Objekt ist, das um eine zentrale Leere herum geformt ist. Diese Leere ist zwar eigentlich nichts, aber dennoch definiert sie die gesamte Form und die Funktion der Vase. Ohne diese Leere im Inneren der Vase, wäre sie kein nutzbares Gefäß. Es ist also gerade das Fehlende, was der Vase das verleiht, was sie schließlich ist.
Diese Betrachtung der Vase, bei der der leere Raum im Zentrum steht, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die oft übersehene Bedeutung des Unsichtbaren. Die Leere im Inneren der Vase ist nicht einfach ein leerer Raum, nicht einfach Nichts; sie ist das Herzstück, das Wesen der Vase. Sie gibt ihr nicht nur ihre Funktion, sondern auch ihre ästhetische Identität – sie ist der unsichtbare, ja der stille Schöpfer des Objektes. Sie verleiht ihr ihre ästhetische Erscheinung. Wenn Sie mir nicht glauben, dann stellen Sie sich die Vase einmal als massiven Körper ohne Öffnung vor, also als reines Vollmaterial. Sie wäre keine Vase mehr, sondern nur ein schwerer, nutzloser Klotz. Genau diese Leere im Inneren macht sie also erst zu dem, was sie ist – ohne sie hätte die Vase wohl nicht eine so lange und vielseitige Geschichte. Je funktionaler wir denken, desto klarer wird es. Oder kaufen Sie sich einen Koffer des Koffers wegen? Natürlich nicht. Entscheidend ist der leere Raum im Inneren, der Ihnen erlaubt, Dinge zu transportieren.
Diese Perspektive eröffnet eine neue Wertschätzung für die Dinge um uns herum. Ein leeres Gefäß, ein leerer Raum, selbst eine Pause in der Musik – all das besitzt eine eigene Schönheit und Bedeutung. Sie bieten Momente des Innehaltens, in denen wir die Fülle des Lebens aus einem anderen Blickwinkel betrachten können. Indem wir die Leere als integralen Bestandteil der Ästhetik anerkennen, beginnen wir, auch die oft unsichtbaren Aspekte unserer Welt zu schätzen. Das schafft eine tiefere Verbindung zu unserer Umgebung und geht über das hinaus, was wir auf den ersten Blick wahrnehmen.
In dieser Hinsicht ist die Vase mehr als nur ein Behälter. Sie ist ein Symbol für das Gleichgewicht zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Sie zeigt uns, dass das Nichtvorhandene genauso wichtig sein kann wie das Vorhandene – und dass in der Leere eine ganz eigene Form der Fülle existiert.
Raum und Leere: Die psychologische Dimension des leeren Raumes
Leerer Raum hat nicht nur eine funktionale oder ästhetische Seite. Er hat auch eine psychologische. Während der Raum in seiner Gesamtheit unstrukturiert, ja unorganisiert ist, bietet die organisierte Raumdimension mit ihrer Leere, Klarheit in einem ansonsten homogenen und unstrukturierten Raum.
Ich möchte es so erklären: In der Schaffung von Gefäßen sehen wir, wie wir den Raum durch Organisation strukturieren. Diese Organisation schafft Ordnung im Raum und führt zu einer neuen Raumstruktur. Während uns der unendliche, unstrukturierte Raum überfordern kann, gibt uns die bewusste Raumstrukturierung durch Gefäße aber auch durch andere Objekte wie Häuser, Hallen, Zimmer und was auch immer, Sicherheit, Halt und ein Gefühl von Ordnung.
Jedes Gefäß, jedes Objekt, das wir formen oder gestalten, ist eine Art, das Undefinierte zu definieren. Wir nehmen einen Teil des unendlichen Raumes und definieren ihn neu – wir geben ihm Grenzen, eine Form und einen Zweck. In diesem Prozess verleihen wir nicht nur dem Raum eine Struktur, sondern auch unserem Geist. Es ist, als würden wir einen Ankerpunkt im Ozean des Raumes setzen, einen festen Punkt, an dem wir uns orientieren können.
Nehmen wir einmal das hier:
Ein Raum im Zen-Stil. Ein minimalistisch organisierter Raum, frei von überflüssigem und Ablenkungen. Wie finden Sie das?
Diese geordnete Leere in den Räumen wie diesem, aber auch in Gefäßen spiegelt eine tiefere Sehnsucht nach Struktur und Verständlichkeit in unserem eigenen Leben wider. In einer Welt, die oft chaotisch und überwältigend erscheint, bietet die klare Struktur eines Raumes oder eines Gefäßes ein Gefühl der Kontrolle und des Verständnisses aber auch von Sicherheit. Es ist eine kleine Insel der Ordnung in einem Meer von Möglichkeiten.
Darüber hinaus schafft die Raumstrukturierung uns die Möglichkeit, unsere Umgebung aktiv zu gestalten. Anstatt passive Empfänger des Raumes zu sein, reichen wir etwas ein, werden wir zu aktiven Gestaltern. Dieses Gestalten gibt uns ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Wir sind nicht länger Ausgesetzte unserer Umgebung, sondern Schöpfer unserer eigenen Welt.
Schließlich hilft uns die Organisation des Raumes unser Leben zu ordnen. Jedes Gefäß, das einen spezifischen Zweck erfüllt, jede zusätzliche Raumdimension hilft uns, unsere täglichen Routinen und Aufgaben zu strukturieren. In diesem Sinne sind Räume wie Gefäße nicht nur physische Objekte; sie sind Werkzeuge, die uns helfen, das Leben selbst zu organisieren und zu bewältigen.
Schlussbetrachtung
Finden Sie nicht auch, dass die Organisation, die Strukturierung des Raums eine elementare Eigenschaft der Kultur ist? Ich würde es sogar so sagen, es ist eine universelle Eigenschaft jeder Kultur. Das schon zeigen die Funde von Gefäßen oder Räumen jeglicher Art, an nahezu jedem Ort dieser Welt.
Unser Verhältnis zum Raum ist daher fast ausschließlich ein kulturelles. Auch wenn Sie der Raum in seiner Ganzheit fasziniert, und ich verstehe das, er fasziniert mich auch, können Sie einfach nichts mit ihm anfangen. Sie können ihn bestaunen, ja, Sie können Fragen stellen, woher er kommt und warum er da ist, aber irgendwann müssen Sie damit anfangen, den Raum zu nutzen, ihn zu organisieren.
Sie werden anfangen ihm Richtungen zu geben, rechts, links, oben, unten, hinten oder vorne, Westen, Osten, Norden und Süden. Sie werden anfangen den Raum physisch zu unterteilen, ihm eine Struktur geben. Sie müssen das tun, sonst werden sie nicht weiterkommen. Aber denken Sie jetzt ja nicht, dass dies eine zutiefst menschliche Eigenschaft ist, oder wie erklären Sie sich den Nestbau der Tiere, das Netz der Spinne und so weiter.
In der Betrachtung von Raum und Leere entdecken wir nicht nur die subtilen Dimensionen unserer physischen Welt, sondern berühren auch die Grundlagen menschlicher Kreativität und Ordnung.
Die Reise durch die Leere führt uns zu einer tieferen Erkenntnis, zu einer Wertschätzung für das, was nicht sofort sichtbar ist. Sie betont die Bedeutung des Unsichtbaren in unserem Leben. Indem wir Raum und Leere als wesentliche Elemente unserer Existenz erkennen, öffnen wir uns für neue Perspektiven des Verstehens und Gestaltens unserer Welt. Lassen wir also die Leere nicht als Mangel, sondern als Raum für unbegrenztes Potential und Schönheit in unserem Leben und in unserer Welt anerkennen und nutzen
Nun, vielleicht sehen Sie nun all den Raum um sie herum aus einem etwas anderen Blickwinkel. Der Eimer jedenfalls den ich zu Beginn erwähnt habe ist ein Eimer, ja, aber eigentlich ist er ein leerer Raum, dessen Objekteigenschaft sich erst durch seine innere Leere definiert.
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Interne Links:
Raum und Zeit als soziale Konstruktion
Externe Links:
Spektrum: Lexikon der Physik – Raum