
Rechtspositivismus: Kelsens Reine Rechtslehre
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Hans Kelsen – „Reine Rechtslehre“: Der Rechtspositivismus
Im Naturrecht hat das Recht eine äußere Dimension. Es wird aus höheren Prinzipien wie etwa der Natur selbst oder einer göttlichen Ordnung abgeleitet. Bei Kant, Fichte oder Hegel hat das Recht eine innere Dimension und ist, auch wenn zwischen diesen drei Denkern Unterschiede bestehen, auf die Vernunft zurückzuführen. De facto ist es aber unbestreitbar, dass das Recht im Vollsinne, nur als gesetztes, als positives Recht existiert, das durch gesellschaftliche Institutionen etabliert und durchsetzbar ist. Genau dies ist auch die Position des österreichisch-amerikanischen Rechtswissenschaftlers Hans Kelsen. Diese Position erinnert zugleich aber auch an die historische Rechtsauffassung, die das Recht, als rein äußere und damit, als empirische- und nicht als Vernunfttatsache auffasst. Die historische Rechtsauffassung ist damit ein Vorläufer des reinen Rechtspositivismus.
Hans Kelsen: Die „Reine Rechtslehre“
Eine interessante Weiterführung dieses historischen Rechtsdenkens findet sich in Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre“, der das Recht ausschließlich als positives und damit von Menschen gesetztes Recht versteht. Warum also eine „Reine Rechtslehre“? Kelsen begegnete einem Rechtsverständnis, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch einen ausgeprägten „Methodensynkretismus“ charakterisiert war. Jurisprudenz war überladen mit Konzepten aus Psychologie, Soziologie, Geschichte und Ökonomie. Kelsen erkannte, dass diese Vermischung die Reinheit der rechtlichen Analyse zu verdunkeln drohte und strebte daher nach einer klaren Trennung der Rechtswissenschaft von anderen Disziplinen.
In seinem Bemühen um methodologische Reinheit entwickelte Kelsen die Idee einer Rechtswissenschaft, die sich ausschließlich als Normenwissenschaft versteht. Dieser Ansatz, vergleichbar mit Edmund Husserls Kampf gegen die Psychologisierung der Logik oder Karl Barths Befreiung der Theologie von fremden wissenschaftlichen Methoden, zielte darauf ab, die Rechtswissenschaft als eine objektive, unabhängige Disziplin zu etablieren. Dieses Streben nach Reinheit und Objektivität war für Kelsen von großer Bedeutung, besonders in einer Zeit, die von politischen Gegensätzen und ideologischen Vereinnahmungen geprägt war. Nach dem Ersten Weltkrieg sah er die Notwendigkeit, die Jurisprudenz von politischen Einflüssen zu befreien und sie erneut als eine „objektive Wissenschaft“ zu begründen.
Die Reine Rechtslehre hat zwei sehr verschiedene Auflagen erlebt. Die erste von 1934 mit einer klaren Absage an die Meinung, Rechtslehre könne auch um Fragen der Rechtsgestaltung gehen, legte den Fokus ausschließlich auf die „Erkenntnis“ von Recht. Die zweite, erheblich umfangreichere Auflage von 1960 weichte diesen Standpunkt bereits etwas auf und bietet eine reichhaltige Diskussionsgrundlage zur Entwicklung von Kelsens Denken. Diese Entwicklung zeigt, wie Kelsen auf die dynamischen Anforderungen der juristischen Praxis reagierte, während er gleichzeitig versuchte, seine Kernprinzipien zu bewahren.
Die philosophische Grundlage und der methodologische Ansatz der Reinen Rechtslehre
Bereits dieser Einsatz bezeichnet die Distanzierung von natur- und vernunftrechtlichen Standpunkten, die zumindest allgemeine Bedingungen dafür formuliert hatten, wie ein Rechtssatz der Form nach auszusehen habe. Hans Kelsen, der in seiner frühen Schaffensperiode selbst stark durch den Neukantianismus beeinflusst war, hält jedoch fest, dass es in einer Reinen Rechtslehre nur um eine Theorie des positiven Rechts gehen könne, nicht um eine Theorie der richtigen Rechtsbildung. Die Entstehung von Rechtssätzen und die komplexen Prozesse ihrer Formulierung und Kodifikation sind für den Juristen erst dann von Bedeutung, wenn das Gesetz bereits in Geltung steht und somit zum „Objekt“ seiner wissenschaftlichen Untersuchung wird.
Diese Herangehensweise erlaubt es Kelsen, die neukantianische Unterscheidung von Geltung und Genese auf den Gegenstand der Rechtswissenschaft zu übertragen und setzt ihn damit in Gegensatz zu rechtstheoretischen Strömungen seiner Zeit, insbesondere zur sogenannten „Interessenjurisprudenz“ der Schule Rudolf von Jherings. Jherings Grundsatz besagte, dass jeder Rechtssatz aus einem praktischen Motiv, einem Zweck, entsteht und genetisch zu betrachten ist, was den Juristen allerdings mehr zum Soziologen als zum Normtheoretiker macht. Kelsen jedoch begründet die Jurisprudenz als eine Geisteswissenschaft, die nicht äußere Vorgänge, sondern die praktische Bedeutung dieser Vorgänge thematisiert. Das Recht bezieht sich zwar auf äußere Tatbestände, wie Kant sagen würde, auf erscheinende Handlungen, doch deren Bewertung erfolgt nicht aufgrund ihrer kausalen Eigenschaften, sondern durch die normative Bedeutung, die ihnen durch die rechtlichen Normen zugewiesen wird.
Ein und derselbe äußere Tatbestand, wie etwa die Tötung eines Menschen, kann unter verschiedenen Deutungsschemata unterschiedliche Bedeutungen annehmen – einmal als Mord, ein anderes Mal als Exekution der Todesstrafe. Was ein Tatbestand „normativ“ ist, entscheidet sich nicht durch den Tatbestand selbst, sondern nur durch den Normbezug, in den er gestellt wird. Die Rechtswissenschaft ist somit eine Wissenschaft von Deutungsschemata für äußere Tatbestände, deren eigene Existenz in der „Geltung“ der Rechtsnormen liegt.
Kelsens scharfe Abgrenzung der rechtswissenschaftlichen „Sinnsphäre“ gegenüber anderen Sphären, insbesondere gegenüber der Moral, verdeutlicht seinen autonomen methodischen Ansatz. Er weist die Vorstellung zurück, dass Moral und das von ihr unabhängige positive Recht gleichzeitig gelten können. Kelsen betont, dass die Rechtswissenschaft nicht nach dem „gerechten Recht“ fragt, da „Gerechtigkeit“ eine Moralkategorie ist und somit außerhalb des Geltungsbereichs des positiven Rechts liegt. Die Gefahr der Berufung auf das Gerechtigkeitsideal besteht darin, dass es nicht mehr um die Erkenntnis des Rechts geht, sondern darum, das Recht zu legitimieren oder zu delegitimieren.
Die Reine Rechtslehre, die explizit „nicht nach dem richtigen Recht“ fragt, stellt somit den Höhepunkt des Rechtspositivismus dar: Sie konzentriert sich ausschließlich auf das faktisch in Geltung stehende juristische Normensystem und weist jegliche meta-rechtliche Normierung des Rechts zurück.
Konkretionen des Positivismus
Welche spezifischen Erkenntnisse über das Recht werden nun im Einzelnen vorgetragen? Kelsen beginnt im dritten Kapitel der Reinen Rechtslehre mit einer Theorie des Rechtssatzes, die diesen ganz allgemein als „hypothetische Regel“ bestimmt, also als einen Satz der Form „Wenn A, dann B“. Der Nachdruck, den Kelsen auf diesen Punkt legt, steht erneut in Verbindung mit seinem Wunsch, sich von der Moral abzugrenzen, denn im Gegensatz zu nicht-utilitaristischen moralischen Imperativen, ist die Rechtsordnung durch hypothetische Regeln bestimmt, was zur „Entmoralisierung“ des Rechts beiträgt.
Diese hypothetische Regel definiert eine Rechtsbedingung, an welche eine Rechtsfolge geknüpft wird. Unter juristischer „Zurechnung“ versteht man daher die Zuordnung einer Rechtsfolge, wie beispielsweise einer Strafe, zu einer spezifischen Bedingung, etwa einem begangenen Delikt. Kelsen betont den rein formalen und damit universalen Charakter dieser Beschreibung, was seine Anwendung unabhängig vom politischen System eines Landes ermöglicht.
Kelsen argumentiert, dass es im Rahmen des positiven Rechtsbegriffs nach seiner Theorie keine „Unrechtsstaaten“ gibt, da jeder Staat per Definition eine Rechtsordnung besitzt. Die Unterscheidung zwischen einem „Rechtsstaat“ und einem „Unrechtsstaat“ sei ein naturrechtliches Vorurteil. Er verdeutlicht dies durch die Behauptung, dass jede Zwangsordnung menschlichen Verhaltens, die sich über Wenn-Dann-Regeln definiert, als rechtsstaatliche Ordnung zu betrachten ist.
In Abgrenzung zum Vernunftrecht, wo das Unrecht als Negation des Rechts gesehen wird, bestimmt sich nach Kelsen das Unrecht ausschließlich im jeweiligen Rechtssystem. Er sieht das Recht nicht als moralische oder innerlich evidente Wahrheit, sondern als „soziale Technik“, eine spezifische Art und Weise, wie Gesellschaft ihre normativen Regeln organisiert und durchsetzt.
Darüber hinaus hebt Kelsen hervor, dass die Reine Rechtslehre die traditionellen juristischen Unterscheidungen, wie die zwischen Individuum und Gemeinschaft oder zwischen öffentlichem und privatem Recht, einebnet. Das Recht betrachtet das Individuum lediglich als Teil der Gemeinschaft, nicht als unabhängige Entität. Dies hat weitreichende Implikationen für das Verständnis von Rechtssubjekten und deren Rechte.
Die Auswirkungen von Kelsens Rechtspositivismus sind weitreichend und fordern eine grundlegende Überprüfung traditioneller Rechtskonzepte. Diese radikale Sichtweise hat dazu beigetragen, dass das positive Recht als unabhängiges und selbstregulierendes System verstanden wird, das seine Legitimität aus der prozeduralen Korrektheit seiner Erzeugung zieht (und nicht etwa aus der Vernunft oder einer höheren Ordnung), ein Prinzip, das in der Rechtsphilosophie bis heute nachwirkt.
Die Grundnorm als Fundament des Rechtspositivismus
Ein fundamentaler Aspekt in Hans Kelsens Reiner Rechtslehre ist das Konzept der „Grundnorm“, das unweigerlich auf einen unvermeidlichen Regress hinweist. Die legale Konstitution eines Rechtssatzes setzt nämlich voraus, dass es bereits vor dieser Konstitution eine rechtliche Ordnung gibt, aus der der neue Satz abgeleitet wird. Der Geltungsgrund spezifischer Gesetze, wie jene, die vom Bundestag verabschiedet werden, wird durch das Verfassungsrecht bestimmt. Doch stellt sich die Frage: Was ist der Geltungsgrund der Verfassung selbst?
Kelsen bleibt konsequent auf der Ebene des positiv geltenden Rechts und deutet auf eine historisch erste Verfassung hin, die durch einen „Usurpator“ oder ein Kollegium erlassen wurde. Diese historisch erste Verfassung und der daraus abgeleitete „Wille“ bilden den Ausgangspunkt für die Normativität aller weiteren Normen. Diese Grundnorm ist nach Kelsen eine „transzendentale“ Voraussetzung, die nicht historisch verifiziert, sondern als Abschlussfiktion für das theoretische Verständnis des Rechtssystems genutzt wird. Sie definiert, dass Zwang unter den Bedingungen und auf die Weise ausgeübt werden soll, die der erste Verfassungsgeber oder die von ihm delegierten Instanzen bestimmen.
Interessanterweise sieht Kelsen die Grundnorm nicht als dauerhaft unveränderlich an. Revolutionen können auftreten und, wenn sie erfolgreich sind, die Grundnorm neu definieren. Dies verdeutlicht das „Prinzip der Effektivität“, das Kelsen auch als Völkerrechtsprinzip anerkennt: Eine Regierung ist als legitim anzusehen, wenn sie den von ihr erlassenen Normen dauernd Gehorsam zu verschaffen vermag.
Unterhalb der Grundnorm sind in der Normenhierarchie die Verfassung und darunter das einfache Gesetz und die Verordnung angesiedelt. Kelsens Ansatz sieht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Verwaltungsakten und der Rechtsprechung; beide sind Akte der Rechtserzeugung, nicht der Rechtsfindung. Dies stellt eine signifikante Abweichung von traditionellen juristischen Theorien dar, die eine klare Trennung zwischen Verwaltungs- und Rechtspflegefunktionen vorsehen.
Kelsen argumentiert, dass das Recht als System keine Dualismen wie die zwischen öffentlichem und privatem Recht oder zwischen objektivem und subjektivem Recht kennt. Diese Perspektive spiegelt eine Verwaltungssicht wider, die das Individuum als unselbstständigen Teil der Gemeinschaft sieht und das Recht als eine spezifische soziale Technik betrachtet. In dieser Sichtweise wird das Recht durch seine Fähigkeit definiert, effektiv Normenkonformität zu erzeugen, unabhängig von individuellen Freiheiten oder der Personalität der Rechtsunterworfenen.
Abschließende Gedanken: Hans Kelsen, die Reine Rechtslehre und der Rechtspositivismus
Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Rechtstheorie. Durch die klare Abgrenzung von naturrechtlichen und vernunftrechtlichen Ansätzen, vertritt Kelsen eine Auffassung, die das Recht als ein System sieht, das ausschließlich durch menschliche Gesetzgebung konstituiert wird. Seine Theorie betont die Autonomie der Rechtswissenschaft von anderen Disziplinen und die strikte Trennung zwischen Recht und Moral.
Kelsens Ansatz, der Recht als Hypothese in der Form „Wenn A, dann B“ begreift, stellt eine deutliche Entmoralisierung des Rechts dar und zielt darauf ab, die Jurisprudenz als eine normative, jedoch strikt formale Wissenschaft zu etablieren. Dieser methodische Purismus reflektiert sein Streben nach einer „objektiven Wissenschaft“, frei von den ideologischen Kämpfen und politischen Einflüssen seiner Zeit.
Der Rechtspositivismus nach Kelsen ist auch heute noch relevant, denn er fordert Juristen und Theoretiker heraus, die Grundlagen ihres Fachs kontinuierlich zu hinterfragen. Sein Einfluss erstreckt sich auf die Art und Weise, wie rechtliche Normen verstanden und angewendet werden, und betont die Bedeutung der rechtlichen Form über den Inhalt. Dabei bleibt Kelsens Grundnorm, die als hypothetische Basis aller weiteren Normen dient, ein zentraler, wenn auch komplexer Punkt seiner Theorie. Sie wirft Fragen nach der Legitimität und dem Ursprung von Rechtsnormen auf, die Kelsen durch das Prinzip der Effektivität beantwortet.
Insgesamt bietet Kelsens Rechtspositivismus eine tiefgreifende Basis für die Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragen, die unabhängig von metaphysischen oder ethischen Überlegungen bestehen. Seine hat nicht nur die Rechtswissenschaft bereichert, sondern auch die Diskussion über die Funktion und das Wesen von Recht im gesellschaftlichen Kontext intensiviert. Seine Lehren fordern uns auf, die Rolle des Rechts in der modernen Welt neu zu überdenken und weiterhin kritisch zu reflektieren, wie Rechtssysteme gestaltet werden sollten, um sowohl effektiv als auch gerecht zu sein.
Externe Links:
Wikipedia – Rechtspositivismus
Spektrum.de – Metzler Lexikon Philosophie: Rechtspositivismus
YouTube: Ethik-Abi by BOE Hans Kelsen – Reine Rechtslehre

