
Sündenfall: Eva, Eden und die Illusion der Freiheit
Die Geburt der Ordnung aus dem Geist des Ungehorsams – und warum der Sündenfall bis heute unser Denken von Freiheit bestimmt
Der Sündenfall erzählt von einem Anfang – und zugleich von einer Verstrickung. Eva, die erste Frau, greift nach der Frucht vom Baum der Erkenntnis, isst davon und gibt sie an Adam weiter. Mit diesem einen Akt, so heißt es, tritt das Menschengeschlecht aus der Unschuld heraus und wird erkenntnisfähig. Gut und Böse sind fortan unterschieden, Scham und Schuld treten in die Welt. Oft liest man die Geschichte aber auch als einen Mythos der Befreiung. Denn ohne Evas Mut zum Ungehorsam, so die Deutung, wären wir heute nicht fähig zu denken, zu urteilen oder zu philosophieren. In ihrem Biss liege der erste Aufstand gegen eine willkürliche Autorität. Ein archaischer Akt der Selbstermächtigung, der uns zu Wesen gemacht hat, die denken und fragen können. Es ist die Geschichte vom ersten Ungehorsam, die erste Freiheit, der erste Schritt in das Menschsein.
Nach dieser Lesart tritt Eva als Proto-Rebellin auf. Die Erste, die den Mut hatte, sich gegen eine Ordnung zu stellen, die keine Widersprüche duldete. Doch vielleicht ist diese Geschichte gar nicht so revolutionär, wie sie scheint. Vielleicht erzählt der Sündenfall nicht von der Geburt der Freiheit, nicht von einem Bruch mit der Ordnung – sondern davon, wie wir ihr noch tiefer verfallen.
Sündenfall: Eine diskurstheoretische Deutung
Denn wenn man genau hinsieht, steht Eva nicht außerhalb der Ordnung, sondern zwischen zwei diskursiven Polen – zwischen Gott und der Schlange. Zwei Stimmen, die beide Deutungshoheit beanspruchen. Ihre Entscheidung ist kein Akt radikaler Freiheit, sondern ein Effekt dieser Ordnung. Zwar scheint sie zwischen Gehorsam und Ungehorsam zu wählen, doch diese Wahl garantiert keine Freiheit, denn auch die Alternativen sind Produkte eines Systems, das vorgibt, was als Gehorsam und was als Auflehnung gilt.
Eva handelt nicht aus einem neutralen Raum heraus. Ihr Begehren ist bereits geformt, lange bevor sie handelt. Die Schlange spricht und trifft auf etwas, das längst in ihr angelegt ist: der Wunsch nach Erkenntnis, nach Überschreitung. Dieser Wunsch ist aber weder ursprünglich noch frei. Er wird in ihr wachgerufen, gelenkt und verstärkt – durch eine Sprache, die Versprechen macht und einer Erzählung, die Mangel erzeugt.
Was wie eine individuelle Entscheidung erscheint, ist strukturell vorbereitet. Die Erzählung selbst schafft den Rahmen, in dem ein „mutiger Akt“ überhaupt erst denkbar wird. Die Freiheit, die hier vermutet wird, gehört zur Ordnung, gegen die sie sich angeblich richtet.
Selbst die Schlange ist kein anarchisches Prinzip, sondern Teil des Spiels. Sie verweist auf Gott („ihr werdet sein wie Gott“) und bleibt damit innerhalb der Ordnung, die sie zu unterminieren scheint. Eva wird also nicht heraus-verführt. Sie wird hinein-gezogen – tiefer in eine Logik, die sie formt, noch bevor sie einen Gedanken denken kann.
Der Sündenfall als performativer Akt
Der Sündenfall ist kein Bericht über die Welt. Er beschreibt nicht einfach eine bereits bestehende Ordnung, in der Gehorsam und Ungehorsam feststehen. Vielmehr ist er selbst der Akt, der diese Ordnung erst hervorbringt. Die Erzählung schafft die Welt, von der sie spricht – mit all ihren Begriffen von Schuld, Gehorsam, Freiheit und Scham.
Der Mythos zeigt uns also nicht die Wirklichkeit, er produziert sie. Er markiert, was als „Ordnung“ gilt und was als „Widerstand“ erscheinen darf. Nur weil der Sündenfall erzählt wird, können wir von einem Verbot sprechen, von Ungehorsam, von Strafe. Diese Kategorien sind keine ewigen Wahrheiten, sondern entstehen erst im Akt der Erzählung selbst.
So betrachtet ist der Sündenfall kein Bruch mit der Ordnung. Er ist ein performativer Akt, der die Ordnung und ihre Gegensätze – Gehorsam und Ungehorsam, Freiheit und Schuld – überhaupt erst ins Leben ruft. Der Mythos ist damit schon Teil des Diskurses und gerade nicht seine Durchbrechung.
Die raffinierte Illusion
Absolute Freiheit gibt es nicht. Auch eine Freiheit innerhalb eines Rahmens ist eine Illusion. Sie ist kein Spielraum eines souveränen Subjekts, sondern das Resultat von Bedingungen, die wir nie selbst gewählt haben: Wir entscheiden weder, wo und wann wir geboren werden, noch welche Sprache wir sprechen, welcher Kultur wir angehören, welchen Körper wir haben, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, welches soziale Kapital uns zugeschrieben wird.
Auch unsere Wünsche, Entscheidungen und Hoffnungen entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind durchzogen von systemischen und strukturellen Zwängen. Was wir begehren, wovon wir träumen, worauf wir hinarbeiten, ist bereits in Erzählungen eingebettet, die wir nicht selbst geschaffen haben.
Jeder kennt den Traum vom „besseren Leben“. Etwa der Wunsch nach Erfolg, Selbstverwirklichung, einem schönen Zuhause, Anerkennung, Liebe. Diese Sehnsüchte sind aber nicht einfach natürlich entstanden. Sie sind produziert von Erzählungen, die uns seit unserer Kindheit begleiten – Geschichten von Aufstieg und Fall, von Leistung und Belohnung, von Konsum und Glück. Selbst unsere Rebellionen, vielleicht die Sehnsucht nach Ausstieg, Unangepasstheit oder Authentizität sind oft nichts anderes als Varianten desselben Skripts. Wir wollen anders sein – aber anders innerhalb eines Systems, das auch das „Anderssein“ schon vermarktet und vereinnahmt hat.
Die Freiheit, von der wir sprechen, ist nichts als eine raffinierte Illusion. Sie ist das Versprechen einer Ordnung, die uns glauben lässt, wir könnten ihr entkommen – und sich genau dadurch stabilisiert. Selbst der Widerstand ist Teil des Spiels. Es ist die Sprache, die Begriffe wie „Freiheit“ mit Geschichten verknüpft, die unsere Wirklichkeit geformt haben. Die Welt, wie wir sie kennen, ist Sprache. Was sie darüber hinaus ist, können wir nicht sagen.
Freiheit: Die gefährlichste Illusion
Und doch erzählen wir uns immer wieder dieselbe Geschichte: die Geschichte vom freien Willen, vom „Selbst“. Wir glauben, jeder sei seines Glückes Schmied. Wer nur genug will und hart genug arbeitet, wird Erfolg haben.
Das klingt immer gut, zumindest für diejenigen, bei denen es funktioniert hat. Ihr unbändiger Drang, etwas aus sich zu machen, hat sich ausgezahlt. Es sind Geschichten, die man gerne erzählt und gerne hört. Heldengeschichten, die den Karren am Laufen halten.
Die Erzählung vom freien Willen wirkt harmlos, ist aber grausam. Denn nicht jeder kann wählen. Nicht jeder kann überhaupt wollen. Es gibt Menschen, die in Bedingungen gefangen sind, die ihnen nicht einmal die Illusion einer Wahl lassen. Krankheit, Armut, Ausgrenzung – all das kann den Raum, in dem Entscheidungen möglich scheinen, so weit einengen, dass vom „freien Willen“ nichts übrigbleibt. Viele erleben sich als dauerhaft defizitäres Projekt, das ständig optimiert werden muss, weil nur so etwas erreicht werden kann.
So verschiebt sich die Verantwortung – weg von den Strukturen, hin zum Einzelnen. Als läge das Scheitern allein an der Haltung. Genau dieser Gedanke aber hält die Ordnung am Leben. Vielleicht ist das die gefährlichste Illusion von allen.
Externe Links:
Stanford Encyclopedia of Philosophy: Michel Foucault
Interne Links:
„Du musst nur wollen“ – Der Mythos vom Willen in Zeiten der Erschöpfung
Ich will frei sein – sagt das Ich.
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