
Mythen der Moderne: Mit Superhelden gegen den Nihilismus
In einer Zeit, in der die großen Erzählungen verblassen und die Suche nach Sinn immer mehr zu einer persönlichen Herausforderung wird, erheben sich Figuren, die sowohl Inspiration als auch Hoffnung bieten. Sie kommen nicht aus philosophischen Texten oder spirituellen Lehren, sondern aus einer Welt, die von Fantasie und realen Problemen geprägt ist: die Welt der Superhelden. Diese ikonischen Gestalten sind bekannt für ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten, ihr unerschütterliches Engagement für Gerechtigkeit und sie dienen nicht nur der Unterhaltung. Zu einer Zeit, die von Unsicherheit und einem zunehmenden Gefühl der Ziellosigkeit erfasst wird – ein Zustand, den Nietzsche mit seinem berühmten Ausspruch vom „Tod Gottes“ vorwegnahm – bieten Superhelden etwas, wonach sich viele sehnen: Orientierung, moralische Klarheit und ein Gefühl von Bedeutung.
Die heutige Welt konfrontiert uns mit einer Vielzahl an Herausforderungen: ethische Dilemmata, die durch den technologischen Fortschritt verschärft werden, die Erosion traditioneller moralischer Autoritäten und eine wachsende kulturelle Vielfalt, die unterschiedlichste Lebensweisen und Perspektiven mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund treten Superhelden als moderne Mythen auf, die nicht nur einfache Gegensätze von Gut gegen Böse darstellen, sondern auch komplexere Fragen der Ethik und Identität verhandeln. Sie sind mehr als nur bunte Charaktere in außergewöhnlichen Kostümen; sie sind Leuchtfeuer der Hoffnung und Symbole für die beständige Suche nach dem Guten, selbst in den dunkelsten Zeiten.
Eine komplizierte gottlose Welt und die Suche nach Einfachheit, Sinn und neuen Idealen
Ja, die Welt ist kompliziert, viel zu kompliziert, und es geht nichts über einfache Weltbilder. Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum Superhelden beliebter sind denn je. Schon als einfache Comics, erfunden in den unruhigen Zeiten der 1930er-Jahre, waren sie erfolgreich. Das Schema von Gut gegen Böse, Gerechtigkeit gegen Ungerechtigkeit, bildete lange Zeit die erzählerische Grundlage vieler Geschichten. Doch mit der Zeit haben sich Superheldennarrative weiterentwickelt: Moderne Interpretationen – etwa The Dark Knight, Watchmen oder The Boys – hinterfragen diese klare Dichotomie zunehmend, indem sie moralische Ambivalenz, Machtmissbrauch und die Schattenseiten des Heldentums thematisieren. Trotzdem bleibt die Sehnsucht nach klaren moralischen Orientierungspunkten bestehen, weshalb diese Figuren nach wie vor starke Anziehungskraft ausüben.

Die moderne Sehnsucht nach Superhelden kommt uns jedenfalls bekannt vor, denn sie findet sich bereits in den Mythen der Antike. Betrachtet man die lange Geschichte der Heldenerzählungen, stellt man fest, dass die Faszination für übermenschliche Charaktere weit in die Vergangenheit reicht. Die griechischen Mythen mit ihren heldenhaften Figuren wie Herakles oder Perseus zeigen interessante Ähnlichkeiten zu unseren heutigen Superhelden. Es liegt also nahe, dass der Wunsch nach heroischen Vorbildern eine menschliche Konstante ist.
Natürlich gibt es Unterschiede. Während antike Mythen tief in religiöse Vorstellungen und gesellschaftlichen Ritualen verwurzelt waren, sind Superhelden zunächst ein Produkt der modernen Unterhaltungsindustrie. Sie sind unterliegen wie jedes Produkt den Gesetzen und Anforderungen des Marktes und werden innerhalb kapitalistischer Produktionsbedingungen geformt. Das bedeutet aber nicht, dass sie nur oberflächlich sind. Sie prägen Weltbilder, transportieren moralische Werte, sie sind hoffnungsvoll und ermunternd und bedienen ideologische Narrative. Captian America und Iron Man spiegeln westliche Ideale von Individualismus, Patriotismus und technologischer Überlegenheit wider. Sie sind nicht einfach nur zeitgenössische Helden, sondern Ausdruck spezifischer kultureller und politisdcher Kontexte.
Die Überlegungen des französischen Soziologen Emilé Durkheim zu Religion und Mythologie bieten interessante Einblicke für unser Verständnis von Superhelden. Durkheim betont, dass Mythen die Realität nicht nur darstellen, sondern auch idealisieren und umgestalten (Durkheim 2007, S. 617) – ein Muster, das sich auch in den „Universen“ von „Marvel“ und „DC“ zeigt. Diese Superhelden, ähnlich den Figuren antiker Mythen, sind idealisierte Menschheitsversionen, ausgestattet mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und einem ausgeprägten moralischen Bewusstsein. Sie repräsentieren somit mehr als nur übermenschliche Retter; sie sind Symbole für neue Ideale in einer Welt, die, wie Nietzsche es ausdrückte, ihren moralischen Kompass verloren hat.
Trotz der Unterschiede bestehen Gemeinsamkeiten. Denn Superhelden erfüllen eine mythologische Rolle, indem sie Orientierung bieten, moralische Fragen verhandeln und das Ideal des heroischen Individuums verkörpern. Ihre Geschichten ähneln daher den antiken Mythen – auch wenn sie unter anderen Bedingungen entstehen und andere Zielsetzungen verfolgen
Durkheims Beobachtung, dass die alten Götter gestorben, neue aber noch nicht geboren sind (Durkheim 2007, S. 626), spiegelt Nietzsches „Tod Gottes“ wider und die daraus resultierende Suche nach neuen moralischen und spirituellen Orientierungen. Superhelden wie Batman, Captain America, Spiderman und Co., könnten in diesem Sinne als moderne Mythen betrachtet werden, die in einer Zeit des moralischen Wandels neue Wege der Sinnfindung und moralischen Orientierung aufzeigen.
Die Ergebnisse der Studie „The Mythos of the Modern Superheroes“ von der „International Society for the Science of Existential Psychology“ spiegelt diese Ansicht wider. Die Forscher argumentieren, dass das wachsende Interesse an Superhelden möglicherweise mit einem Rückgang der Religiosität und einer Zunahme von existenziellen Ängsten zusammenhängt. Menschen, die religiös aufgewachsen sind, aber ihre Glaubensüberzeugungen hinterfragen, zeigen ein gesteigertes Interesse an der Superheldenkultur, insbesondere nach Konfrontation mit dem eigenen Tod. Die Studie legt nahe, dass Superhelden für einige Menschen eine Art Ersatzreligion bieten könnten, die ein Gefühl existenzieller Sicherheit und Orientierung in einer immer weniger religiösen Welt erzeugt.
Superhelden – Moralische Vorbilder?
Vielleicht kennen Sie Spidermans Motto, das auch als Peter-Parker-Prinzip bekannt ist: „Mit großer Macht kommt große Verantwortung“. Auch wenn der Ursprung dieses Prinzips bis in die Französische Revolution zurückreicht, wurde es ohne Zweifel, vor allem von Spiderman-Erfinder Stan Lee populär gemacht. Und ja, es soll die Bedeutung von Integrität und Selbstlosigkeit unterstreichen.
Captain America, der ursprünglich, ganz amerikanisch, ein Symbol patriotischer Ideale während des Zweiten Weltkriegs darstellt, verkörpert oft unerschütterliche moralische Werte und Integrität. Seine Figur steht für das Ideal des selbstlosen Helden, der sich für Gerechtigkeit und das Wohl der Gemeinschaft einsetzt. Seine Konflikte, besonders in Filmen wie „The Winter Soldier“, wo er sich gegen korrupte Elemente innerhalb des Systems stellt, dem er bisher vertraute, machen ihn zu einem Charakter, der die Spannung zwischen idealisierten Werten und der realen Welt widerspiegelt.
In Gotham City, eine Stadt, so düster, dass man sich fragt, ob die Sonne dort überhaupt aufgeht, verkörpert Batman als Bruce Wayne einen komplexen Charakter. Batman ist der vielleicht umstrittenste Superheld, was mitunter auch an seiner schwierigen Kindheit liegen dürfte. Als Kind musste er die Ermordung seiner Eltern mit ansehen und befindet sich seither auf Rachefeldzug in einer düsteren und korrupten Welt. Trotz seiner menschlichen Schwächen und ohne übernatürliche Kräfte nutzt Batman seine Intelligenz, seinen Reichtum und seine Fähigkeiten, um Gerechtigkeit zu suchen. Seine oft umstrittenen Methoden, die sich außerhalb des Gesetzes bewegen, machen ihn zu einer Figur, die zwischen Rächer und Held balanciert und die moralische Frage aufwirft, wie weit man gehen darf, um das Richtige zu tun.
Nun, interessant ist in diesem Zusammenhang die Studie „Superheroes and Ethical Philosophy“. Die Untersuchung der ethischen Dimensionen von Superheldencharakteren in dieser Studie offenbart, dass Superhelden durchaus komplexe moralische Fragen aufwerfen. So veranschaulichen Batman, Captain America, Spiderman und Co. nicht nur verschiedene moralische Werte, sondern zeigen auch die Schwierigkeiten, diese in einer mehrdeutigen Welt umzusetzen. Diese Superhelden stellen traditionelle Konzepte von Richtig und Falsch in Frage und regen uns dazu an, unsere eigenen moralischen Überzeugungen zu hinterfragen ( Gavaler 2023).
Vielleicht erinnern Sie sich. In „Captain America: The Winter Soldier“ sieht sich etwa Captain America einem schwerwiegenden ethischen Dilemma gegenüber: Ein von Terroristen entführtes Flugzeug droht, in ein volles Stadion zu stürzen. Soll er das Flugzeug abschießen und die Passagiere opfern, um Tausende im Stadion zu retten, oder soll er nichts unternehmen und hoffen, dass sich eine andere Lösung ergibt, auch wenn das bedeutet, das Risiko eines größeren Unglücks in Kauf zu nehmen? Dieses Szenario veranschaulicht die Komplexität realer moralischer Dilemmata, bei denen die Unterscheidung zwischen richtig und falsch keineswegs eindeutig ist. Aus der Perspektive von Kants Pflichtenethik wäre das Opfern der Passagiere moralisch falsch, da es ihre Würde verletzt. Der Utilitarismus hingegen könnte das Abschießen des Flugzeugs rechtfertigen, um das größere Übel zu verhindern. Diese ethische Spannung illustriert, wie Superheldenfilme uns dazu anregen, über komplexe moralische Entscheidungen und unsere eigenen ethischen Grundsätze nachzudenken.
In einer Welt, die nach Klarheit und ethischer Orientierung sucht, bieten Superheldengeschichten einen Raum, in dem die moralische Mehrdeutigkeit unserer Gesellschaft reflektiert wird. So wird deutlich, dass die idealisierten Darstellungen in Superheldenfilmen und -comics mehr als nur Unterhaltung sind; sie sind vielmehr eine Auseinandersetzung mit den ethischen und existentiellen Herausforderungen unserer Zeit.
Ein solches Beispiel aktueller und zeitgenössischer Themen liefert die Marvel-Serie „Invasion“. Hier wird eine galaktische Flüchtlingskrise immensen Ausmaßes inszeniert, die auf eindrückliche Weise die Herausforderungen und Konflikte unserer heutigen Welt spiegelt. Die „Skrulls“, ein außerirdisches Volk von Reptilhumanoiden und einst mächtige Wesen und Gestaltwandler, wurden von noch mächtigeren Wesen, den Kree, von ihrem Heimatplaneten vertrieben und sind von nun an verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Heimat. Sie versuchen sich zunächst mit Hilfe von Agent Nick Fury auf der Erde niederzulassen, was zu Spannungen und Misstrauen zwischen ihnen und den Menschen führt. Ihre Fähigkeit, ihr Aussehen zu ändern, führt zu Angst und Paranoia, da sich niemand sicher sein kann, wer tatsächlich ein Skrull ist. Dieser Konflikt eskaliert, als einige Menschen beginnen, die Skrulls als Bedrohung zu sehen und gegen ihre Anwesenheit Widerstand leisten, während andere für ihre Rechte und Integration eintreten. Diese Situation spiegelt die realen Ängste und Vorurteile wider, die oft mit Flüchtlingen und Migranten in unserer Gesellschaft verbunden sind.
Indem die Serie nun aber das Schicksal der Skrulls in den Mittelpunkt stellt, fordert sie uns auf, unsere Perspektive zu erweitern und die universellen Themen von Verlust, Hoffnung und der Suche nach Zuflucht aus einem anderen, vielleicht einem neuen Blickwinkel zu betrachten. „Invasion“ ist mehr als eine bloße Science-Fiction-Heldengeschichte; sie ist ein Spiegel, der die drängenden gesellschaftlichen und moralischen Fragen unserer Zeit reflektiert und uns dazu anregt, über die Bedeutung von Empathie, Menschlichkeit, Identität und Zugehörigkeit nachzudenken.
Abschließende Gedanken
Abschließend lässt sich sagen, dass Superhelden mehr sind, als nur fiktive Figuren in der Welt der Unterhaltung. Als Kulturphänomene verkörpern sie den menschlichen Wunsch nach Klarheit und moralischer Orientierung in einer zunehmend ungewissen Welt. Während sie mit klaren archetypischen Figuren arbeiten, greifen sie zugleich moralische Mehrdeutigkeiten und gesellschaftliche Widersprüche auf.
Sie spiegeln die Sehnsucht nach Sinn wider, die in einer Welt ohne metaphysische Verankerung entsteht. Seit Nietzsche den „Tod Gottes“ ausrief, leben wir in einer Wirklichkeit, in der es keine objektiven Werte mehr gibt – nur Konstruktionen, die uns für eine Weile Stabilität bieten. Superhelden gehören zu diesen Konstruktionen. Sie sind moderne Mythen, aber sie haben nicht dieselbe existenzielle Tiefe wie die alten Mythen, der Glaube. Sie bieten Geschichten, die zwar für den Moment Bedeutung stiften, aber dahinter wartet die dunkle Leere eines nihilistischen Universums.
Auch wenn sie ihnen ähneln, im Vergleich zu den alten griechischen Mythen, die menschliche Wahrheiten in zeitlosen und universellen Erzählungen einfingen, stehen Superhelden trotz ihrer Faszination und ihres symbolischen Wertes hinter dem Erbe ihrer Urahnen zurück. Sie erreichen trotz voller Kinosäle nicht die epische Größe und Bedeutsamkeit dieser antiken Legenden, die fest in der Alltagskultur und im geistigen Leben der Menschen verwurzelt waren – Göttergestalten wie Zeus, Herakles oder Perseus waren nicht nur Teil der Mythologie, sondern auch des täglichen Lebens und der moralischen Orientierung.

Superhelden, aber auch Konsum, Unterhaltungsindustrie, Selbstoptimierung, Fortschrittsglaube und politische Heilsversprechen sind nicht die Antwort auf den Nihilismus – sie sind sein Symptom. Sie zeigen unsere Sehnsucht nach Orientierung, nach Heldenfiguren und stabilen Werten in einer gottlosen Welt. Doch wie Nietzsche sagen würde: Sie sind falsche Götzen. Sie bieten temporären Trost, Ablenkung oder gar eine Illusion von Sinn, aber sie können nicht die metaphysische Leere füllen, die durch den Tod Gottes entstanden ist. In dieser Hinsicht sind sie keine Überwindung des Nihilismus, sondern eine moderne Maskierung der Bedeutungslosigkeit.
Literaturverzeichnis:
Durkheim, É. (2007). Die elementaren Formen des religiösen Lebens.
Gavaler, C. (2023). Superheroes and Ethical Philosophy. In: Encyclopedia of Heroism Studies. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-031-17125-3_138-1
Quoteinvestigator – Mit großer Macht, kommt große Verantwortung, URL: https://quoteinvestigator.com/2015/07/23/great-power/?utm_source=chatgpt.com, Abgerufen am: 23.01. 2024
Scott, A., & Schimel, J. (Jahr der Veröffentlichung). The mythos of modern superheroes. International Society for the Science of Existential Psychology. URL: https://www.issep.org/article/modern-superheroes
Interne Links:
Nihilismus: Die Entmystifizierung der Welt

