
Warten – Neues aus Dystopia
Warten
Er stand an der Haltestelle. Der Pfosten war schief, das Schild darauf verwittert. In ausgeblichenen Buchstaben stand dort: „Es wird kommen.“Keine Uhr. Kein Fahrplan. Nur ein langer Bordstein, der ins Ungewisse führte.
Der Asphalt davor schien unberührt – keine Reifenspuren, kein Staub. Als wäre hier nie etwas gefahren.
Neben ihm stand ein älterer Mann, regungslos. Seine Hände tief in den Taschen, der Blick auf den Horizont gerichtet.
Der Jüngere fragte leise: „Wie lange warten Sie schon?“
Der Alte zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Ich war schon hier, als ich ankam.“
Dann schwiegen sie wieder.
Ein paar Schritte weiter stand eine Frau. Sie trug einen Koffer, der aussah, als sei er nie geöffnet worden.
„Wissen Sie, wohin es geht?“, fragte er sie.
Sie lächelte, fast entschuldigend. „Nicht genau. Aber man sagt, es lohnt sich.“
„Wer sagt das?“
„Die, die gegangen sind.“
„Aber … sind sie je zurückgekehrt?“
Die Frau senkte den Blick.
„Das Zurückkehren ist nicht der Sinn des Gehens.“
Immer wieder kamen neue Menschen. Sie kamen still, blieben stehen, schauten nach vorne.
Keiner sprach über das, worauf sie warteten. Nur ab und zu ein Flüstern, ein gemurmelter Satz:
„Es wird kommen.“
Trotz ihres Wartens war es kein Ort der Ungeduld.
Ein junger Mann blätterte in einem Fahrplanheft, in dem nur leere Linien standen.
Eine Frau hatte eine Thermoskanne dabei und bot Tee an, aber niemand nahm welchen.
Einmal hörte man aus der Ferne ein Geräusch. Ein Summen. Ein Rumpeln vielleicht.
Alle hoben die Köpfe.
Der Klang verging.
Dann senkten sie sie wieder.
Der Wartende fröstelte. Seine Füße taten weh.
Er blickte zurück zur Straße, wo keine Markierung war – nur der Gedanke an ein Gehen.
Er hob den Fuß.
Ein Mann neben ihm sagte leise: „Was, wenn es heute kommt? Manchmal ist das Warten selbst die Ankunft, die wir suchen.“
Der Wartende ließ den Fuß wieder sinken.
Er dachte: Vielleicht ist der Moment des Gehens der Moment des Kommens. Vielleicht ist das ja genau die Regel.
Er setzte sich auf die Bank, die leicht wackelte.
Neben ihm lag ein Zettel. Darauf stand ein einziger Satz:
„Nur wer bleibt, kommt an.“
Er faltete den Zettel sorgfältig und steckte ihn in die Jackentasche.
Dann wartete er weiter.
Nicht, weil er überzeugt war.
Sondern weil Überzeugung irgendwann nicht mehr nötig ist, wenn genug Menschen neben dir stehen.
Die Nacht kam ohne sich anzukündigen.
Es war keine völlige Dunkelheit, aber es war auch nicht ganz hell. Ein mattes Grau legte sich auf die Gesichter. Die Haltestelle war nur noch ein Schatten.
Und doch blieben sie alle.
Jemand hatte begonnen, Kerzen aufzustellen. Niemand wusste, woher sie kamen. Sie brannten langsam, mit einer fast zu ruhigen Flamme.
Ein Kind – das erste, das er sah – zeichnete Kreise in den Staub.
Es sagte nichts. Die Kreise blieben.
„Glauben Sie wirklich, dass es noch kommt?“, fragte der Wartende den alten Mann neben sich.
Der Alte nickte, sehr langsam.
„Oder glauben Sie es nur, weil Sie es glauben müssen?“
Der Alte atmete einmal tief durch. „Weil es anders nicht geht.“
„Das ist nicht dasselbe.“
„Aber es fühlt sich gleich an.“
Ein leises Geräusch – wieder.
Der Himmel vibrierte, als hätte etwas beschlossen, sich doch zu bewegen.
Alle richteten sich auf.
Eine Frau hielt den Atem an.
Nichts kam.
Einige lächelten.
„Das war ein Zeichen“, sagte jemand.
„Es nähert sich“, sagte ein anderer.
Der Wartende fühlte einen Stich, dort, wo früher Ungeduld war.
Oder Erinnerung.
Oder Hunger.
Er erinnerte sich nicht mehr an den Moment, in dem er entschieden hatte zu bleiben.
War es überhaupt eine Entscheidung?
Oder hatte die Zeit ihm jede andere Möglichkeit genommen?
Ein Mann ging ein paar Schritte die Straße hinunter.
Alle hielten inne. Sahen ihn an.
Er stand still, wie auf einem unsichtbaren Band, das ihn zurückzog. Dann drehte er sich um und kam wieder.
„Nicht heute“, sagte er nur.
Der Wartende schaute auf seine Hände. Sie waren ruhig, aber fremd.
Er fragte sich, ob es sich wirklich lohnen würde.
Wenn „es“ käme – wie wäre es dann?
Würde es alle mitnehmen? Oder nur einige?
Würde es sprechen? Oder sich lautlos öffnen – wie eine Tür?
Und wenn niemand bereit wäre zu gehen?
„Ich hätte gehen sollen, als ich noch wusste, wohin“, flüsterte eine Frau.
Der Wartende sah sie an, aber sie war schon wieder Teil der Menge.
In der Ferne begann der Horizont zu flackern.
Kein Licht. Keine klare Bewegung. Nur ein seltsames Zittern.
Vielleicht der Wind. Vielleicht mehr.
Dann, ganz leise, die Stimme eines Kindes:
„Ich glaube, es war schon da.“
Ein Raunen und Murmeln ging durch die Menge.
Ein Atem, der sich teilte, vermischte, wieder still wurde.
Der Wartende fühlte einen kurzen Schwindel.
Vielleicht war er nicht mehr sicher, ob er wartete – oder einfach nur stand.
Er sah zum Schild.
Dort stand noch immer: „Es wird kommen.“
Aber darunter, ganz klein, war etwas hinzugefügt worden.
Jemand hatte mit zitternder Hand geschrieben:
„Oder war bereits hier.“
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