Aristoteles Praxis und Poiesis
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Ethik und Moralphilosophie,  Philosophie

Praxis und Poiesis: Aristoteles

Lesedauer 6 Minuten

Aristoteles: Praxis vs. Poiesis und was das alles mit persönlichem Glück zu tun hat

Innovation, Effizienz, Produktivität und ein ständiger technologischer Wandel sind zweifelsohne dominante Kräfte unserer Zeit – und sie haben weitreichenden Einfluss auf unser Handeln. Denn es liegt nahe, dass das vorherrschende Effizienz- und Produktivitätsdenken aber auch der hohe Beschleunigungsgrad unserer modernen Welt dazu tendiert, Aspekte des Lebens, die sich nicht direkt in Zahlen ausdrücken oder materiellen Erfolg versprechen, zu marginalisieren oder abzuwerten. Wer seine Zeit mit „unproduktivem“ verbringt, hat leicht ein schlechtes Gewissen und steht schnell im Verdacht seine Zeit nicht „sinnvoll“ zu nutzen. In diesem Zusammenhang interessant, finde ich Aristoteles Unterscheidung von Poiesis und Praxis, die er in der „Nikomachischen Ethik“ formuliert.  

Poiesis oder das Handeln als Mittel zum Zweck

Aristoteles definiert Poiesis als eine Form des Handelns, die auf das Erreichen eines äußeren Ziels hin ausgerichtet ist. Handlungen also, die als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks dienen. Vereinfacht gesagt sind es „Handlungen, um zu …“. Denken Sie an Ihre berufliche Tätigkeit, wenn sie lediglich als Mittel zum Broterwerb betrachtet wird, etwa um Ihren Lebensunterhalt zu sichern. Auch fremdbestimmte Aufgaben oder auch der tägliche Haushalt, wie Aufräumen und Saubermachen, um eine ordentliche Umgebung zu schaffen sind Poiesis — es sei denn Sie erachten den Prozess des Aufräumens selbst als bereichernd und erfüllend.

Poiesis umfasst ebenso kreative oder künstlerische Tätigkeiten, die auf die Produktion eines Werks abzielen. Das Schreiben eines Buches, das Malen eines Bildes oder das Komponieren eines Musikstücks sind Beispiele für Poiesis, wenn sie mit der Absicht verbunden sind, ein konkretes Produkt zu erschaffen. Dies zeigt, dass Poiesis nicht nur im Bereich der materiellen Produktion oder Erwerbsarbeit zu finden ist, sondern auch kreative und gestalterische Prozesse einschließt.

All dies verdeutlicht, wie präsent Poiesis in unserem täglichen Leben ist. Viele unserer Handlungen sind auf spezifische Ziele hin ausgerichtet, wobei der Wert der Handlung im Erreichen dieses Ziels liegt.

Praxis oder das Handeln als Selbstzweck

Im Gegensatz zu Poiesis bezeichnet Praxis ein Handeln, das seinen Zweck in sich selbst trägt—also selbstzweckhaft ist und nicht primär auf äußere Ziele ausgerichtet. Aristoteles sieht in der Praxis eine Tätigkeit, die auf die Realisierung von Werten, ethischem Handeln und der Verwirklichung des Selbst abzielt. Praxis umfasst Aktivitäten wie die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen, die Teilnahme am sozialen Leben (wenn dies Selbstzweck ist) und das Streben nach einem guten, erfüllten Leben, das über materiellen Gewinn und äußere Erfolge hinausgeht.

Nehmen wir die Gartenarbeit: Wenn jemand aus reiner Freude gärtnert, ohne den Zweck der Nahrungsmittelproduktion oder um andere zu beeindrucken, ist dies ein Akt der Praxis—der Gärtner findet Erfüllung in der Tätigkeit selbst. Oder das Spielen eines Musikinstruments oder das Lesen eines Buches aus purer Freude an Musik oder Literatur, ohne die Absicht, eine Karriere zu verfolgen oder spezifisches Wissen zu erwerben. Diese Aktivitäten werden nicht vom Wunsch angetrieben, ein äußeres Ziel zu erreichen, sondern vom Bedürfnis, den Moment zu genießen, persönliches Wachstum zu erleben oder sich mit den tieferen Aspekten des Lebens auseinanderzusetzen.

Soziale Beziehungen sind ein Kernbereich der Praxis. Durch die Verbindung mit Familie, Freunden oder sozialen Gruppen erfahren wir Halt, Freude und Zufriedenheit. Diese Bindungen streben selten nach externen Zielen. Sie ermöglichen vielmehr die Entfaltung unseres Selbst innerhalb einer Gemeinschaft. Wir suchen nicht nach äußerer Anerkennung, sondern schätzen Nähe und Unterstützung, die wesentlich zu unserem Gefühl von Glück und Zugehörigkeit beitragen.

Diese Beispiele zeigen, wie Praxis auf die Verwirklichung des Selbst und die Realisierung von Werten abzielt, die über materielle Gewinne oder soziale Anerkennung hinausgehen. Durch Praxis suchen Menschen nach tieferem Sinn und Erfüllung in ihren Aktivitäten, die das Leben bereichern und ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit, Freude und Eudaimonia vermitteln.

Die Durchlässigkeit zwischen Praxis und Poiesis und die Bedeutung der Prohairesis

In der Diskussion um Praxis und Poiesis ist es jedoch wichtig zu erkennen, dass diese Kategorisierungen nicht immer strikt getrennt betrachtet werden können. Vielmehr existieren fließende Übergänge und mögliche Überlappungen, die die Komplexität menschlicher Tätigkeiten und Motivationen widerspiegeln. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist das kreative Schaffen. Die Kunst, gleich ob in Form von Malerei, Literatur oder Musik, wird häufig als Poiesis verstanden, da sie auf die Schaffung eines Werks abzielt. Doch für viele Kreative ist der Akt des Schaffens selbst ein Selbstzweck, der eine tiefe persönliche Erfüllung und Freude bringt und somit auch Merkmale der Praxis aufweist.

Dies führt zu einer differenzierteren Betrachtung des kreativen Prozesses: Während ein Maler möglicherweise mit dem Ziel beginnt, ein Bild zu verkaufen (Poiesis), kann der Vorgang des Schaffens selbst zu einem selbstzweckhaften Erlebnis werden, das primär der persönlichen Sinnfindung und dem Ausdruck innerer Zustände dient (Praxis). Diese Dualität zeigt, dass die Grenzen zwischen Poiesis und Praxis durchlässig sind und von den individuellen Motivationen und der subjektiven Erfahrung des Handelnden abhängen.

On nun etwas Praxis oder Poiesis ist, ist letzter Konsequenz eine individuelle Entscheidung. Sie hängt von der Prohairesis, der Zielwahl ab. Prohairesis, was im Griechischen so viel wie Vorzugswahl“ oder bewusste Entscheidung“ bedeutet, bezeichnet bei Aristoteles die Art von Wahl, die nach abwägender Überlegung getroffen wird. Sie ist nicht nur eine rationale Entscheidung, sondern entsteht aus der Verschmelzung von Überlegung und inneren Antrieben. Prohairesis ist die treibende Kraft hinter unseren Handlungen und fungiert als Ursache dafür, dass eine Handlung uns tatsächlich zugeschrieben werden kann. Nur wenn wir mit Prohairesis entscheiden, handeln wir im eigentlichen Sinne — bewusst und aus eigener Überlegung heraus.

Diese Überlegungen erweitern die Sichtweise auf Aristoteles‘ Unterscheidungen und fordern uns heraus, die Vielschichtigkeit und die persönlichen Dimensionen unseres Handelns zu erkennen. Sie regen dazu an, in unseren eigenen Lebensvollzügen stets zu reflektieren, inwiefern unsere Tätigkeiten Merkmale von Poiesis und Praxis vereinen und wie diese zu unserer Lebenszufriedenheit beitragen können.

Überbetonung der Poiesis vor der Praxis

In unserer heutigen Zeit zeigt sich eine starke Tendenz hin zur Poiesis, angetrieben durch wirtschaftliche Anforderungen, die Produktivität und Effizienz betonen, technologischen Fortschritt, der die Möglichkeiten und den Druck zu ständiger Produktivität erhöht, soziale Medien und eine Kultur des Vergleichs, die sichtbare Leistungen und Errungenschaften in den Vordergrund rücken.

Hinzu kommen Bildungssystem und Berufswelt, die das Erreichen extern vorgegebener Ziele wie Abschlüsse und Karrierefortschritte fördern, sowie gesellschaftliche Werte und Erwartungen, die Erfolg eng mit materiellem Wohlstand und sichtbaren Leistungen verknüpfen. Diese Faktoren schaffen ein Umfeld, in dem poietisches Handeln oft als notwendig, wünschenswert oder unvermeidlich betrachtet wird, während praxisorientierte Tätigkeiten, die auf Selbstverwirklichung und innerem Wachstum abzielen, weniger sichtbar werden.

Praxis und ihre Bedeutung für die Eudaimonie (Glückseligkeit)

Aristoteles‘ Konzept der Eudaimonia, oft mit „Glückseligkeit“ übersetzt, steht im Zentrum seiner ethischen Überlegungen. Gemeint ist nicht etwa das Augenblicksglück, als vielmehr ein Zustand dauerhafter Lebenszufriedenheit. Eudaimonia ist für Aristoteles das höchste Gut, das Endziel menschlichen Handelns und Lebens. Es wird nicht durch Zufall oder äußere Umstände erreicht, sondern durch ein Leben in Übereinstimmung mit der Vernunft und der Ausübung von Tugend, was eng mit der Praxis in Verbindung steht. Praxis, verstanden als tugendhaftes und zielgerichtetes Handeln um seiner selbst willen, ist Aristoteles zufolge entscheidend für das Erreichen von Eudaimonia, da sie es dem Einzelnen ermöglicht, sein höchstes Potenzial als rational und sozial lebendes Wesen zu entfalten.

In einer Gesellschaft, die stark von Poiesis und der Erreichung äußerer Ziele dominiert wird, kann die Bedeutung von Praxis und ihre Rolle bei der Erreichung von Eudaimonia leicht übersehen werden. Aristoteles will uns lehren, dass wahre Glückseligkeit und Erfüllung nicht in der Anhäufung von materiellen und äußeren (Glücks-) Gütern (auch wenn Aristoteles die Notwendigkeit materieller Sicherheiten als wichtige Voraussetzung anerkennt) oder der Erreichung von Statussymbolen liegt, sondern in der Entwicklung des Charakters, in der Pflege ethischer Tugenden und in der Teilnahme am Gemeinschaftsleben.

Gerade durch Praxis gewinnt das Leben an Tiefe und Bedeutung. Wenn wir Handlungen um ihrer selbst willen ausführen, engagieren wir uns in Prozessen, die uns intellektuell, emotional und sozial bereichern. Die Teilnahme an der Gemeinschaft, die Pflege von Freundschaften, das Streben nach Wissen und Weisheit, und das Handeln nach ethischen Prinzipien sind nicht nur Aktivitäten, die zum Wohl der Gesellschaft beitragen, sondern auch zum persönlichen Wachstum und zur individuellen Erfüllung.

Praxis und Poiesis: Zusammenfassung

Zusammenfassend zeigt die Unterscheidung zwischen Praxis und Poiesis nach Aristoteles eine fundamentale Spannung in unserem Verständnis und unserer Ausübung menschlicher Aktivitäten auf. Während Poiesis notwendig ist für die Erfüllung externer Ziele und Bedürfnisse, soll uns Praxis an die Bedeutung intrinsischer Motivation und der Suche nach einem erfüllten Leben erinnern, das nicht nur durch äußere Errungenschaften, sondern auch durch innere Werte und Selbstverwirklichung definiert wird. Diese Unterscheidung fordert uns auf, über die Balance zwischen diesen beiden Aspekten in unserem eigenen Leben nachzudenken und Wege zu finden, wie wir nicht nur produktiv im Sinne von Poiesis sein können, sondern auch ein sinnvolles und erfülltes Leben im Sinne der Praxis führen können.


Es ist gleichsam eine Einladung darüber nachzudenken, wie viel Zeit wir uns für uns selbst in Anspruch nehmen, für Dinge, die uns persönlich bereichern und erfüllen, jenseits der Anforderungen und Erwartungen, die von außen an uns herangetragen werden. Es ermutigt uns, Momente zu schaffen und zu schätzen, in denen wir handeln, nicht weil wir müssen, sondern weil wir es wollen – weil es uns etwas bedeutet, weil es uns als Individuen ausmacht und weil es unser Leben mit Sinn und Zufriedenheit füllt.


Ich schätze jedes Feedback sehr – lassen Sie mich wissen, was Sie denken, selbst wenn der Artikel nicht ganz Ihr Fall war


Externe Links:

Spektrum.de: Metzler Lexikon Philosophie – Poiesis

Interne Links:

Akzeptanz im Stoizismus: Akzeptanz als Weltverhältnis

Aristoteles: Gesetz ist Vernunft, frei von Leidenschaft


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