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Rationalität durch Emotionalität: Ich fühle also bin ich
Lesedauer 4 MinutenRationalität durch Emotionalität: Ich fühle also bin ich Nicht selten begegnen wir der Vorstellung, Rationalität und Emotionalität seien voneinander getrennte Zustände. Diese Dichotomie hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht – etwa bei Platon und Aristoteles, die das Rationale als überlegen ansahen. Eine besondere Zuspitzung aber erfährt sie in der Philosophie Descartes. In seiner Methode des radikalen Zweifels zieht er alles in Zweifel – Sinneswahrnehmung, Körper, Gefühle – bis einzig das Denken als unbezweifelbarer Ursprung übrigbleibt. Mit dem cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) wird das Denken zur alleinigen Gewissheit – während Emotionen und Körper in die Sphäre des Zweifelhaften verwiesen werden. Philosophische…
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Politische Sprache: Über Freiheit, Verantwortung, Sicherheit – und andere Missverständnisse
Lesedauer 4 MinutenÜber politische Sprache, Wahrheit und die stille Macht der Worte Wir leben in einer Zeit, in der fast alles gesagt wird – aber immer weniger davon etwas bedeutet. Die politische Sprache ist voll von Begriffen, die ihren Inhalt längst verloren haben. Freiheit, Verantwortung, Sicherheit – Begriffe, die in beinahe jeder politischen Rede auftauchen und inzwischen so leer sind wie die Versprechen, die damit gemacht werden.Wittgensteins Formel hat sich längst ins Politische übersetzt: Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt. Wer die Begriffe kontrolliert, kontrolliert, was denkbar ist – ganz im Sinne von Orwells „Neusprech“, der Sprache nicht verändert, um zu verstehen, sondern um zu lenken.Sprache ist…
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Die Bewertung (Teil 3) – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDie Bewertung (Teil 3) – Neues aus Dystopia Am Nachmittag, auf dem Rückweg, rempelte ihn jemand leicht an.Nichts Ungewöhnliches.Die Straße war voll.Beiläufig spürte er etwas in seiner Hand. Ein gefalteter Zettel.Klein. Unauffällig.Er steckte ihn ein, ohne hinzusehen. Zu Hause faltete er ihn auf.Nur ein Satz:„Dort, wo Punkte keine Rolle spielen. 21 Uhr. Tor 3.“ Er überlegte, den Zettel wegzuwerfen.Tat es nicht.Er legte ihn auf den Tisch.Sah ihn an.Den ganzen Abend lang. Um zwanzig vor neun stand er auf.Zog eine Jacke an.Verließ die Wohnung, ohne Plan, ohne Absicherung. Tor 3 lag in einem alten Industriegebiet.Zwischen rostigen Zäunen und geborstenen Fenstern.Keine Scanner.Kein Licht.Nur eine schwere Tür. Er drückte sie auf.…
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Die Bewertung (Teil 2) – Neues aus Dystopia
Lesedauer < 1 MinuteDie Bewertung (Teil 2) – Neues aus Dystopia Sein Score blieb bei 4,29.Seit drei Tagen unverändert.Er tat, was erwartet wurde.Er lächelte. Er schwieg. Er nickte.Aber die Zahl rührte sich nicht.Wie eine Mauer.Still. Undurchdringlich. Am Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, blieb er kurz stehen.Auf dem Platz vor der Schule übten Kinder.Ein Mann im grauen Anzug gab Anweisungen.„Nach einem Lob: Lächeln und Danke sagen. Langsam nicken.“„Bei Kritik: Augen leicht senken, keine Rechtfertigung.“„Wer schneller reagiert, bekommt bessere Werte.“ Die Kinder wiederholten brav.Sätze, Gesten, Blicke.Einstudiert. Bewertbar.Sie lachten nicht.Sie lachten korrekt. Er sah ihnen zu, eine Weile.Dann senkte er den Blick.Zu langes Beobachten war riskant.Es könnte Fragen aufwerfen.Und Fragen waren gefährlich.…
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Das Gedächtnis – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDas Gedächtnis – Neues aus Dystopia Er erinnerte sich nicht mehr an den Moment. Nur daran, ihn später angeschaut zu haben. Er wusste, dass er gelacht hatte. Nicht, weil er es fühlte. Sondern weil das System es so gespeichert hatte. Er konnte es sehen – im Gedächtnis, auf dem Mitschnitt von Dienstag, 14:07 Uhr. Lächeln. Tonspur: leichtes Lachen. Alle Momente wurden archiviert. Lückenlos. Zugänglich. Verlässlich. Die Kamera an der Jacke, das Ohrmodul, das Rückensensorfeld – alles synchronisiert. Kein Gefühl, kein Blick, keine Geste ging verloren. Man nannte es Gedächtniserweiterung. Aber eigentlich war es eine Auslagerung. Ein langsamer Tausch. Erlebnis gegen Aufzeichnung. Früher hatte er sich an Dinge erinnert,…
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Die Bewertung (Teil 1)- Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDie Bewertung (Teil 1) – Neues aus Dystopia Sein Score betrug 4,31.Am Morgen blinkte die Zahl auf dem Display in seiner Küche.Grün auf weiß. Freundlich. Unnachgiebig.4,31 bedeutete: Zugang zu allen Bereichen.Gute Viertel. Saubere Straßen. Sicherheit.Man musste nichts Besonderes tun.Nur nichts Falsches. Im Aufzug nickte er höflich.Nicht zu überschwänglich.Nicht zu reserviert.Auf der Straße wich er aus, wenn jemand zu nah kam.Er lächelte im richtigen Moment.Er schwieg im richtigen Moment.Kleine Gesten. Kleine Punkte.Unmerklich.Und doch entscheidend. Er wusste, wie man sprach.Keine Ecken, keine Kanten.Keine Meinung, die stoßen könnte.Man sagte, was man sagte.Man empfand, was man empfand.Man glaubte, was geglaubt wurde.Nicht aus Überzeugung. Aus Gewohnheit. Einmal, im letzten Jahr, hatte er einen…
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Die Nacht: Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDie Nacht: Neues aus Dystopia Sie wollten nichts verpassen. Also begannen sie, die Nacht aufzuzeichnen. Alle. Jede Sekunde. Recorder hingen in den Schlafzimmern. In Parks. In Bars. Auf leeren Straßen. Am Morgen wurden die Nächte beschleunigt. Die Aufnahmen liefen in fünffacher Geschwindigkeit. So konnte man sie nacherleben, bevor der neue Tag begann. „Man darf nichts verpassen“, sagte ein Mann im Anzug. Er trug zwei Recorder, einen für Träume, einen für Geräusche. Ein Kind fragte: „Was war gerade?“ Seine Stimme klang ernst, fast unruhig. Er hatte etwas gehört, ein Geräusch vielleicht, oder ein Licht gesehen. Etwas, das bedeutsam hätte sein können. Er wollte sicher sein, dass es aufgezeichnet war.…
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Immer weiter – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenImmer weiter – Neues aus Dystopia Er rannte nicht. Aber er ging schneller als nötig.Alle taten das. Niemand sagte es, aber man spürte es: Wer langsamer war, galt als irgendwie falsch.Als habe er den Takt verloren. Ein Mann vor ihm stieß sich die Tür auf, ohne zu halten. Dahinter ein Gang. Noch einer. Wieder Türen.Ein System aus Gängen, das sich zu beschleunigen schien, je weiter man ging. „Bleiben Sie bitte in Bewegung“, sagte eine Stimme aus der Wand.Er blieb stehen.„Bitte weitergehen“, sagte sie.Nicht fordernd. Nur sachlich. In einem Raum saßen Menschen an Laufbändern. Sie schrieben Nachrichten, sortierten Aufgaben, beantworteten Anfragen, sprachen miteinander – während ihre Körper in Bewegung…