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Die Zeremonie – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 Minuten„Die Zeremonie“ Sie versammelten sich jeden Abend zur selben Stunde. Niemand wusste mehr, wann es begonnen hatte. Oder warum. Aber es stand im Kalender. Es war eingetragen, abgestimmt, bestätigt. Also kamen sie auch. Man stand im Halbkreis. Drei Schritte Abstand, kein Lächeln, kein Blick zu viel. Die Kleidung war schlicht, aber sorgfältig gewählt. Grau, Schwarz, ein Hauch von Blau bei den Jüngeren. In der Mitte: der Tisch. Immer leer. Manchmal lag eine Blume dort, manchmal ein Stück Stoff. Nie das Gleiche. Es wurde nie erklärt. Es wurde einfach hingelegt. Der Zeremonienleiter trat vor. Ein Mann mittleren Alters mit einer Stimme, die weder laut noch leise war. Er sagte:…
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Arbeit ist wichtig – Ein dystopisches Fragment
Lesedauer 5 MinutenEr trat durch das große Tor zur Halle. Ein kleiner Mann kam mit engagiertem Schritt auf ihn zu. Sein Gesicht war auffallend glatt. Die Brille, dünn und randlos, saß merkwürdig auf halber Höhe zwischen Nase und Augen, so als hätte er sie gerade erst abgesetzt und vergessen, sie wieder richtig aufzusetzen. Seine Lippen bewegten sich, als probte er im Stillen einen Satz, den er gleich aussprechen würde. „Sie sind pünktlich. Sehr gut. Das ist wichtig.“ Er nickte. „Folgen Sie mir“ Die Halle erstreckte sich weit in die Tiefe. Die Luft war trocken, ein beständiges Summen lag in ihr, wie das Echo einer Maschine, die man nie direkt sah.…
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Neues aus Dystopia: Man lebt nicht vom Brot allein
Lesedauer 5 MinutenMan lebt nicht vom Brot allein Ein Mann sitzt an einem Tisch. Vor ihm ein Teller, darauf eine Gabel, ein Messer, eine Serviette, gefaltet zu einem Dreieck. Der Teller ist leer. Man hat ihm gesagt, das Essen sei auf dem Weg. Er nickt. Wartet. Wartet weiter. Ein Kellner tritt heran, mit einer Kanne Kaffee. „Ein wenig Geduld“, sagt der Kellner und gießt ein. Der Kaffee dampft, er riecht nach nichts. Der Mann betrachtet die Tasse, hebt sie an die Lippen. Die Flüssigkeit ist heiß, aber geschmacklos, oder vielleicht ist er es, der nichts mehr schmeckt. Er blickt um sich. Andere Tische, andere Menschen. Sie alle warten. Manche haben…
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Möglichkeit und Notwendigkeit: Wie Freiheit Wirklichkeit schafft
Lesedauer 4 MinutenMöglichkeit und Notwendigkeit: Wie Freiheit Wirklichkeit schafft Das Leben beginnt mit einem nahezu endlosen Möglichkeitshorizont. Je älter wir werden, desto mehr Verantwortung tragen wir und desto häufiger stehen wir vor Entscheidungen, in denen sich unsere Möglichkeiten konkretisieren. Man könnte auch sagen, dass jede Wirklichkeit immer auch die Verneinung vieler anderer Möglichkeiten bedeutet. In dem Moment also, in dem etwas wirklich wird, verlieren unzählige andere Möglichkeiten ihre Potenzialität. Kierkegaard spricht davon, dass im Akt der Wahl, das Selbst sich festlegt – und jede Wahl schließt andere Wege aus. In dieser Synthese wird das Potenzial der Möglichkeiten aufgehoben, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits wird es verwirklicht (ein Teil der…
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In der Ewigkeit finden wir Trost
Lesedauer 2 MinutenIn der Ewigkeit finden wir Trost Wir sagen: „In ewiger Liebe“, „Du bist für immer mein Sohn oder meine Tochter“, „Ich werde Dich nie vergessen“ oder „Du wirst für immer in meinem Herzen sein“. In Sätzen wie diesen zeigt sich unsere tiefe Sehnsucht nach Bestand, nach der Ewigkeit und nach Trost in einer vergänglichen Welt. Sie sind Ausdruck unseres tiefen Wunsches, dass Liebe, Erinnerung, Identität und Bindungen nicht vergehen. Als Menschen greifen wir nur zu gerne nach der Ewigkeit. Ewige Wahrheiten in Redewendungen und Sprichwörtern spiegeln diese Sehnsucht wider. Wir errichten Denkmäler aus Stein, schreiben Bücher für die Nachwelt und pflanzen Bäume, die unsere eigene Lebenszeit überdauern sollen.…
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Nichts gibt es nicht
Lesedauer 7 MinutenNichts gibt es nicht Der Idealismus würde behaupten: Erst durch das Denken, erschafft der menschliche Geist die Gegensätze. Dualismen wie „Leib vs. Seele“ (oder „Geist vs. Materie“), „Gut vs. Böse“, „Chaos vs. Ordnung“, „Natur vs. Kultur“, „heilig vs. profan“ oder „Sein vs. Nichts“ wären demnach Konstruktionen unseres Geistes. Wenn man nicht gerade metaphysischer Solipsist ist und davon ausgeht, dass man sich nur des eigenen Ichs gewiss sein kann, würden wohl die meisten zustimmen, dass es eine materielle Welt, die Realität (von lat. res, Materie) gibt. Der Leib scheint real zu sein. Ebenso der Stuhl auf dem ich gerade sitze und in meinem Nachbargarten, das, was wir als Baum…
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Heidegger und die Technik: Aufruf zur Gelassenheit
Lesedauer 6 MinutenHeidegger und die Technik: Aufruf zur Gelassenheit Können Sie sich vorstellen, eine Woche lang, ohne Ihr Smartphone zu leben? Für viele klingt das bereits wie eine Zumutung. Schließlich ist das Smartphone unser Portal zur Welt. E-Mails, Social Media, Surfen im Netz, News, KI, Aktienkurse und Krypto, Musikstreaming, Banking oder Spiele. Die Liste an Apps und Funktionen wird täglich länger, und je mehr wir davon nutzen, desto höher steigt unsere Bildschirmzeit. Damit aber nicht genug. Hinzu kommen: Fernsehen, Radio, PC, Laptop, Tablet, VR-Brillen, Smartwatches, Spielkonsolen, smarte Zahnbürsten – die Aufzählung an technischen Alltagsgeräten lässt sich schier endlos fortsetzen. Martin Heidegger (1889–1976) sah voraus, wie tiefgreifend Technik unser Dasein beeinflussen…
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Gottes andere Wahrheit
Lesedauer 2 MinutenWir Menschen neigen dazu, Gott mit unseren Maßstäben zu messen. Wir fragen, warum er Leid zulässt, warum er nicht eingreift, warum er schweigt, wenn wir nach Antworten suchen. Was, wenn all diese Fragen von einer grundlegenden Fehlannahme ausgehen? Was, wenn Gottes Wahrheit nicht die unsere ist, seine Wahrnehmung nicht die unsere ist, seine Prioritäten nicht mit unseren übereinstimmen? Wir begreifen Intelligenz als Sprache, Logik, Reflexion – als das, was uns Menschen ausmacht. Doch wäre ein göttliches Bewusstsein an diese Begrenzungen gebunden? Wäre es nicht viel eher eine Intelligenz, die sich jenseits unserer Kategorien bewegt, die nicht nach unseren Gesetzen urteilt, sondern nach einer Ordnung, die wir nicht erfassen…