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Das Ich als Ort: Poststrukturalismus und das Ende des Subjekts
Lesedauer 4 MinutenDas Ich als Ort: Poststrukturalismus und das Ende des Subjekts Bei Descartes beginnt alles mit dem Denkenden Ich – jener unbezweifelbaren Gewissheit, aus der alles andere abgeleitet wird. Bei Kant wird das Ich zur moralischen Instanz, die sich selbst als Zweck erkennt und nach dem kategorischen Imperativ handelt. Kierkegaard radikalisiert das Ich existenziell – als Aufgabe, als Entscheidung, als Ringen mit sich selbst vor dem Abgrund der Freiheit. Husserl sah im Ich die Quelle den Ursprung für Sinngebung. Kurzum: In der klassischen Philosophie galt das Ich als Ursprung von Sinn und Weltdeutung. Der Poststrukturalismus stellt das Bild vom Ich, vom Subjekt und von einem Selbst radikal infrage: Genauer…
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Wenn Eltern schreien – Die Macht der mimetischen Prägung
Lesedauer 4 MinutenWenn Eltern schreien – Die Macht der mimetischen Prägung Wenn Eltern in Gegenwart von Kindern laut werden – schreien – sei es aus Überforderung, Wut oder Kontrollverlust –, hinterlässt dies Spuren. Nicht nur emotionale, sondern auch soziale Spuren. Es handelt sich um mehr als einen Ausbruch: Es ist ein Moment stiller Prägung. Denn Kinder beobachten nicht nur – sie ahmen nach. Dieser Beitrag untersucht, wie Kinder durch Beobachtung elterlicher Verhaltensmuster, insbesondere beim Schreien, soziale Strategien internalisieren. Anhand dieses konkreten Phänomens wird die grundlegende Bedeutung mimetischer Prozesse im frühkindlichen Lernen und darüber hinaus aufgezeigt. Schreien als performatives Modell Eltern oder Bezugspersonen, die in Stresssituationen in der Gegenwart ihrer Kinder…
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Neues aus Dystopia: Die Berührung
Lesedauer 2 MinutenNeues aus Dystopia: Die Berührung Berührungen waren nicht verboten.Aber sie waren anmeldepflichtig. Für spontane Berührungen gab es ein Protokoll.Dreistufig.Zustimmung, Kontext, Zweck. Er stand in einem Wartesaal.Ein Mann neben ihm nieste.Ein Reflex zuckte durch seinen Arm – die alte Geste, jemandem die Hand auf die Schulter zu legen. Er tat es nicht.Die Bewegung stoppte vor der Ausführung.Sein Armband vibrierte leicht, präventiv. Früher, so hieß es, war Berührung Alltag.Heute war sie eine Abweichung.Es hatte einmal gute Gründe gegeben, hieß es.Aber niemand sprach sie aus.Sie standen nur in alten Richtlinien unter der Rubrik: Ursprung. Man sagt, früher habe ein Händedruck gereicht, um alles zu verlieren. In den Schulungen lernte man, wie…
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Rationalität durch Emotionalität: Ich fühle also bin ich
Lesedauer 4 MinutenRationalität durch Emotionalität: Ich fühle also bin ich Nicht selten begegnen wir der Vorstellung, Rationalität und Emotionalität seien voneinander getrennte Zustände. Diese Dichotomie hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht – etwa bei Platon und Aristoteles, die das Rationale als überlegen ansahen. Eine besondere Zuspitzung aber erfährt sie in der Philosophie Descartes. In seiner Methode des radikalen Zweifels zieht er alles in Zweifel – Sinneswahrnehmung, Körper, Gefühle – bis einzig das Denken als unbezweifelbarer Ursprung übrigbleibt. Mit dem cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) wird das Denken zur alleinigen Gewissheit – während Emotionen und Körper in die Sphäre des Zweifelhaften verwiesen werden. Philosophische…
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Politische Sprache: Über Freiheit, Verantwortung, Sicherheit – und andere Missverständnisse
Lesedauer 4 MinutenÜber politische Sprache, Wahrheit und die stille Macht der Worte Wir leben in einer Zeit, in der fast alles gesagt wird – aber immer weniger davon etwas bedeutet. Die politische Sprache ist voll von Begriffen, die ihren Inhalt längst verloren haben. Freiheit, Verantwortung, Sicherheit – Begriffe, die in beinahe jeder politischen Rede auftauchen und inzwischen so leer sind wie die Versprechen, die damit gemacht werden.Wittgensteins Formel hat sich längst ins Politische übersetzt: Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt. Wer die Begriffe kontrolliert, kontrolliert, was denkbar ist – ganz im Sinne von Orwells „Neusprech“, der Sprache nicht verändert, um zu verstehen, sondern um zu lenken.Sprache ist…
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Die Bewertung (Teil 3) – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDie Bewertung (Teil 3) – Neues aus Dystopia Am Nachmittag, auf dem Rückweg, rempelte ihn jemand leicht an.Nichts Ungewöhnliches.Die Straße war voll.Beiläufig spürte er etwas in seiner Hand. Ein gefalteter Zettel.Klein. Unauffällig.Er steckte ihn ein, ohne hinzusehen. Zu Hause faltete er ihn auf.Nur ein Satz:„Dort, wo Punkte keine Rolle spielen. 21 Uhr. Tor 3.“ Er überlegte, den Zettel wegzuwerfen.Tat es nicht.Er legte ihn auf den Tisch.Sah ihn an.Den ganzen Abend lang. Um zwanzig vor neun stand er auf.Zog eine Jacke an.Verließ die Wohnung, ohne Plan, ohne Absicherung. Tor 3 lag in einem alten Industriegebiet.Zwischen rostigen Zäunen und geborstenen Fenstern.Keine Scanner.Kein Licht.Nur eine schwere Tür. Er drückte sie auf.…
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Die Bewertung (Teil 2) – Neues aus Dystopia
Lesedauer < 1 MinuteDie Bewertung (Teil 2) – Neues aus Dystopia Sein Score blieb bei 4,29.Seit drei Tagen unverändert.Er tat, was erwartet wurde.Er lächelte. Er schwieg. Er nickte.Aber die Zahl rührte sich nicht.Wie eine Mauer.Still. Undurchdringlich. Am Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, blieb er kurz stehen.Auf dem Platz vor der Schule übten Kinder.Ein Mann im grauen Anzug gab Anweisungen.„Nach einem Lob: Lächeln und Danke sagen. Langsam nicken.“„Bei Kritik: Augen leicht senken, keine Rechtfertigung.“„Wer schneller reagiert, bekommt bessere Werte.“ Die Kinder wiederholten brav.Sätze, Gesten, Blicke.Einstudiert. Bewertbar.Sie lachten nicht.Sie lachten korrekt. Er sah ihnen zu, eine Weile.Dann senkte er den Blick.Zu langes Beobachten war riskant.Es könnte Fragen aufwerfen.Und Fragen waren gefährlich.…
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Das Gedächtnis – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDas Gedächtnis – Neues aus Dystopia Er erinnerte sich nicht mehr an den Moment. Nur daran, ihn später angeschaut zu haben. Er wusste, dass er gelacht hatte. Nicht, weil er es fühlte. Sondern weil das System es so gespeichert hatte. Er konnte es sehen – im Gedächtnis, auf dem Mitschnitt von Dienstag, 14:07 Uhr. Lächeln. Tonspur: leichtes Lachen. Alle Momente wurden archiviert. Lückenlos. Zugänglich. Verlässlich. Die Kamera an der Jacke, das Ohrmodul, das Rückensensorfeld – alles synchronisiert. Kein Gefühl, kein Blick, keine Geste ging verloren. Man nannte es Gedächtniserweiterung. Aber eigentlich war es eine Auslagerung. Ein langsamer Tausch. Erlebnis gegen Aufzeichnung. Früher hatte er sich an Dinge erinnert,…