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Die Nacht: Neues aus Dystopia
Lesedauer < 1 MinuteSie wollten nichts verpassen. Also begannen sie, die Nacht aufzuzeichnen. Alle. Jede Sekunde. Recorder hingen in den Schlafzimmern. In Parks. In Bars. Auf leeren Straßen. Am Morgen wurden die Nächte beschleunigt. Die Aufnahmen liefen in fünffacher Geschwindigkeit. So konnte man sie nacherleben, bevor der neue Tag begann. „Man darf nichts verpassen“, sagte ein Mann im Anzug. Er trug zwei Recorder, einen für Träume, einen für Geräusche. Ein Kind fragte: „Was war gerade?“ Niemand wusste es. Eine alte Frau schüttelte den Kopf. Man sah sich selbst schlafen, sah andere schlafen, sah das Leben jenseits der Nacht, fragmenteweise, flackernd. Später liefen die Nächte parallel zum Tag. Im Hintergrund, auf…
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Neues aus Dystopia: Immer weiter
Lesedauer 2 MinutenNeues aus Dystopia: Immer weiter Er rannte nicht. Aber er ging schneller als nötig.Alle taten das. Niemand sagte es, aber man spürte es: Wer langsamer war, galt als irgendwie falsch.Als habe er den Takt verloren. Ein Mann vor ihm stieß sich die Tür auf, ohne zu halten. Dahinter ein Gang. Noch einer. Wieder Türen.Ein System aus Gängen, das sich zu beschleunigen schien, je weiter man ging. „Bleiben Sie bitte in Bewegung“, sagte eine Stimme aus der Wand.Er blieb stehen.„Bitte weitergehen“, sagte sie.Nicht fordernd. Nur sachlich. In einem Raum saßen Menschen an Laufbändern. Sie schrieben Nachrichten, sortierten Aufgaben, beantworteten Anfragen, sprachen miteinander – während ihre Körper in Bewegung blieben.Ein…
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„Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass….“ – eine Sprachkritik
Lesedauer 3 MinutenEs ist wissenschaftlich bewiesen, dass…. Neulich bin ich auf Facebook auf einen dieser „Faktastisch“-Beiträge gestoßen. Sinngemäß stand dort: „Wissenschaftlich bewiesen: Der ideale Altersunterschied für eine glückliche Beziehung.“ Das ist auf der einen Seite fast schon banal, auf der anderen Seite aber kein Einzelfall. Denn man hört leider oft, dass etwas wissenschaftlich bewiesen sei. Diese Formulierung erzeugt leider zu oft nur den Anschein von Objektivität und Unangreifbarkeit – so, als hätte die Wahrheit nun ihre letzte Gestalt gefunden. Weitergetragen wird diese vermeintliche Gewissheit dann im Gespräch. Der eine erzählt dem anderen, dass die Wissenschaft dieses oder jenes bewiesen hätte. So verbreitet sich dann eine angeblich evidenzbasierte Wahrheit – und gewinnt mit jeder Wiederholung…
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Man sagt – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenMan saß in Reihen. Nicht zu nah, nicht zu weit.Man sprach leise, wenn überhaupt.Die Gespräche begannen fast immer gleich: „Man sagt“„Man hat gehört…“„Man weiß ja…“„Man sollte…“ Es war nicht unhöflich, nur… unpersönlich.Kein Name, kein Ich, kein Du.Nur das, was man eben so sagte. Der Junge bemerkte es zuerst in sich selbst.Ein Wort, das ihm auf der Zunge lag.„Ich.“Er sprach es nicht aus. Aber es wuchs. In der Schule wurde gelehrt, wie man spricht.„Man sagt Danke.“„Man sagt Entschuldigung.“„Man fragt nicht zu viel.“Die Lehrerin lächelte viel. Aber sie sagte nie: „Ich weiß es.“Nur: „Man weiß es.“ Eines Tages, in einer Pause, sagte der Junge leise:„Ich hab geträumt.“Ein anderes Kind sah…
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Das Elendorhythmische Kalkül – Eine Anthropologie des Elends
Lesedauer 4 MinutenDie Elenden sollen essen. So lässt es Bach singen. Aber elendig sind wir alle. Denn elend ist nicht nur der Hungernde. Elend ist, wer isst. Wer kauen, schlucken, verdauen muss. Wer an seinen Leib gefesselt ist, wer dem Rhythmus der banalen Notwendigkeiten nicht entkommt. Der Mensch träumt von Freiheit, von Geist, von Ewigkeit. Er schreibt Bücher, predigt Tugend, spricht von Schönheit und Moral. Aber was ist das Erste, was er morgens tut? Er steckt sich etwas in den Mund und scheidet aus. Und was ist das Letzte, bevor er schläft? Er frisst, als wäre die Nacht eine Entbehrung. So hoch er sich auch erhebt, am Ende bleibt eine…
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Der Blick – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 MinutenDer Blick – Neues aus Dystopia Man durfte schauen.Aber nicht zu lang. Nicht zu direkt. Nicht zu offen.Es gab Regeln. Für den Blick. Sie hingen an den Wänden, auf kleinen, dezenten Tafeln: „Augenkontakt max. 2,7 Sekunden.Seitlicher Blick: empfohlen.Direktes Ansehen: nur mit Blicklizenz.“ Er saß in der Bahn.Gegenüber eine Frau.Sie blickte aus dem Fenster.Er wagte einen kurzen Blick.Nicht weil er etwas wollte – sondern weil er sich vergewissern wollte, dass sie da war. Nach exakt 2,7 Sekunden summte sein Armband.„Blickdauer überschritten. Bitte wenden Sie den Blick ab.“ Er senkte den Kopf.Vor ihm: seine Hände.Sie waren ruhig. Seine Augen nicht. Früher, so hatte man erzählt, konnte man jemanden einfach ansehen.Einfach…
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Warten – Neues aus Dystopia
Lesedauer 3 MinutenWarten Er stand an der Haltestelle. Der Pfosten war schief, das Schild darauf verwittert. In ausgeblichenen Buchstaben stand dort: „Es wird kommen.“Keine Uhr. Kein Fahrplan. Nur ein langer Bordstein, der ins Ungewisse führte. Der Asphalt davor schien unberührt – keine Reifenspuren, kein Staub. Als wäre hier nie etwas gefahren. Neben ihm stand ein älterer Mann, regungslos. Seine Hände tief in den Taschen, der Blick auf den Horizont gerichtet.Der Jüngere fragte leise: „Wie lange warten Sie schon?“Der Alte zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Ich war schon hier, als ich ankam.“Dann schwiegen sie wieder. Ein paar Schritte weiter stand eine Frau. Sie trug einen Koffer, der aussah, als sei…
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Die Zeremonie – Neues aus Dystopia
Lesedauer 2 Minuten„Die Zeremonie“ Sie versammelten sich jeden Abend zur selben Stunde. Niemand wusste mehr, wann es begonnen hatte. Oder warum. Aber es stand im Kalender. Es war eingetragen, abgestimmt, bestätigt. Also kamen sie auch. Man stand im Halbkreis. Drei Schritte Abstand, kein Lächeln, kein Blick zu viel. Die Kleidung war schlicht, aber sorgfältig gewählt. Grau, Schwarz, ein Hauch von Blau bei den Jüngeren. In der Mitte: der Tisch. Immer leer. Manchmal lag eine Blume dort, manchmal ein Stück Stoff. Nie das Gleiche. Es wurde nie erklärt. Es wurde einfach hingelegt. Der Zeremonienleiter trat vor. Ein Mann mittleren Alters mit einer Stimme, die weder laut noch leise war. Er sagte:…