Leben ist leiden
Philosophie

Leben ist Leiden?

Getting your Trinity Audio player ready...
Lesedauer 7 Minuten

Leben ist Leiden – Zur Welt gekommen, um zu leiden?

Nicht selten wird das Leben so beschrieben. Doch nicht immer ist sofort klar, was damit genau gemeint ist. Grund genug, darüber zu sprechen, warum das Leben in erster Linie ein Leiden ist, warum diese Beschreibung des Menschseins nachvollziehbar erscheint – und was das Leiden letztlich für unser Leben bedeutet.

Leben und Leiden

Schon als Kind erschien mir die Welt unverständlich – und bis heute ist vieles daran rätselhaft geblieben. Mit den Jahren jedoch wuchs die Last des Lebens, und mit ihr die Verantwortung, die sich immer tiefer ins Dasein grub. Als Kind wird einem diese zunächst abgenommen. Man springt leicht und unbekümmert über die Wiesen dieser Welt.

Ein erstes kleines Leid mag es sein, wenn unsere Interessen sich nicht mit den Normen und Werten der Gesellschaft vereinbaren lassen. Die Schule etwa, macht mal mehr mal weniger Spaß – und manche bekommen hier bereits zu spüren, was es heißt, immer ein bisschen mehr Verantwortung selbst zu übernehmen. Nicht selten entstehen Rückschläge und Unzufriedenheiten, Disharmonie – dazu die Über-Ichs, in erster Linie die Eltern, aber auch Lehrer und schließlich auch die Gesellschaft, die zunehmend Druck erzeugen. Doch das ist in den meisten Fällen noch kein tiefes Leid. Es ist eher leidig.

In der Jugend dann, kommt die Liebe als Eros ins Leben. Aber die erste Liebe endet fast immer mit einer schmerzlichen Erfahrung. Wobei, wenn man es recht überlegt, endet jede Liebe in Bezug auf einen anderen Menschen, mit einer schmerzlichen Erfahrung. Daneben prägt das Heranwachsen eine turbulente Zeit zwischen dem Drang zur Anpassung und dem oft leidenschaftlichen Wunsch nach Rebellion. Insgesamt eine Phase, in der das Leben seine ersten Spuren des Leidens hinterlässt – eine Phase voller Freude und Schmerz, doch mit der Zeit verändert sich die Unruhe, auch wenn sie nie ganz verschwindet.

Schlimmstenfalls wird ein junger Mensch bereits früh mit dem Verlust einer bedeutenden Person konfrontiert. Erst dann versteht man, was mit Leid wirklich gemeint ist. Wird einem diese schmerzhafte Erfahrung als junger Mensch zuteil, begreift man früh, dass das diesseitige Leben ein endliches ist. Mit dieser unvermeidlichen Erkenntnis ausgestattet, leben wir unser Leben. In jungen Jahren ist das Ende nur schwer abzusehen. Selbst wenn wir früh mit der Endlichkeit konfrontiert werden, bleibt sie meist abstrakt und fern. Doch auch wenn sie sich noch so gut versteckt, ist sie immer da – und keineswegs vergessen. Wenn Sie nicht gläubig sind, dann hat diese Geschichte für Sie einfach kein Happy End. Jedenfalls nicht, wenn sie bis zum Ende erzählt wird.

Zwischen Kindheit und Endzeit liegt ein weiter Weg, der trotz aller technologischen Fortschritte – und manchmal gerade ihretwegen – nicht weniger beschwerlich wird. Die Technik erleichtert vieles, doch sie nimmt dem Leben nicht seine existenziellen Herausforderungen. Manches Leid bleibt unverändert, anderes entsteht erst durch den Fortschritt selbst.

Ein Leben ist ungewiss, doch eines ist sicher: Es wird Momente geben, die wir rückblickend bedauern. Vielleicht das falsche Abbiegen an irgendeiner Stelle im Leben. Das Verpassen von Chancen, der unerfüllte Wunsch oder das gebrochene Herz. In einem Leben gibt es zahllose Gründe, zu bereuen. Und so sehr Glücksmomente das Dasein erhellen, sind es doch die leidvollen Erfahrungen, die das Menschsein in seiner Tiefe bestimmen. Das Leben scheint wohl, immer auch ein Leiden zu sein.

Leben ist Leiden: Das Leben ist auf Verlust hin angelegt

Kaum sind wir auf der Welt, müssen wir akzeptieren, dass wir sie eines Tages wieder verlassen werden. Früher oder später drängt sich daher die Frage auf: Was soll das Ganze? Vielleicht ist uns diese Erkenntnis nicht sofort bewusst, aber man muss der Wahrheit ins Auge sehen: Das Leben selbst ist von Anfang an auf Verlust hin angelegt.

Mit jedem Schritt, den wir gehen, mit jedem Jahr, das vergeht, sammeln wir nicht nur Erfahrungen, sondern es mehren sich die Verluste. Freundschaften verblassen, Beziehungen zerbrechen, Menschen, die uns nahe standen, verschwinden. Auch der Körper beginnt mal früher, mal später, seine Grenzen aufzuzeigen. Krankheiten treten auf, oft ganz unerwartet, manchmal auch schleichend – doch immer als Erinnerung daran, dass nichts in der Welt von Dauer ist. Krankheit ist nicht nur ein physischer, sondern auch ein existenzieller Einschnitt, der uns mit unserer eigenen Verletzlichkeit konfrontiert. Und während wir unser Leben lang versuchen, etwas aus uns zu machen, ist das Altern eine stetige Erinnerung daran, dass diese Verluste mit der Zeit nur größer werden. Auf unserem Lebenskonto verbuchen wir zwar Erfolge, aber eben auch Verluste und kein Konto bleibt am Ende mit einem Gewinn stehen. Es mehren sich von Zeit zu Zeit Dinge, die langsam, aber stetig verschwinden. All das gipfelt irgendwann in einem Schlussakt – mit dem Verlust des eigenen Lebens. Dieser Verlust aber, ist nicht nur unser persönlicher Verlust – er hinterlässt auch eine Leere bei denen, die zurückbleiben. Und so wiederholt sich der Zyklus des Verlustes und damit auch des Leids unaufhaltsam, von Generation zu Generation.

Verlust ist der rote Faden unseres Daseins – und genau das erkannte Martin Heidegger in seiner Analyse des Seins-zum-Tode

Martin Heidegger und das Sein-zum-Tode

Für Heidegger ist der Mensch das einzige Wesen, das sich seiner Endlichkeit bewusst ist. Während Tiere im Moment leben, trägt der Mensch seine Vergänglichkeit ständig mit sich – ob er es will oder nicht. Unser Leben ist kein bloßes Dahinsein, sondern immer schon ein Sein-zum-Tode.

Das bedeutet nicht, dass wir ständig über den Tod nachdenken, aber er wirft einen Schatten auf jede Entscheidung. Wer erkennt, dass sein Dasein begrenzt ist, sieht klarer. Jede Wahl, jedes Zögern, jedes Versäumnis geschieht vor dem Hintergrund der eigenen Endlichkeit. Das Leben ist nicht nur Leid, sondern auch Dringlichkeit. Heidegger zeigt uns: Erst wenn wir den Tod in unser Leben integrieren, können wir wahrhaft eigentlich existieren. (Heidegger 2005: S. 234 ff.)

Miseria Hominis – Die menschliche Misere

Bereits im Renaissance-Humanismus wurde die Miseria Hominis als Grundbedingung des Menschen erkannt. Der Mensch ist nicht nur körperlich gebrechlich, vergänglich und anfällig für Krankheiten – auch sein Geist ist von einer tiefen Unruhe durchzogen. Er strebt nach Glück und Erfüllung, doch beides entzieht sich ihm immer wieder. Glück ist ein flüchtiger Gast.

Während die Antike oft nach einer harmonischen Lebensführung suchte, machten Denker der Renaissance deutlich, dass das menschliche Dasein unweigerlich von Mängeln und Leiden durchzogen ist. Der Mensch erkennt seine Sterblichkeit, er erlebt Unrecht, Verlust, Enttäuschung – und vor allem: Er ist sich all dessen bewusst. Dieses Bewusstsein der eigenen Misere macht sein Schicksal umso schwerer.

Den Renaissance-Humanisten galt die Miseria Hominis nicht nur als individuelles Problem, sondern als universelle Kondition: Der Mensch ist dazu verdammt, nach Glück zu suchen, es vielleicht für einen Moment zu erhaschen, nur um es gleich wieder zu verlieren. Seine Sehnsucht bleibt ungestillt. (Buck 1960: S. 1-15)

Leben ist Leiden: Artur Schopenhauers Pessimismus

Auch für Schopenhauer ist das Leben nicht nur gelegentlich leidvoll – sondern in seinem Wesen Leiden. Der Mensch ist durch den Willen bestimmt, ein blindes, unaufhörlich drängendes Prinzip, das uns antreibt, aber niemals zur Ruhe kommen lässt. Sobald ein Wunsch erfüllt ist, entsteht unweigerlich ein neuer Mangel. Das Leben ist ein endloser Kreislauf aus Unruhe, Frustration und nur flüchtigen Befriedigungen, die niemals dauerhaft erfüllen.

Das Leiden ist dabei nicht die Ausnahme, sondern die Regel: Solange wir begehren, leiden wir am Mangel. Erfüllt sich unser Wunsch, erleben wir nur einen kurzen Moment der Erleichterung – bevor sich das nächste Verlangen aufdrängt. Und wenn uns einmal nichts fehlt? Dann tritt Langeweile an die Stelle des Leidens. So schwankt das menschliche Dasein zwischen Mangel und Überdruss – ein Schicksal, dem man nur durch die Verneinung des Willens entkommen kann. (Schopenhauer: S. 2002)

Existenzialismus: Das Leiden als absurde Grundbedingung

Der Existenzialismus radikalisiert die Miseria Hominis und stellt fest: Der Mensch leidet nicht nur – er existiert in einer Welt, die keinen vorgegebenen Sinn hat. Während frühere Denker Leid oft in einen höheren Zusammenhang stellten, sei es religiös oder metaphysisch, verweigert der Existenzialismus solche Erklärungen.

Für Martin Heidegger ist der Mensch ein „Geworfener“ – er findet sich in einer Welt vor, die er sich nicht ausgesucht hat. Alles, was er tut, alles, was er ist, wurde von einer Welt geprägt, die vor ihm war und ihn formte. Die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens wird durch diesen Umstand von vornherein belastet. (Heidegger 2005: S. 135)

Jean-Paul Sartre verschärft dies noch weiter: „Der Mensch ist zur Freiheit verdammt.“ Das bedeutet, dass wir uns in jeder Situation selbst definieren müssen – doch diese radikale Freiheit ist keine Erlösung, sondern eine Last. Wir können uns nicht auf vorgegebene Sinnstrukturen verlassen, wir müssen unseren Weg selbst erschaffen. Doch jede Entscheidung ist mit Ungewissheit und Verantwortung beladen, und so ist das Leben nicht nur leidvoll, sondern auch von ständiger Angst und Zweifel durchzogen.

Noch weiter geht Albert Camus, der das Leben als absurd beschreibt: Wir sehnen uns nach Sinn, doch das Universum bleibt stumm. Es gibt keine endgültige Antwort, keinen Trost, keine tiefere Bedeutung. Das Absurde entsteht genau aus diesem Konflikt. Unser Wunsch nach Sinn trifft auf eine sinnlose und gleichgültige Welt. Camus vergleicht unser Dasein mit dem Mythos des Sisyphos – wir sind dazu verdammt, einen Stein den Berg hinaufzurollen, nur damit er wieder herabstürzt. Doch die wahre Herausforderung ist nicht das Leiden selbst, sondern unsere Haltung dazu. (Camus: 2013)

Vom Leid zur Authentizität: Eine existenzielle Wende

Ist das also wirklich alles? Ist das Leben nur eine sinnlose Aneinanderreihung von Leiden? Die existenzphilosophische Tradition zeigt eine alternative Sicht: Das Leiden ist nicht nur eine Last – es ist auch die Voraussetzung für ein echtes, authentisches Leben.

Friedrich Nietzsche sieht im Leid keine Katastrophe, sondern eine Notwendigkeit. Wer den Schmerz meidet, meidet auch das Wachstum. In Also sprach Zarathustra beschreibt er den „Übermenschen“ als jemanden, der das Leiden annimmt und daran wächst, anstatt daran zu zerbrechen. Das Leben soll nicht bloß ertragen, sondern bejaht werden – mitsamt aller Schmerzen und Krisen. Man könnte sagen, wir sollen im Regen tanzen.

Auch Kierkegaard betont in Die Krankheit zum Tode, dass Verzweiflung ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Selbstfindung ist. Der Mensch kann sich in Selbsttäuschung und Oberflächlichkeit verlieren – oder aber er kann das Leiden als Zeichen dafür nehmen, dass es eine tiefere Wahrheit gibt, nach der er streben sollte.

Heidegger schließlich zeigt, dass die Konfrontation mit dem Tod uns aus der Alltagsverfallenheit reißt: Wer erkennt, dass seine Zeit begrenzt ist, beginnt, eigentlich zu existieren. Leid und Endlichkeit sind nicht nur Bürden – sie sind auch Weckrufe, das Leben bewusst und aufrichtig zu gestalten. Aber am Ende ist Leben, eben immer auch Leiden.



Literaturverzeichnis:

Buck, August. Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis. Archiv für Kulturgeschichte, vol. 42, 1960, pp. 1-15. (https://www.deepdyve.com/lp/de-gruyter/die-rangstellung-des-menschen-in-der-renaissance-dignitas-et-miseria-aA7BbL70BX? , abgerufen am: 22.01.2025)

Camus, A. (2013). Der Mythos des Sisyphos (V. von Wroblewsky, Übers.; 1. Aufl.). Rowohlt.

Heidegger, M. (2005). Sein und Zeit (19. Aufl.). Max Niemeyer Verlag.

Schopenhauer, A., Die Welt als Wille und Vorstellung, https://archive.org/details/ArthurSchopenhauerWeltAlsWilleUndVorstellung/page/n2131/mode/2up , abgerufen am 23.01.2025


Externe Links:

Wikipedia – Pessimismus: Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ bildet die Grundlage seines metaphysischen Pessimismus. Er argumentiert, dass das Leben durch unstillbare Wünsche geprägt ist, die zu ständigem Leiden führen.

Wikipedia – Terminologie Heideggers: In „Sein und Zeit“ führt Heidegger den Begriff des „Seins zum Tode“ ein, der die menschliche Existenz als auf den Tod hin ausgerichtet beschreibt. Er betont, dass das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit essenziell für ein authentisches Leben ist.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert