Fortschrittsglaube: Der bröckelnde Glaube an den Fortschritt
Getting your Trinity Audio player ready...
|
Über Jahrhunderte hinweg war der Fortschrittsglaube eine treibende Kraft, die Generationen inspirierte und das Weltbild der Moderne prägte. Die vergangenen zweihundert Jahre, und insbesondere das letzte Jahrhundert, waren vom festen Vertrauen geprägt, dass der Mensch sich durch die Wissenschaft immer weiter emporheben könne – und mit jeder Entdeckung, jedem technologischen Durchbruch, die Gesellschaft stetig voranschreite. Diese Idee, dass mehr Wissen unvermeidlich zu einer besseren, vielleicht sogar perfekten Welt führt, war lange Zeit eine Art kulturelles Mantra. Doch dieser Fortschrittsglaube gerät zunehmend ins Wanken. Immer deutlicher werden die Schattenseiten des Fortschritts, von ökologischen Krisen bis hin zu sozialen Spannungen. Rousseaus Frage, ob der technische Fortschritt wirklich den Menschen verbessert oder ihn nicht vielmehr von sich selbst entfremdet, war nie aktueller. Es darf also gefragt werden, ob mehr Wissen und Technologie tatsächlich zum gewünschten Ziel führen – oder ob der Glaube an den Fortschritt langsam bröckelt.
Was ist Fortschritt?
So selbstverständlich wie der Begriff des Fortschritts auf den ersten Blick erscheint, ist er bei näherem Hinsehen nicht. Denn seine Bedeutung ist keineswegs evident. Gemeinhin wird unter Fortschritt eine mehr oder weniger lineare Bewegung verstanden, die sich auf eine Verbesserung hin orientiert, sei es in technischer, sozialer oder wissenschaftlicher Hinsicht. Dabei schwingt oft die Vorstellung mit, dass sich die Menschheit auf einer klaren Entwicklungsbahn der Höherentwicklung befindet. Mit dem Fortschritt verbunden ist also auch das Versprechen, mindestens aber die Hoffnung, auf Vervollkommnung.
Was aber soll diese „Vervollkommnung“ eigentlich bedeuten? Einen Konsens darüber, scheint es jedenfalls nicht zu geben. Mit Kant ließe sich Fortschritt etwa als moralische Reifung und nicht als rein technische Entwicklung verstehen – ein Streben nach einem besseren, ethischen Zustand. Der moralische Realismus geht davon aus, dass es objektive moralische Wahrheiten gibt, die es zu erforschen und zu erkennen gilt Doch solche Annahmen werfen Fragen auf, inwieweit diese universellen moralischen Standards in einer pluralistischen Welt Gültigkeit haben. Unterschiede in Weltbildern und Lebensweisen prägen die Definitionen von Fortschritt maßgeblich, und der Fortschrittsglaube wird dadurch zu einem komplexen Zusammenspiel aus Technik, Moral und Kultur.
Fortschritt und Wahrheit
Der Fortschrittsgedanke trägt in sich die Vorstellung einer Wahrheit, auf die hin sich die Menschheit zubewegt. Für Nietzsche ist die Annhame einer festen „Wahrheit“ eine Illusion, eine Konstruktion, die durch verschiedene Perspektiven geprägt und von Zeit zu Zeit, neu definiert wird. Ist Fortschritt demnach wirklich eine Bewegung auf eine Wahrheit zu, wie sie wissenschaftliche Erkenntnisse oder technologische Entwicklung anstreben – oder geht es vielmehr um ein Ideal, das in moralischen und ethischen Werten gründet?
Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass Fortschritt stets auf dem neuesten Stand des Wissens beruht, der sich jedoch permanent wandelt. Was heute als „Wahrheit“ gilt, kann morgen schon überholt sein – ein Prozess, der den Fortschritt selbst fragil macht. So stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine feststehende Wahrheit gibt, auf die sich der Fortschritt richten kann, oder ob dieser nicht vielmehr auf einem vagen Versprechen von Verbesserung basiert, das sich immer und immer wieder neu erfindet.
Wissenschaft und Fortschritt
Fortschritt wird oft eng mit Wissenschaft verknüpft, was aufgrund der weitreichenden Veränderungen, die wissenschaftliche Entdeckungen in den letzten Jahrhunderten bewirkten, naheliegt. Die Vorstellung, dass Wissenschaft einem linearen Fortschrittsmodus folgt, ist innerhalb der wissenschaftstheoretischen Debatte durchaus umstritten. Der Physiker und Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn zeigt in seiner Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen, dass Wissenschaft nicht linear „fortschreitet“, sondern in Krisen, Revolutionen, Brüchen und Paradigmenwechseln. Neue Theorien ersetzen alte und stellen dabei grundlegende Annahmen infrage, anstatt bloß auf ihnen aufzubauen.
Ein bekanntes Beispiel ist die kopernikanische Revolution, die das geozentrische Weltbild abrupt durch das heliozentrische ersetzte – kein kontinuierlicher Aufbau, sondern ein radikaler Umbruch. Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung der Physik im 20. Jahrhundert, als Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenmechanik die Grenzen von Newtons klassischer Mechanik aufzeigten und sie in speziellen Bereichen ersetzten, anstatt sie nur zu erweitern.
Solche Paradigmenwechsel verdeutlichen, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht als geradliniger Weg zur Wahrheit hin verstanden werden kann. Vielmehr zeigt sich eine Abfolge von neuen „Wahrheiten“, die die Menschen immer wieder in eine neue Wirklichkeit zwingen und alte Gewissheiten über Bord werfen. Dies nährt eine tiefe Skepsis gegenüber der Wissenschaft als einer stabilen Grundlage des Fortschrittsglaubens und zeigt, wie fragil wissenschaftliche Wahrheiten sein können.
Fortschritt im Kontext des Kapitalismus
Fortschritt benötigt stets einen Kontext, und der heute dominierende Kontext ist der Kapitalismus. Der Gedanke des Fortschritts wird maßgeblich durch kapitalistische Treiber geprägt, die den Fortschritt vereinnahmen und auf wirtschaftliches Wachstum und ökonomische Effizienz ausrichten. Der Fokus liegt hier weniger darauf, die Lebenswelt der Menschen zu verbessern, als vielmehr darauf, Produktivität und Konsum zu steigern. So erhält Fortschritt im Kapitalismus seine Bedeutung vorrangig aus einem ökonomischen Paradigma.
Diese kapitalistische Ausrichtung lässt sich an zahlreichen Beispielen aufzeigen. So konzentrieren sich technologische Innovationen zunehmend auf Konsumgüter, die auf ständige Erneuerung setzen. Smartphones und andere Elektronikgeräte kommen in immer neuen Modellen auf den Markt. Die Verbesserungen muss man oft suchen, dennoch werden die Geräte als „Fortschritt“ beworben. Nachhaltigkeit und Langlebigkeit spielen dabei nicht immer die größte Rolle – im Gegenteil, das kapitalistische System profitiert von der kurzlebigen Natur dieser Produkte.
Der Philosoph Herbert Marcuse kritisierte dieses Verständnis von Fortschritt als Ausdruck eines „eindimensionalen Denkens“: Technologische und ökonomische Entwicklungen werden zunehmend genutzt, um Konsum und Effizienz zu maximieren, während Werte wie Kreativität und Freiheit vernachlässigt werden. Konsum wird sogar zum Symbol für persönlichen Fortschritt und das vermeintlich gute Leben, auch wenn die Realität oft ein ganz anderes Bild zeichnet.
Auch in der Arbeitswelt zeigt sich der Fortschritt im kapitalistischen Kontext: Automatisierung und Digitalisierung sollen vor allem Effizienz steigern und Kosten senken, was jedoch oft wenig zur Lebensqualität der Arbeitenden beiträgt. Stattdessen erhöhen sich die Anforderungen an Flexibilität und Produktivität, was wohl eher noch zusätzlichen Druck erzeugt. Fortschritt dient hier vorrangig dem Ziel der Kostenreduktion und Gewinnsteigerung.
Im Gesundheitswesen zeigen sich ähnliche Tendenzen. Neue Medikamente und Behandlungsmethoden werden zwar entwickelt, doch die Prioritäten richten sich oft nach wirtschaftlicher Rentabilität statt nach den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen. Häufig werden verbreitete, lukrative Krankheiten intensiver erforscht, während seltener auftretende, aber ebenso ernste Erkrankungen weniger Beachtung finden [1].
Selbst der Umweltschutz ist von der kapitalistischen Idee des Fortschritts geprägt: „Grüne“ Technologien wie Elektromobilität und erneuerbare Energien werden als Fortschritt vermarktet, wobei jedoch Markterweiterungen und Profitchancen im Vordergrund stehen. Nachhaltigkeit wird hier oft als Verkaufsargument genutzt, ohne das kapitalistische System an sich infrage zu stellen.
Fortschritt im Kapitalismus dient in erster Linie der Erhaltung und Stärkung des Systems selbst. Dabei steht nicht das menschliche Wohl an erster Stelle, sondern der Nutzen von Innovationen zur Förderung von Wachstum und Effizienz. Ein Fortschritt, der sich an echten menschlichen Bedürfnissen orientieren würde, könnte jedoch andere Prioritäten setzen – sicherlich solche, die weniger auf Konsum ausgerichtet sind und stattdessen eine nachhaltige und lebensfördernde Lebensweise unterstützen.
Der Fortschrittsglaube ist ein kapitalistisches Narrativ
Der Fortschrittsglaube dient heute als ideologisches Fundament des Kapitalismus und fördert die Vorstellung, dass kontinuierliche Innovationen das Leben unvermeidlich verbessern. Dieser Gedanke schafft einen ständigen Anreiz für technische Neuerungen und konsumorientiertes Wachstum, das sich an kapitalistischen Werten wie Produktivität, Individualismus und Effizienzsteigerung orientiert. Fortschritt verspricht Freiheit und Wohlstand, doch wird dieses Versprechen meist in Form von Konsum und wirtschaftlicher Expansion eingelöst.
So wird Fortschritt zu einem vermeintlich selbstverständlichen und positiven Prozess, der Wohlstand und Freiheit sichern soll, doch dabei stärker auf Kapitalwachstum und Wettbewerb abzielt als auf das kollektive Wohl.
Die kapitalistische Prägung des Fortschrittsglaubens hat aber eine Schattenseite: So wird suggeriert, dass Probleme wie Umweltzerstörung, soziale Ungleichheit oder gesundheitliche Belastungen durch zukünftige Innovationen behoben werden können, ohne das System an sich infrage zu stellen. Diese Vorstellung stärkt das Vertrauen darauf, dass jede Herausforderung durch den Fortschritt überwunden werden kann – ein Vertrauen, das die Kehrseiten des Wachstums ignoriert und die tatsächlichen Grenzen des Planeten unberücksichtigt lässt.
Es stellt sich die Frage, wie Fortschritt aussehen würde, wenn er nicht durch das kapitalistische Narrativ bestimmt wäre. Ein Fortschrittsbegriff, der sich an echten menschlichen Bedürfnissen orientiert und auf eine lebensfördernde, nachhaltige Entwicklung abzielt, würde möglicherweise ganz andere Prioritäten setzen.
Der bröckelnde Fortschrittsglaube: Abschließende Gedanken
Der Fortschrittsglaube, der einst als unerschütterliches Mantra die moderne Gesellschaft prägte, verliert an Glaubwürdigkeit. Dies wird auf mehreren Ebenen sichtbar. Die ökologischen Krisen und die Grenzen des Wachstums verdeutlichen, dass Fortschritt nicht unbegrenzt fortschreiten kann, ohne schwere ökologische Schäden zu verursachen. Der Gedanke, dass technologischer Fortschritt alle Probleme lösen könnte, wird zunehmend infrage gestellt, da viele Technologien die Umwelt weiter belasten und nachhaltige Lösungen oft nur als „grüne“ Konsumprodukte auf den Markt kommen.
Darüber hinaus zeigt sich auch in der sozialen Ungleichheit eine Erosion des Fortschrittsglaubens. Der Fortschritt hat sicherlich das allgemeine Wohlstandsniveau in vielen Regionen erhöht, doch zugleich wächst die Schere zwischen Arm und Reich. Die Profite des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts konzentrieren sich zunehmend in den Händen weniger, während die breite Bevölkerung oft mit stagnierenden oder gar rückläufigen Lebensbedingungen zu kämpfen hat. Es darf also daran gezweifelt werden, dass Fortschritt automatisch zu einer besseren Gesellschaft für alle führt.
Länder wie Vanuatu, das im Happy Planet Index häufig Spitzenplätze belegt, bieten zudem eine alternative Perspektive auf Fortschritt. Die hohe Zufriedenheit und Lebensqualität der Bevölkerung in Vanuatu, die unter anderem auf enge Gemeinschaftsstrukturen, geringere Abhängigkeit vom Konsum und eine nachhaltige Lebensweise zurückzuführen ist, stellen das kapitalistische Fortschrittsmodell infrage. Vanuatu zeigt, dass Zufriedenheit und Wohlstand nicht zwangsläufig von wirtschaftlichem Reichtum und technologischem Fortschritt abhängen, sondern vielmehr von sozialen und ökologischen Faktoren.
Auch die zunehmende technologische Abhängigkeit und Entfremdung tragen dazu bei, dass der Fortschrittsglaube bröckelt. Während technologische Innovationen das Leben in vielen Bereichen erleichtern, führen sie auch zu neuen Abhängigkeiten und einem Gefühl der Entfremdung. Menschen sind heute auf digitale Geräte und Infrastruktur angewiesen, was das Verdacht erweckt, der Technik ausgeliefert zu sein, anstatt sich durch sie zu emanzipieren. Gleichzeitig beobachten wir einen wachsenden Trend zur „Digitalen Entgiftung“, ein Anzeichen dafür, dass viele Menschen spüren, dass sie von der Technik vereinnahmt werden.
Zudem sieht sich die moderne Gesellschaft zunehmend mit stressbedingten Erkrankungen, Burnout und psychischen Gesundheitsproblemen konfrontiert, die oft als Kehrseiten der kapitalistischen Effizienz- und Leistungsorientierung betrachtet werden. Der Glaube, dass technologischer und wirtschaftlicher Fortschritt die Lebensqualität stetig erhöht, steht in Widerspruch zu den steigenden Belastungen, die immer mehr Menschen empfinden.
Schließlich zeigt sich eine zunehmende Kultur des Pessimismus und der Skepsis gegenüber der Zukunft. Dieser „Fortschrittspessimismus“ spiegelt sich in Medien, Literatur und politischen Debatten wider und lässt darauf schließen, dass die Gesellschaft den Fortschrittsglauben nicht mehr als verlässlichen Wegweiser für die Zukunft sieht.
So zeigt sich, dass der Fortschrittsglaube, der die Moderne einst so stark prägte, heute nicht mehr unangefochten ist. Die Idee, dass sich die Menschheit auf einer geradlinigen Entwicklung zu einer besseren Zukunft befindet, weicht der Erkenntnis, dass Fortschritt nicht per se gut ist und manchmal auch mehr Probleme versursacht, als er löst. Der Fortschrittsglaube steht vor der Herausforderung, sich neu zu definieren und sich von kapitalistischen Motiven zu lösen, um eine nachhaltigere, humanere Praxis zu entwickeln. Aber das ist vielleicht eher eine Utopie.
Quellenverzeichnis
Verband forschender Arzneimittelhersteller [vfa]. (2024). Titel des Berichts oder der Webseite. URL: https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/woran-wir-forschen/orphan-drugs-medikamente-gegen-seltene-erkrankungen.html, abgerufen am: 22.10.2024
Externe Links:
Interne Links:
Ist die Ökonomie als Wissenschaft in einem guten Zustand?