Eltern schreien
Philosophie

Wenn Eltern schreien – Die Macht der mimetischen Prägung

Lesedauer 4 Minuten

Wenn Eltern schreien – Die Macht der mimetischen Prägung

Wenn Eltern in Gegenwart von Kindern laut werden – schreien – sei es aus Überforderung, Wut oder Kontrollverlust –, hinterlässt dies Spuren. Nicht nur emotionale, sondern auch soziale Spuren. Es handelt sich um mehr als einen Ausbruch: Es ist ein Moment stiller Prägung. Denn Kinder beobachten nicht nur – sie ahmen nach. Dieser Beitrag untersucht, wie Kinder durch Beobachtung elterlicher Verhaltensmuster, insbesondere beim Schreien, soziale Strategien internalisieren. Anhand dieses konkreten Phänomens wird die grundlegende Bedeutung mimetischer Prozesse im frühkindlichen Lernen und darüber hinaus aufgezeigt.

Schreien als performatives Modell

Eltern oder Bezugspersonen, die in Stresssituationen in der Gegenwart ihrer Kinder schreien, tun dies oft unbewusst und oft nicht als Erziehungsmaßnahme. Dennoch wirken solche Situationen wie eine Lektion – nicht im Sinne eines expliziten Unterrichts, sondern durch performative Präsenz: Das Kind erlebt, dass Schreien ein Mittel der Durchsetzung ist. Besonders in Konflikten wirkt der Schrei wie ein Machtakt – der als laut, dominierend und durchsetzend erscheint.

Die nachträgliche sprachliche Korrektur der Eltern („Ich hätte nicht schreien dürfen“) steht in keinem adäquaten Verhältnis zur emotionalen und körperlichen Eindrücklichkeit des Ereignisses. Sie ist rational, erklärend – aber nicht prägungswirksam. Denn das Kind lernt in solchen Momenten nicht über Begriffe, sondern durch Erfahrung.

Mimesis: Lernen durch Nachahmung

Dieses Phänomen verweist auf einen grundlegenden Modus menschlichen Lernens: Mimesis. Der Begriff stammt aus der griechischen Antike und bezeichnet zunächst die Nachahmung in der Kunst. In modernen Kontexten beschreibt Mimesis die soziale und emotionale Aneignung von Verhaltensweisen durch Imitation – häufig unbewusst.

Bereits in der frühen Kindheit zeigt sich, dass Kinder in erheblichem Maße über mimetische Prozesse lernen. Sie beobachten nicht nur Bewegungen, sondern übernehmen auch emotionale Ausdrucksformen, kommunikative Strategien und Konfliktmuster. Dies geschieht nicht über kognitive Einsicht oder moralische Reflexion, sondern durch wiederholte Wahrnehmung und Einfühlung in das Verhalten anderer.

Im Beispiel des Schreiens zeigt sich: Das Kind lernt, dass in bestimmten Situationen – etwa bei Überforderung, Frustration oder dem Durchsetzen von eigenen Ansprüchen – lautes, aggressives Verhalten eine soziale Funktion erfüllt. Diese Erkenntnis artikuliert sich nicht bewusst, sondern verankert sich tief im impliziten Wissensbestand des Kindes.

Wenn Eltern schreien: Die Grenze sprachlicher Erklärbarkeit

Pädagogisch wird häufig versucht, problematisches Verhalten durch nachträgliche Erklärung zu entschärfen. Man sagt dem Kind, dass Schreien „nicht richtig“ sei. Doch in früheren Entwicklungsphasen fehlt dem Kind die Fähigkeit, abstrakte moralische Normen von konkretem Verhalten zu trennen.

Die Erklärung bleibt daher kognitiv anspruchsvoller als das erlebte Verhalten. Während das Schreien selbst emotional und sinnlich wahrgenommen wurde – als Klang, Körperspannung, Blickkontakt – ist die spätere Erklärung sprachlich-abstrakt. Die mimetische Erfahrung wirkt hingegen unmittelbarer.

Die Bedeutung der gelebten Realität

Mimesis verweist auf eine fundamentale Einsicht in pädagogische und kulturelle Prozesse: Menschen – insbesondere Kinder – lernen nicht das, was man ihnen sagt, sondern das, was sie erleben. Erziehung ist damit kein rein sprachlicher oder didaktischer Prozess, sondern ein performativer: Was vorgelebt wird, wirkt.

Das Schreien ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Auch andere Verhaltensmuster – Umgang mit Nähe und Distanz, Konfliktbewältigung, Reaktionen auf Fehler – werden nicht durch Begriffe vermittelt, sondern durch eine gelebte Praxis.

Ausblick: Mimesis als kulturelles Prinzip

Was in der frühen Kindheit beginnt, setzt sich im späteren Leben fort. Mimesis bleibt ein zentrales kulturelles Prinzip. Auch Erwachsene übernehmen soziale Normen, Haltungen und Ausdrucksformen nicht primär durch Einsicht, sondern durch Nachahmung. Konformität entsteht nicht selten als Ergebnis mimetischer Sozialisation – etwa in beruflichen, politischen oder sozialen Kontexten.

Der Moment des kindlichen Schreierlebnisses ist daher nicht bloß ein pädagogisches Problem, sondern ein Fenster zu einem umfassenderen Verständnis von Sozialität. Mimesis ist kein kindlicher Reflex – sie ist ein Strukturprinzip des Sozialen selbst.

Wenn Eltern schreien – Abschließende Gedanken: Zwischen Theorie und Alltag

Die Überlegungen zur Mimesis als grundlegender Form des Lernens zeigen deutlich, dass frühkindliche Sozialisation nicht primär über Sprache, sondern über gelebte Erfahrung erfolgt. Kinder übernehmen keine abstrakten Regeln, sondern verkörperte Haltungen. Wer schreit, lehrt das Schreien – nicht durch Absicht, sondern durch Wirkung.

Dieser Zusammenhang ist pädagogisch wie gesellschaftlich von großer Bedeutung. Er führt zu einem einfachen, aber unbequemen Fazit:

Wenn wir als Eltern schreien, werden unsere Kinder auch schreien.

Nicht, weil sie wollen – sondern weil sie gelernt haben, dass man so Konflikte austrägt.
Nicht, weil sie böse sind – sondern weil sie das, was ihnen vorgelebt wurde, internalisieren.

Wer Kinder erziehen will, muss daher nicht nur über Werte sprechen, sondern sie verkörpern.
Erziehung beginnt mit Selbstbeobachtung, nicht mit Erklärungen.
Verantwortung bedeutet in diesem Kontext: sich bewusst zu machen, dass jedes Verhalten – nicht nur jedes Wort – Wirkung entfaltet.

Das Ziel ist nicht Perfektion, sondern Bewusstsein.
Dieses Bewusstsein beginnt mit der Einsicht, dass der erste Erziehungsakt oft kein Wort ist – sondern ein Tonfall.


Quellen:

Banduras Bobo-Puppen-Experiment (Intrapsychisch)
Groß, M. (2023). Banduras Bobo‑Puppen‑Experimente und die Theorie des Lernens am Modell. Intrapsychisch.de. URL: https://intrapsychisch.de/banduras-bobo-puppen-experimente-und-die-theorie-des-lernens-am-modell/, abgerufen am: 21.05.2025

Jacobs Foundation – Frühkindliche Imitation
Jacobs Foundation. (n.d.). Why imitation in early childhood is crucial. URL: https://jacobsfoundation.org/why-imitation-in-early-childhood-is-crucial/, abgerufen am: 22.05.2025

Ness Labs – Mimetisches Lernen
Laboureur, A. (2021). Mimetic learning: the power of learning through imitation. [online] Ness Labs. URL: https://nesslabs.com/mimetic-learning, abgerufen am: 25.05.2025

Wikipedia – Spiegelneuron (zur begrifflichen Orientierung)
Wikipedia. (2024). Spiegelneuron. URL:  https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegelneuron, abgerufen am: 25.05.2025



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