Universalien: Ihre Bedeutung in Wissenschaft und Philosophie
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Die Grundlagen der Wissenschaft: Platons Ideenlehre und das Universalienproblem
Wahrscheinlich würden die meisten zustimmen, wenn jemand sagt, es gibt Menschen, Tiere, Steine, Sterne, Elektronen oder schwarze Löcher. Jedenfalls sehen wir täglich, Menschen, Tiere, Sterne, wobei Elektronen und glücklicherweise auch schwarze Löcher weniger alltägliche Begegnungen sind. Nun, ganz so einfach ist es aber nicht. Was diese Begriffe nämlich ausmacht, ist, dass sie Allgemeinbegriffe, sogenannte Universalien sind. Universalien sind eine tolle Sache, denn sie helfen uns die Welt besser zu verstehen, sie zu strukturieren und zu kategorisieren. Aber sie sind weit mehr als das. Sie sind vor allem die Grundlage dafür, dass wir überhaupt Wissenschaft betreiben können.
Universalien und Wissenschaft
Stellen wir uns kurz vor, es gäbe keine Allgemeinbegriffe wie Mensch, Tier, Molekül, Temperatur, Atom, Gravitation oder Energie. Ohne Begriffe dieser Art ist es unmöglich, allgemeine Aussagen zu machen. Wir könnten also keine wissenschaftlichen Theorien formulieren, keine Experimente durchführen und keine Phänomene erklären. Zum Beispiel könnten wir nicht sagen, dass „alle Elektronen negativ geladen sind“, wenn wir keinen allgemeinen Begriff wie „Elektron“ hätten. Universalien ermöglichen es uns, von individuellen Beobachtungen auf allgemeine Prinzipien zu schließen. Wenn wir mehrere verschiedene Hunde sehen und erkennen, dass sie alle vier Beine haben, können wir die allgemeine Aussage formulieren, dass „Hunde vier Beine haben“. In der Wissenschaft wird dies als Induktionsschluss bezeichnet, denn wir schließen vom Besonderen, also von der Beobachtung einzelner Hunde, auf das Allgemeine, nämlich dass alle Hunde vier Beine haben. Ohne den Begriff „Hund“, wäre eine solche Induktion oder Verallgemeinerung nicht möglich. .
Um Experimente durchzuführen, müssen Wissenschaftler in der Lage sein, ihre Beobachtungen zu kategorisieren und zu vergleichen. Ohne Begriffe wie „Molekül“ oder „Temperatur“ könnten sie keine sinnvollen Vergleiche anstellen oder Ergebnisse systematisch dokumentieren.
Wissenschaftliche Experimente müssen wiederholbar sein, um entweder bestätigt oder falsifiziert werden zu können. Dies setzt voraus, dass die Bedingungen des Experiments klar definiert und reproduzierbar sind. Universalien helfen dabei, die Bedingungen präzise zu beschreiben. Zum Beispiel können wir nur dann exakt die „Temperatur“ messen und reproduzieren, wenn wir einen einheitlichen Begriff und eine Skala für Temperatur haben.
Wissenschaftliche Erklärungen basieren darauf, dass wir Phänomene unter bestimmte Begriffe subsumieren. Wir können das Phänomen der „Gravitation“ nur dann erklären, wenn wir den Begriff „Gravitation“ haben, der uns erlaubt, verschiedene Beobachtungen zu einem einheitlichen Phänomen zusammenzufassen.
Viele wissenschaftliche Erklärungen beruhen auf der Erstellung von Modellen, die bestimmte Aspekte der Wirklichkeit abbilden. Diese Modelle verwenden Universalien, um die relevanten Elemente der Wirklichkeit darzustellen und ihre Beziehungen zu beschreiben. Zum Beispiel verwenden Modelle in der Physik Begriffe wie „Kraft“ und „Masse“, um die Bewegung von Objekten zu erklären.
Das Problem mit den Universalien
Auch wenn das alles einleuchtet, wir Allgemeinbegriffe mit großer Selbstverständlichkeit verwenden und unser gesamtes Weltbild darauf aufbaut, stellt sich trotzdem eine grundlegende Frage: Was sind Universalien wirklich? Konkret gesprochen geht es um die Frage nach dem ontologischen Status von Universalien. Die Ontologie ist die Lehre vom Seienden, also die Frage was existiert und in welcher Form es existiert. Sind Universalien wie Mensch, Dreieck, Kreis, Baum, Elektron usw. also nur nützliche Erfindungen unseres Verstandes, um die Welt zu ordnen, oder haben sie eine von uns unabhängige, reale Existenz? Diese Frage führt zu einer zentralen philosophischen Debatte, die seit Jahrtausenden geführt wird. Der Universalienstreit.
Nominalsimus – Konzeptualismus oder Realsimus
Nominalisten glauben, dass Universalien nur sprachliche Konstrukte sind. Sie existieren nicht unabhängig von den Dingen, die sie benennen. Unsere Sprache bringt Universalien überhaupt erst hervor, indem sie Begriffe schafft, die Gruppen von individuellen Objekten beschreiben. Beispielsweise existiert der Begriff „Mensch“ nur, weil wir ihn als eine nützliche Kategorie zur Beschreibung von einzelnen Menschen verwenden. Universalien sind also nichts anderes als praktische Werkzeuge der Sprache, die uns helfen, die Welt zu beschreiben und zu kommunizieren. Sie haben keine eigenständige Existenz außerhalb unserer sprachlichen Konventionen.
Konzeptualisten glauben, dass Universalien nur im menschlichen Denken existieren. Der menschliche Verstand erzeugt Konzepte, die die Welt strukturieren und dabei helfen, sie zu verstehen. Diese Konzepte sind Universalien. Sie sind keine unabhängigen Entitäten in der Außenwelt, sondern mentale Konstrukte, die uns helfen, die Vielfalt der Welt zu organisieren. Zum Beispiel existiert das Konzept „Mensch“ in den Köpfen der Menschen, die es nutzen, um eine Gruppe individueller Menschen zu beschreiben. Diese Konzepte sind geistige Werkzeuge, die zwar nicht in der physischen Welt existieren, aber dennoch eine zentrale Rolle in unserer kognitiven Verarbeitung und unserem Verständnis der Welt spielen.
Realisten hingegen glauben, dass Universalien unabhängig vom menschlichen Denken oder der Sprache existieren. Sie sind reale Entitäten, die in der Welt existieren, unabhängig davon, ob wir sie benennen oder darüber nachdenken. Diese Universalien sind die wahren, grundlegenden Bausteine der Realität. Zum Beispiel existiert „Mensch“ als eine echte Entität, unabhängig davon, ob jemand darüber nachdenkt oder nicht. In dieser Sichtweise sind Universalien objektive und unveränderliche Bestandteile der Welt, die existieren, egal ob wir sie wahrnehmen oder konzeptualisieren. Sie sind die fundamentalen Strukturen, die der Realität zugrunde liegen.
Platons Ideenlehre
In der Wirklichkeit ist nun doch so, dass wir zwar überall einzelne Menschen sehen, aber nie die Universalie „Mensch“. Genau hier kommt Platons Ideenlehre ins Spiel. Platon argumentiert, dass für alles, was in der Welt existiert, eine perfekte, unveränderliche Idee in einer höheren, nicht-materiellen Welt existiert. Diese Ideen sind die wahren, grundlegenden Bausteine der Realität. Diese Ideenwelt ist zeitlos und unveränderlich, und die Dinge in unserer Welt sind nur unvollkommene Abbilder dieser perfekten Ideen. Platon zählt also zu den Realisten, denn seine Antwort lautet, dass Universalien Ideen sind, die in einer eigenen Ideenwelt existieren.
Warum also ist Platons Ideenlehre auch heute noch relevant?
Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, ob Sie eher glauben, dass Universalien sprachliche oder geistige Konstrukte sind oder ob Sie eher an die Existenz eines „Reichs der Ideen“ glauben.
Fakt ist aber, dass Universalien die notwendige Bedingung für die Formulierung wissenschaftlicher Theorien sind. Geht es also um die Beantwortung der Frage, was der ontologische Status von Universalien ist, dann geht es gleichermaßen auch um die Frage, was der ontologische Status unserer wissenschaftlichen Theorien ist. Sind das Standardmodell der Teilchenphysik, die Urknalltheorie, die Evolutionstheorie, die Quantentheorie, die Relativitätstheorie oder die Theorie der Plattentektonik sprachliche oder mentale Konstruktionen, die einen praktischen Nutzen zur Beschreibung der Welt haben oder sind sie tatsächliche Beschreibungen der Realität?
Ich kann verstehen, wenn Sie sagen, dass Ihnen Platons Reiche der Ideen zu abgehoben ist. Wenn wir Platons Ideenlehre ablehnen, hat das aber Konsequenzen für unser Verständnis der Wissenschaft. Nehmen wir den Nominalismus an, betrachten wir wissenschaftliche Theorien und Begriffe als bloße sprachliche Konstrukte. Das bedeutet, dass wissenschaftliche Begriffe wie „Mensch“, „Kreis“, „Elektron“ oder „Gravitation“ keine eigenständige Existenz haben, sondern nur als nützliche Werkzeuge zur Beschreibung und Organisation unserer Beobachtungen dienen. Dies kann zu der Sichtweise führen, dass wissenschaftliche Theorien keine tiefere Wahrheit über die Natur enthüllen, sondern lediglich praktische Modelle sind.
Akzeptieren wir den Konzeptualismus, sehen wir wissenschaftliche Theorien als mentale Konstrukte, die nur in den Köpfen der Wissenschaftler existieren. Das würde bedeuten, dass wissenschaftliche Begriffe und Theorien keine objektive Realität widerspiegeln, sondern subjektive Konzepte sind, die uns helfen, die Welt zu verstehen. Dies könnte zu einer relativeren Sichtweise auf wissenschaftliche Erkenntnisse führen, bei der unterschiedliche Konzepte und Theorien nebeneinander bestehen können, ohne dass eine als endgültig „wahr“ angesehen wird.
Wenn wir hingegen den Realismus akzeptieren, folgen wir in gewisser Weise Platons Ansatz, dass Universalien und damit auch wissenschaftliche Theorien reale Entitäten sind, die unabhängig von unserem Denken und unserer Sprache existieren. Das bedeutet, dass wissenschaftliche Theorien tatsächlich tiefe Wahrheiten über die Welt enthüllen können und dass Begriffe wie „Elektron“ oder „Gravitation“ reale Bestandteile der Natur sind.
Durch die Ablehnung von Platons Ideenlehre müssen wir uns bewusst machen, dass wir eine der möglichen metaphysischen Grundlagen für die Wissenschaft aufgeben. Jede alternative Position – ob Nominalismus, Konzeptualismus oder Realismus – bringt ihre eigenen Herausforderungen und Implikationen mit sich. Letztlich zeigt dies, dass die Wissenschaft, trotz ihrer methodischen Strenge und empirischen Fundierung, nicht ohne philosophische Annahmen und Debatten auskommt.
Interne Links:
Ist das Wissenschaft oder kann das weg? Warum wir nicht, nicht philosophieren können
Externe Links:
Spektrum.de: Metzler Lexikon Philosophie – Universalien
Spektrum.de: Metzler Lexikon Philosophie – Universalienstreit